SeelenFee - Buch Zwei. Axel Adamitzki

SeelenFee - Buch Zwei - Axel Adamitzki


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möglich, selbst den ganzen Tag bei Sibylle zu bleiben. Er war Inhaber eines Bauunternehmens, und wie jedes Jahr war bis zum herannahenden Jahreswechsel in seiner Firma die Hölle los. Allein schon, dass er nicht bis spät in die Nacht dort saß oder sich in sein Büro im Souterrain des Hauses zurückzog, war ein Zugeständnis, das er mit dem Bearbeiten wichtiger Unterlagen am Wohnzimmertisch, in der Nähe seiner Frau, Abend für Abend machte.

      Schleppend löste er den Blick von ihr und ging zu Frau Herbst. Er sah sie fragend an. Sie kannte die Frage, die ihn bewegte. Er stellte sie ihr jeden Abend – in den letzten beiden Tagen nur noch wortlos. Und wie jeden Abend schloss sie bedauernd die Augen und schüttelte stumm den Kopf. Wieder war seine Frau den ganzen Tag nicht aus ihrem Sessel aufgestanden, und wieder hatte sie kein einziges Wort gesprochen. Er hatte es gewusst, dennoch …

      »Hat sie etwas gegessen?«

      »Wenig. Eine Banane, einen Apfel und ein Müsli.«

      Das ist zu wenig. »Und ihren Tee …?«

      »Den hat sie getrunken. Zwei Kannen«, sagte Frau Herbst, wobei ihr kurz ein Lächeln über das Gesicht huschte. Sie schien froh zu sein, wenigstens etwas Angenehmes vermelden zu können. »Und Ihr Essen ist auch vorbereitet, Herr Scholz. Im Kühlschrank. Wie immer.«

      »Ich danke Ihnen, Frau Herbst.«

      »Das tue ich doch gern.«

      »Ich weiß, aber trotzdem. Dann bis morgen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen und ruhigen Abend.«

      Das wünschte sie ihm auch. Stumm. Worte hielt sie für unangebracht.

      Ingmar Scholz ging zurück zu seiner Frau und hockte sich wieder neben sie. Natürlich wäre es einfacher, Sibylle in einem Sanatorium unterzubringen, wenigstens für ein paar Wochen, wie es ihr Hausarzt letztes Wochenende einmal hatte anklingen lassen, aber es wäre sicher nicht besser.

      »Nein, mein Schatz, das wäre viel, viel schlechter. Am Ende … nein, daran wollen wir jetzt nicht denken«, beendete er seinen Gedanken bestimmend und streichelte ihr dabei über die Hand, die weiß und leblos auf der Armlehne ruhte. »Das schaffen wir zusammen. Nach Weihnachten nehme ich mir vier Wochen frei. Versprochen. Lass uns dann verreisen! Irgendwohin in den Schnee. Überleg dir schon mal, wohin du gern möchtest.«

      Er war unvorstellbar bemüht, konnte dadurch und auch durch die viele Arbeit, die sich täglich auf seinem Schreibtisch türmte, von sich, von seinem eigenen Schmerz ablenken. Doch wie lange noch? Bis Weihnachten schaffst du das. Und dann? Dann wird alles anders.

      Aber was würde anders werden? Eine Frage, die er sich nicht stellte.

      Sibylle blickte starr in den dunklen Garten. Dennoch hoffte er, dass sie seine Worte vernahm, auch wenn ihre Seele weit weg schien.

      »Ich mache mir jetzt etwas zu essen. Möchtest du auch noch etwas?«, fragte er, wobei er keine Antwort erwartete.

      Während er sich erhob, den Blick noch immer liebevoll auf seine Frau gerichtet, klingelte es an der Haustür.

      Heftig packte Sibylle seine Hand. »Geh … geh nicht. Mach nicht auf. Bleib … hier«, sagte sie. Dass ihre Stimme ängstlich, gebrochen und alt klang, hörte er kaum. Sie bewegte sich und sprach mit ihm. Das erste Mal seit Tagen sagte sie etwas. Beinahe hätte er innerlich frohlockt. Aber letztlich sah er sie erschrocken an. Warum sollte er nicht …? Was hatte sie? Sicherlich, unangemeldet bekamen sie um diese Zeit nie Besuch. Aber vielleicht war es ja nur …

      »Ich sehe kurz nach. Vielleicht hat Frau Herbst nur ihren Schlüssel vergessen.«

      Als es zum zweiten Mal klingelte, hob Sibylle ängstlich den Blick. »Bitte, mach nicht auf. Nicht um diese Uhrzeit. Es kann nichts Gutes …«

      Das war es also! Endlich verstand er. Und er versuchte, seine Frau zu beruhigen. »Es ist an der Tür … Es ist nicht das Telefon. Und auch dort gibt es nicht immer …«

      Vor genau achtzehn Tagen, es war auch um diese Uhrzeit gewesen, hatte er – er! – angerufen. Es war nur ein kurzer Anruf gewesen, der aber alles verändert hatte. »Mel … meine geliebte Mel … sie ist bei der Geburt … Es ist so schrecklich … Sie ist nicht mehr.« Diese wenigen Worte, die Sibylle vernommen hatte, die ihr im ersten Moment unverständlich erschienen waren, hatten sich dann in kürzester Zeit auf ewig in ihre Seele eingebrannt.

      »Sie ist nicht mehr …«, was für Worte an eine Mutter.

      *

      Raymond wendete sich ab. Er wollte wieder gehen. Zweimal hatte er geklingelt. Sibylle und Ingmar waren zu Hause; beide Autos standen in der offenen Doppelgarage ihres stattlichen Einfamilienhauses. Aber offensichtlich wollten sie ihn nicht sehen.

      Doch Silvana gab Raymond ein Zeichen vom Auto aus. Unmissverständlich. Klingel noch einmal!

      Er lächelte. Innerlich. Diese Frau war unglaublich. Schließlich zuckte er die Schultern und sah Rosa an, die mit großen Augen bestrebt war, alles, was um sie herum vor sich ging, in sich aufzunehmen.

      Letztlich klingelte er ein drittes Mal.

      Wieder blieb alles mucksmäuschenstill. Aber in dem Moment, als er sich erneut und nun endgültig abwenden wollte, ging die Haustür auf.

      Ingmar, sein Schwiegervater, stand in der Tür.

      Beide starrten sich erschrocken an, beide waren einen langen Moment sprachlos.

      »Ingmar, mach die Tür wieder zu«, hörten beide von hinten Melissas Mutter aufgeregt rufen. »Lass niemanden herein, bitte nicht. Ich kann nicht!«

      »Es ist … Raymond«, sagte Ingmar, wobei sein Blick umständlich von seinem Schwiegersohn zu Rosa wanderte. Der Adlige, zu sagen, hatte er wohl eben noch vermeiden können. Und kaum hörbar ergänzte er: »Mit … mit einem Kind … auf dem Arm.«

      »Das ist Rosa. Eure Enkeltochter.«

      »Was sagt er?«, rief Sibylle.

      »Rosa … unsere Enkeltochter …«, rief Ingmar Scholz halblaut mit tonloser Stimme, ohne das Baby dabei aus den Augen zu lassen. Er schien das, was er vor sich sah, nicht zu begreifen. Noch weniger begriff er, was sich dann ereignete, so sagte er Tage später.

      »Was …?«

      Sekunden später stand Sibylle Scholz neben ihrem Gatten. Und dann geschah es. Wortlos. Und es kam einem kleinen Wunder gleich. Mit großen, aufgeregten Augen streckte Rosa die Arme nach ihrer Großmutter aus.

      »Mel … meine kleine Mel …«

      »Das ist Rosa. Eure Enkeltochter«, wiederholte Raymond die einzigen Worte, die er bislang zustande gebracht hatte. Er hatte ein paar inhaltslose Sätze eingeübt, um den ersten »peinlichen« Moment zu überbrücken, doch nicht einmal diese nichtssagenden Floskeln fielen ihm jetzt ein. Sein Kopf schien leer zu sein, und auch nur bedächtig und schleppend, wie es allein in Träumen möglich war, registrierte er die Geschehnisse um sich. Ein surrealer Moment küsste die Vorsehung.

      Melissas Mutter streckte nun ebenfalls die Hände aus … ihrer Enkeltochter entgegen.

      »Mel … nein … Rosa … nein … Mel … Genau so hat Melissa ausgesehen.«

      Und noch bevor Raymond auf die ein oder andere Weise reagieren konnte, hatte Sibylle Scholz ihr Enkelkind auf dem Arm, atmete gelöst ein und schien glückselig zu sein. Ja, das war sie, von einer Sekunde zur nächsten … glückselig.

      Raymond ließ die beiden nicht aus den Augen. Melissas Mutter wirkte kränklich, obwohl … ihr Blick, eben noch glanzlos und müde, war plötzlich voller Leben.

      Was Raymond nicht sah, war der erstaunte, beinahe verwirrte Gesichtsausdruck seines Schwiegervaters, der seiner Frau galt. Er schien fassungslos zu sein. Ihre Kräfte schienen zu erwachen, Kräfte, die er lange nicht gesehen hatte. Er konnte nicht glauben, was er im Moment erlebte.

      Melissas Mutter ging mit ihrem Enkelkind im Arm durch den Flur zum Wohnzimmer, und Ingmar ließ seinen Schwiegersohn mit


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