Ricarda Huch: Deutsche Geschichte 2 Zeitalter der Glauben-Spaltung - Band 2 - bei Jürgen Ruszkowski. Ricarda Huch
Der Kaiser selbst war beweglichen Geistes, folgte augenblicklichen Eindrücken und erlag leicht den Gründen, die der letzte Bittsteller vortrug. So kam es, dass Reuchlin von ihm ein Mandat erlangte, welches beiden streitenden Teilen Schweigen auferlegte, und seine Gegner bald darauf ein anderes vorweisen konnten, das den rheinischen Erzbischöfen und dem Ketzermeister befahl, den Augenspiegel zu unterdrücken. Die Pariser Universität, die an Stelle der nicht gefügigen Heidelberger um ein Gutachten angegangen wurde, sprach sich einstimmig dahin aus, dass der Augenspiegel zu verbrennen sei und Reuchlin widerrufen müsse. Hocherfreut lud Hochstraten, der Ketzermeister, Reuchlin vor sein Tribunal in Mainz, wo der Beklagte im Herbst 1513 erschien. Da das Ergebnis zunächst kein anderes war, als dass Reuchlin an den Papst appellierte und der Erzbischof von Mainz Aufschub verlangte, ordnete Hochstraten, um sich doch irgendeines Scheiterhaufens zu erfreuen, die Verbrennung des Augenspiegels an, und schon strömten schaulustige Scharen herbei, als im letzten Augenblick ein Verbot des Erzbischofs eintraf, dazu Aufhebung des Inquisitionsgerichts und Genehmigung der Appellation. Der enttäuschte Hochstraten verschaffte sich in Köln Genugtuung, wo der Augenspiegel als ein nach Ketzerei schmeckendes, judenfreundliches, gegen heilige Kirchenlehren unehrerbietiges, ärgerliches Buch verbrannt wurde.
Leo X. (geboren als Giovanni de’ Medici; * 11. Dezember 1475 in Florenz; † 1. Dezember 1521 in Rom) war vom 11. März 1513 bis zu seinem Tod römisch-katholischer Papst.
In der wechselvollen Geschichte dieses Streites folgte dem Hochstratenschen Triumph bald ein Reuchlinscher: der Bischof von Speyer, dem der Papst die Behandlung der Appellation übertragen hatte, erklärte den Augenspiegel für nicht allzu judenfreundlich, nicht unehrerbietig, nicht ärgerlich, verurteilte Hochstraten zum Stillschweigen und Tragen der Kosten und gebot ihm noch dazu, sich in kürzester Frist mit Reuchlin zu vergleichen. Einer solchen Demütigung sich zu unterziehen kam dem Ketzermeister nicht in den Sinn, der gewohnt war, wie der Vorsitzende des Jüngsten Gerichts Seelen und Leiber nach Belieben in die Hölle zu stoßen. Er appellierte seinerseits an den Papst, worauf Reuchlin dasselbe zum zweiten Mal tat. Da kurz vorher Leo X., der Medizäer, auf den päpstlichen Thron erhoben war, bekannt als Humanist, aufgeklärter Mann und Mäzen, konnte man darauf rechnen, dass er nichts gegen Reuchlin unternehmen werde. Reuchlins Gesuch, die Sache endlich zu seinen Gunsten zu entscheiden, war vom Kaiser, von mehreren Kurfürsten, Fürsten, Bischöfen und Äbten und 53 schwäbischen Städten unterzeichnet; in Pforzheim geboren, gehörte Reuchlin zu Schwaben. Aber nicht nur in Deutschland, auch in dem anspruchsvollen Italien wurde Reuchlin verehrt. Die Gelehrten des Abendlandes bildeten eine erlauchte Republik, deren Lob und Tadel nicht wenig galt.
Der einzigen Waffe, die ihm zu Gebote stand, bediente sich Reuchlin.
Unter dem Titel Epistolae clarorum virorum, Briefe berühmter Männer, veröffentlichte er die Briefe, die bekannte Humanisten zustimmend, rühmend an ihn gerichtet hatten. In einer späteren Auflage wurden die Namen aller Reuchlinisten angeführt, im ganzen 43, darunter Erasmus, Pirckheimer und Peutinger, Patrizier von Nürnberg und Augsburg, der Graf von Neuenaar, Hutten, Crotus Rubeanus, Eoban Hesse, Oekolampad, Vadian, Glarean, Melanchthon, Hermann von Busche, lauter edle Namen, die dem damaligen Deutschland Glanz und Klang gaben. Dagegen hatte Hochstraten etwas aufzuweisen, was vielleicht noch mehr glänzte und klang. In ansehnlichem Aufzug begab er sich nach Rom, die Taschen voll Gold und begleitet von den Segenswünschen der Dominikaner. Nach Art aller die Throne stützenden Schichten fingen sie an, heimlich die Faust gegen ihr Idol zu ballen, falls gegen sie entschieden würde. Geld hatte Reuchlin nicht, im Gegenteil, der Prozess hatte ihn bereits über Vermögen angegriffen, und man wusste, was für ein Heißhunger nach Geld in Rom wie an allen Höfen herrschte. Lange zogen sich die Verhandlungen der Kommission, die der Papst eingesetzt hatte, hin, man hatte den Eindruck, dass der von Hochstraten ausgestreute Samen aufschoss und eine schnelle, für Reuchlin günstige Entscheidung hinderte. Da konnte es nicht schaden, wenn den Freundesbriefen ein zweiter Sturmangriff folgte: im Jahre 1515 erschien die Epistolae obscurorum virorum, die Briefe unberühmter Männer, oder wie man sie mit unsterblich gewordenem Ausdruck übersetzte: Briefe der Dunkelmänner.
Es war ein Einfall, so einfach, so naheliegend, wie es das Geniale zu sein pflegt, den Briefen der Reuchlinisten solche der Arnoldisten an die Seite zu stellen, wie sie die große Angelegenheit von ihrem Standpunkt, der sumpfigen Niederung aus, betrachteten. Wie dort die Humanisten Reuchlin ihre Anhänglichkeit bezeugten, so hier die Mönche dem Magister Ortuin Gratias von Deventer, Professor der scholastischen Philosophie in Köln, den Humanisten besonders verhasst, weil er, der selbst Humanist und Dichter sein wollte, von ihnen als Abtrünniger betrachtet wurde. Im ersten Brief unterbreitet Thomas Langschneider, Bakkalaureus der Theologie, dem Magister Ortuin eine wichtige Streitfrage, ob man nämlich magister nostrandus oder noster magistrandus zu sagen habe. Bei Gelegenheit eines Magisterschmauses, wo es bei Malvasier, Rheinwein, Einbecker und Torgauer Bier, Kapaunen und Fischen lustig zugegangen war, hatte man auch über ernste Fragen, darunter diese, gesprochen. Magister Warmsemmel, ein gar scharfsinniger Scholast, sprach sich für noster magistrandus aus, weil magistrare so viel heiße wie einen zum Magister machen, dagegen nostrare nicht gebräuchlich sei und weder im Wörterbuch „Ex quo“ noch im Catholicon, noch im Breviloquium, noch in der Gemma Gemmarum stehe. Ein gleichfalls höchst scharfsinniger Magister habe dem Warmsemmel Widerpart gehalten, indem er gesagt habe, man könne ja neue Wörter bilden, und das aus dem Horaz bewiesen habe. Eine noch heiklere Frage bringt das zweite Schreiben vor. Dem Magister Pelzer und einem Bakkalaureus, die auf der Frankfurter Messe waren, begegneten zwei anständig aussehende Männer, die schwarze Talare und große Kapuzen mit Zipfeln trugen. Pelzer hielt sie für Magister und grüßte sie ehrerbietig, worauf der Bakkalaureus ihn darauf aufmerksam machte, dass es Juden waren, vor denen er das Barett abgezogen hatte. „Gott sei mir gnädig, was hab ich aus Unwissenheit getan“, ruft der erschreckte Magister, unsicher, ob er nicht eine Todsünde begangen habe, weil man sein Vergehen unter den Begriff der Götzendienerei bringen könne, und weil der Bakkalaureus meint, so krasse Unwissenheit könne keine Sündenvergebung bewirken. Er bittet Ortuin zu entscheiden, ob eine Todsünde oder eine lässliche Sünde, ob ein einfacher oder bischöflicher oder päpstlicher Fall vorliege.
Mit so bescheidenem Spott beginnen die Briefe, dass es Dominikaner gab, die sie für echt hielten und mit Vergnügen lasen. Freilich konnte diese Gutgläubigkeit vor der rasch zunehmenden Dreistigkeit des Hohnes nicht bestehen; die verliebten Abenteuer besonders waren mit allzu triefendem Pinsel ausgemalt, die erfundenen Verirrungen der Gelehrsamkeit allzu närrisch. Köstlich ist der Brief des Bruders Dollenkopf, der an der Heidelberger Universität Poesie studiert und an Hand der Schriften des Magister Angelicus Stellen aus Ovids Metamorphosen auf viererlei Weise erklären gelernt hat, nämlich natürlich, wörtlich, geschichtlich und nach dem Geist, und als Beispiel verschiedene Stellen daraus mit Stellen aus der Heiligen Schrift vergleicht: Diana bezeichnet die Jungfrau Maria, die mit vielen Jungfrauen hierhin und dorthin wandelt, worauf der Psalm sich bezieht „Die Jungfrauen, die dir nachgehen, führt man zu dir“. Auf Jupiters Beziehungen zu Europa geht die Stelle „Höre, Tochter, schaue darauf und neige das Ohr, denn dein König hat Lust an deiner Schöne gehabt“; Semele, die den Bacchus säugt, bezeichnet wieder die allerseligste Jungfrau, von der geschrieben steht „Nimm hin das Kindlein und säuge mir's“; der seine Schwester suchende Cadmus stellt Christus vor, der die menschliche Seele sucht.
Mit welcher Kunst der einmal angenommene Grad von Albernheit durchgeführt ist, kann nur der Leser des ganzen Werkes einschätzen. Die aufgeblasene Einfalt spricht aus jeder Wendung und Mitteilung, auch aus ganz bedeutungslosen Sätzen. Wie gute Schauspieler sich in eine Rolle versetzen und nun der Dargestellte sind vom Scheitel bis zur Sohle, in jeder Miene und Bewegung, so spielen die geistvollen Verfasser höchst geistlose, im Schlamm sinnlichen Behagens plätschernde Dickbäuche, unschuldige Heuchler insofern, als Heuchelei durch Gewöhnung Natur geworden ist. Man sagt sich wohl, so dumm, so unwissend, so ausschweifend können Ordensleute, die an Universitäten lernen und lehren, nicht gewesen sein, aber man begreift, dass übertrieben werden muss, weil wenige an Stelle von vielen stehen, und weil Torheit und Schlechtigkeit sonst nicht deutlich werden. Mit sehr feiner Kunst ist auch die