TODESJAGD. Eberhard Weidner
die Maschine lief, erzählte sie Yin von den Aufgaben, die sie bereits absolviert hatte. Sie hatte festgestellt, dass es ihr guttat, zu Hause jemanden zu haben, mit dem sie nach Feierabend über ihre Arbeit und die Fälle reden konnte. Auch wenn es sich nur um eine Katze handelte und die Gespräche verständlicherweise einseitig verliefen. Dennoch hatte sie oftmals das Gefühl, Yin verstünde sie auf einer speziellen Ebene sehr gut. Immerhin hatten sie ein paar Dinge gemeinsam. Sie waren beide Überlebende und hatten ihre Partner verloren. Anja ihren Ehemann Fabian, den sie, obwohl sie ihn sechs Monate vorher verlassen hatte, zum Zeitpunkt seines Todes noch immer sehr geliebt hatte. Und Yin seine Gefährtin Yang, eine ebenfalls sechsjährige weiße Katze, die ein Opfer des Mannes geworden war, der auch Yin und Anja hatte töten wollen.
Als der Kaffee fertig war, setzte sie sich mit einem randvollen Jumbobecher an den Küchentisch vor ihren Laptop, den sie bereits aufgeklappt und eingeschaltet hatte.
Yin hatte seine Mahlzeit beendet, saß neben dem saubergeleckten Napf und unterzog sich einer gründlichen Katzenwäsche. Anja hatte das Gefühl, dass er in letzter Zeit etwas fülliger geworden war. Womöglich sollte sie ihn auf Diät setzen. Aber unter Umständen lag es nicht in erster Linie daran, sondern kam eher daher, dass er zu wenig Bewegung hatte. Doch das würde sich jetzt ohnehin bald ändern, das hatte sie sich fest vorgenommen.
Sie hatte nur noch ein paar Minuten Zeit, Nemesis eine Nachricht mit dem Foto vom Hochhausdach zu schicken.
Bereits bei dem Gedanken daran, was ihr dort oben widerfahren war, überlief sie ein eisiger Schauder, der sie erzittern ließ. Sie verdrängte die Erinnerungen, die von der nervigen Melodie des Selbstmordliedes begleitet wurden, und versuchte stattdessen, sich auf ihr Tun zu konzentrieren.
Anja wusste nicht, was passieren würde, wenn sie Nemesis das Foto nicht rechtzeitig schickte. Sie verspürte zwar gute Lust, die Probe aufs Exempel zu machen und es herauszufinden, sparte sich das aber für eine spätere Gelegenheit auf und beeilte sich daher, damit ihr Todesengel die Mail zur rechten Zeit bekam.
Wenige Minuten danach erhielt sie eine Antwortmail von Nemesis.
Gut gemacht, Laura! Hattest du Angst?
Anja schrieb zurück:
Ein bisschen schon. Aber nur am Anfang. Während ich nach unten sah, ging mir ständig die Melodie von »Gloomy Sunday« durch den Kopf, und meine Angst legte sich. Außerdem spürte ich einen merkwürdigen Sog, den der Abgrund auf mich ausübte. Beinahe kam es mir so vor, als würde mich die Tiefe zu sich rufen oder locken. Ich konnte nur schwer widerstehen. Das war natürlich komisch. Andererseits aber auch cool.
Yin hatte seine Fellpflege beendet und offenbar beschlossen, dass es Zeit für den Austausch von Zärtlichkeiten war. Schließlich hatte Anja eine kleine Belohnung dafür verdient, dass sie ihn so gut versorgte. Er sprang auf Anjas Schoss, stemmte sich mit den Vorderpfoten gegen ihren Oberkörper und rieb seinen Kopf an ihrem Kinn. Anja kraulte ihn am Hals und hinter den Ohren, sodass er alsbald zufrieden schnurrte.
Als Nemesis’ Antwort kam, öffnete sie die Mail und konzentrierte sich auf den Text.
Genau so soll es auch sein. Oberstes Ziel der ersten 23 Aufgaben ist es, dir die Angst zu nehmen. Die Angst vor der 24. Challenge und natürlich die Angst vor dem Tod. Denn der Tod ist im Grunde nichts, vor dem du dich fürchten musst! Das Leben ist es, vor dem du Angst haben solltest.
Deshalb lautet deine 6. Aufgabe wie folgt:
Sieh dir die Videos an, die ich dir geschickt habe. Am besten mehrmals hintereinander. Berichte mir hinterher, was du dabei empfunden hast.
»Da sind wir beide ja mal gespannt, was das Miststück mir geschickt hat, nicht wahr?«, sagte Anja, und Yin maunzte zustimmend.
Anja öffnete die erste von einem halben Dutzend Dateien, bei denen es sich durchweg um kurze Filme von wenigen Minuten Dauer handelte, und sah sich das Video an. Es bestand aus einer Aneinanderreihung von Bildern und Szenen der Not und des Elends, begleitet von schwermütiger Klaviermusik, die Anja an die Untermalung von Stummfilmklassikern erinnerte. Sie sah hungernde Menschen, Opfer von Kriegen und Katastrophen, Szenen der Gewalt und des Terrors. Nach dem ersten Film hatte sie bereits mehr als genug gesehen und keine Lust, die anderen auch noch abzuspielen. Doch da Nemesis einen Bericht über ihre Empfindungen erwartete und ihr unter Umständen eine Falle gestellt hatte, um zu überprüfen, ob sie sich tatsächlich alle Videos angesehen hatte, musste sie da durch, ob sie wollte oder nicht.
Also nahm sie Yin kurz hoch und schenkte sich einen zweiten Kaffeebecher ein. Dann setzte sie sich wieder und ließ den Kater auf ihren Schoß sinken. Während sie die anderen Videos über sich ergehen ließ, die allesamt ähnliche Szenen zeigten wie das erste, drehte sich die Katze mehrmals im Kreis. Erst als sie die ideale Position gefunden hatte, legte sie sich hin und schnurrte anschließend mit der Gleichmäßigkeit eines gut geölten Uhrwerks.
Anja war froh, als sie die Videos endlich geschafft hatte. Doch die Bilder, die sie gesehen hatte, ließen sie auch danach nicht los. Sie waren ihr noch immer so präsent, als wären sie mit Reißzwecken in ihr Gedächtnis geheftet worden wie Urlaubsschnappschüsse an eine Pinnwand. Und dazu spielte im Hintergrund ihres Verstandes fortwährend die bedrückende Melodie des Selbstmörderliedes.
»Prima!«, sagte Anja und seufzte tief. »Wer sich danach nicht umbringt, muss ein gefühlloser Eisklotz sein.«
Yins Schnurren pausierte kurz, als würde er über ihre Worte nachdenken. Doch er hielt es offensichtlich für unter seiner Würde, einen Kommentar abzugeben.
Durch das Ansehen der schrecklichen Bilder und Szenen fühlte sich Anja irgendwie beschmutzt. Sie trank rasch ihren Kaffee aus, deponierte Yin, der protestierend miaute, auf dem Küchenstuhl und ging schnurstracks unter die Dusche. Obwohl sie keine gute Sängerin war, sang sie lautstark aktuelle Hits, die sie im Autoradio gehört hatte. Dabei dachte sie krampfhaft an schöne und angenehme Dinge. Doch all das funktionierte nicht! Die furchtbaren Bilder standen ihr auch danach noch immer deutlich vor Augen. Und in ihrem Hinterkopf spielte ihr Musikgedächtnis in einer nervtötenden Endlosschleife die Melodie von »Gloomy Sunday« ab.
Genau so war es von Nemesis vermutlich auch beabsichtigt gewesen. Und wenn es sich auf Anja, die momentan keine akuten, sondern allenfalls latente Selbsttötungsabsichten hegte, schon derart heftig auswirkte, wie musste die Wirkung dann erst bei jemandem sein, der hochgradig depressiv oder akut selbstmordgefährdet war?
Nachdem sie sich geduscht und frische Sachen angezogen hatte, schickte sie Nemesis eine kurze Mail, in der sie ihr schilderte, was sie beim Anblick der Videos empfunden hatte. Sie musste sich nicht einmal etwas aus den Fingern saugen, sondern nur ihre eigenen Gefühle schildern und etwas ausschmücken.
Yin lag auf der Couch im Wohnzimmer. Er drehte ihr demonstrativ den Rücken zu und schmollte anscheinend.
Soll er ruhig!, dachte Anja. Es dreht sich eben nicht immer alles nur um ihn.
Da sie um neunzehn Uhr zum Essen verabredet war, verabschiedete sie sich von der beleidigten Katze, die sich allerdings nicht rührte, und verließ anschließend die Wohnung. Die nächste Nachricht des Todesengels wollte sie sich unterwegs auf ihrem Smartphone ansehen.
Als sie ihr Auto auf dem Parkplatz des Lokals abstellte, war es drei Minuten vor sieben und sie damit überpünktlich. Doch sie blieb im Wagen sitzen und überprüfte mit ihrem Mobiltelefon, ob die imaginäre Laura eine weitere Mail erhalten hatte. Das war nicht der Fall, deshalb wartete sie noch etwas länger.
Drei Minuten später war es dann soweit.
Herzlichen Glückwunsch, Laura, denn du hast auch die 5. Aufgabe erfolgreich absolviert.
Deine momentane Gefühlslage ist exakt so, wie sie sein soll. Du bist somit auf einem guten Weg. Und ich bin fest davon überzeugt, dass du alle 24 Aufgaben und damit die komplette »Suicide-Challenge« schaffen wirst.
Doch noch sind wir nicht soweit. Erst einmal kommt hier die 6. Aufgabe.
Hör