SeelenFee - Buch Zwei. Axel Adamitzki
Er erinnerte sich an die Hochzeit. Sie hatten sich auch damals selbst ausgegrenzt. Seine Schwiegereltern hatten es ganz allein getan. Sie hatten es so gewollt. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Er verstand sie nicht. Ingmar war ein überaus erfolgreicher Geschäftsmann, doch offensichtlich schien ein Adelstitel beide zutiefst zu beeindrucken und aus unerfindlichen Motiven gar abzuschrecken.
Aber dieses Mal wollte er das nicht zulassen. Rosa liebt euch, sie braucht euch, seht ihr das nicht?
»Es wird nur eine sehr kleine Feier geben«, fuhr er fort. »Und ausschließlich mit den Personen, die für Rosa in den ersten Wochen ihres Lebens da waren.« Er sah seine Tochter an, und er lächelte. »Und auch mit den Personen, die leider nicht da waren, die Rosa aber … die sie offensichtlich von ganzem Herzen liebt. Damit meine ich nicht nur euch, sondern … auch mich.«
Einen Augenblick schwieg er und betrachtete liebevoll das kleine Mädchen, das seine Gedanken mehr und mehr bestimmte.
»Ja, Rosa ist eine Prinzessin. Daran führt kein Weg vorbei. Und ganz ohne Frage wird sie irgendwann auf den Bällen der Gesellschaft tanzen und wird sich dort hoffentlich ausgelassen vergnügen. Vielleicht wird sie da auch ihren Prinzen kennen und lieben lernen. Aber bis dahin … Rosa ist auch ein Mädchen … ohne Mutter. Mel hätte ihr mit Freuden gezeigt, wie Leben geht. Davon bin ich überzeugt. Und bestimmt hätte sie es gut und richtig und mit viel Liebe getan. Auch davon bin ich überzeugt. Und warum hätte sie es so und nicht anders tun können?« Nun hob er den Blick und sah seine Schwiegermutter an. »Weil sie es selbst erfahren hat. Hier. Durch dich. Durch ihre eigene Mutter.«
Sibylle lief eine Träne über die Wange, und hastig griff sie nach der Hand ihrer Enkeltochter.
Raymond überlegte kurz, ob er jetzt … Nein, nicht heute. Irgendwann werde ich ihnen alles erzählen. Von der Geburt, von Mels Entscheidung. Aber nicht heute. Alles hat seine Zeit.
Und verhalten fuhr er fort: »Und deshalb bitte ich dich … bitte ich euch … nicht nur kurz in der Kirche zu erscheinen. Sondern werdet Teil von Rosas Leben. Und fangt heute und am Sonntag bei der Taufe damit an. Dort, für jedermann sichtbar, als Taufpaten. Auch wenn es ungewöhnlich ist, da ihr ja sowieso schon die nächsten Verwandten seid.«
Ängstlich und fragend blickte Sibylle erst Raymond und dann schließlich ihren Mann an.
Der zuckte die Achseln und sagte zu seiner Frau: »Wenn du dir das zutraust? Natürlich bin ich auch da. Für dich. Für euch … Im Hintergrund.«
Nun lächelte sie. Voller Liebe.
»Sollen wir zu zweit …?«, fragte Sibylle dezent. »Oder gibt es in deinen Kreisen nur einen Taufpaten?«
Die Abneigung saß tief. Dennoch …
»In ›meinen Kreisen‹, zu denen ihr im Übrigen seit mehr als sechs Jahren auch gehört, gibt es auch zwei Taufpaten. Manchmal sogar drei.«
»Und wer wird der zweite sein?«, fragte Sibylle etwas ängstlich und spielte dabei verlegen mit der Hand ihrer Enkeltochter.
»Silvana wird –«
»Du Silv?«, unterbrach Sibylle ihn hastig und sah aufgeregt die Freundin ihrer Tochter an.
Silvana nickte. »Ja. Raymond hat darauf bestanden. Und wenn ich Rosa so betrachte, dann denke ich, ist all das hier eine gute Entscheidung.«
Sibylle Scholz schien ein Stein vom Herzen zu fallen, sie wirkte erleichtert, nein, mehr noch: Sie schien das erste Mal seit Wochen nicht mit dem Schicksal zu hadern.
»Du hast recht. Und ich denke, dann soll es so sein.«
16 – Sie waren gerade fertig geworden …
… und Konrad Schwendt grinste erleichtert, kurz nachdem er das Büro des Landgrafen im Gutshaus betreten hatte.
Raymond nickte anerkennend. Heute war Samstag, sie hatten kaum mehr als drei Tage für die Beseitigung des Chaos in Silvanas Wohnung benötigt – eine wirklich anerkennenswerte Leistung. Die Polizei hatte, wie es wohl üblich war, dem Vorfall ein Aktenzeichen zugeteilt und würde bei Änderung der Kenntnis- und Sachlage die Ermittlungen wieder aufnehmen, wie man Silvana gesagt hatte. Da nichts gestohlen worden war und die Einbrecher auch keine verwertbaren Spuren hinterlassen hatten, würde es wohl diese weiteren Ermittlungen nie geben. Niemand war verärgert darüber, im Gegenteil, alle, nicht nur Silvana, waren froh, mit der abgeschlossenen Aufräumaktion dieses leidliche Anliegen aus den Köpfen zu bekommen.
»Ich danke Ihnen, Konrad.«
»Nicht der Rede wert, Herr Graf.«
Herr Graf! Aus Konrads und Paulas Mund fühlte sich diese Anrede seit seiner Rückkehr nicht mehr passend an. Das würde er ändern, bald schon, doch im Moment, bis morgen, gab es drängendere Aufgaben.
»Ist Silvana jetzt bei Rosa?«
»In einer Stunde wird sie hier sein. Sie wollte noch ein paar Dinge nachsortieren«, sagte Konrad Schwendt, wobei ihm ein kurzes, vertrauliches Lächeln über das Gesicht huschte.
Offensichtlich hatten sie sich blendend verstanden, dachte Raymond und freute sich ein weiteres Mal über das Einvernehmen, das sich seit ein paar Tagen über das Landgut gelegt hatte. Es war … nahezu wie zu den schönsten Zeiten mit Melissa.
Die letzten Tage waren wie im Flug vergangen. Raymond hatte Konrad direkt am Mittwoch an Silvanas Seite gestellt, zumal Paula, die anderen Hausangestellten und auch die Gutsmitarbeiter deutlich gemacht hatten, dass sie die anstehenden Arbeiten auf den Obstbaumwiesen und auch die Vorbereitungen auf die Taufe allein mühelos im Griff hatten. »Da stört Konrad sowieso nur«, hatte Paula Mittwochmorgen grinsend und mit einer betont wegwerfenden Handbewegung verdeutlicht. Sie freute sich, wie alle anderen auch, über die Einflussnahmen und Vermittlungen, die Silvana – beinahe im Stillen und mit einer liebenswerten Selbstverständlichkeit – auf dem Landgut getätigt hatte. Und endlich könnten sie ihr ein wenig von ihrer großen Zuneigung zurückgeben.
Doch davon wollte Silvana nichts wissen. »Melissa war und ist meine beste Freundin. All das ist nur selbstverständlich«, wiegelte sie immer wieder ab.
Natürlich war es nicht selbstverständlich. Das wussten alle. Dass Melissas Mutter jetzt jeden Tag im Gutshaus war und sich rührend um Rosa kümmerte, gehörte auch zu den Dingen, die Silvana angestoßen hatte – auch das war nicht selbstverständlich.
Abends, wenn Ingmar Scholz kam, um seine Frau abzuholen, und Silvana zurück aus ihrer Wohnung zum Gutshaus fuhr – bis Sonntag, bis zur Taufe, wollte sie sich nachts nach wie vor um Rosa kümmern, das hatten Silvana und Raymond gemeinsam beschlossen -, saßen sie noch bei einem kleinen Imbiss zusammen und erzählten von ihren Erlebnissen des Tages und von den Fortschritten der Vorbereitungen auf die kleine Feierlichkeit am Sonntag.
Alle, nicht nur Raymond, genossen diese ruhige Stunde zutiefst. Es war, als wären sie eine Familie, und ein Stück weit waren sie es in diesen wenigen Momenten auch.
Nachts lag Raymond stets lange in einer Art verträumten Zustand wach und holte sich noch einmal die Bilder dieser abendlichen Verbundenheit vor Augen. Und immer saß dann Melissa lachend und aufmerksam zuhörend mit am Tisch. Dieser Wunschtraum, diese Illusion, dass sie bei ihm, unter ihnen war, tröstete ihn sehr.
Und jede Nacht, kurz vor dem Einschlafen, gab es da noch einen anderen, sehr merkwürdigen Gedanken, der ihn ein wenig beunruhigte, der ihn aber dennoch friedlich einschlafen ließ – einen Gedanken an Silvana. Er hatte das Gefühl, mit ihr in seiner Nähe war nahezu alles machbar. Sie verstand ihn beinahe so gut wie Melissa. Doch eben nur beinahe, denn es gab da schon noch einen bedeutsamen Unterschied: Melissa hatte er geliebt. Gleichwohl … Silvana ab Sonntagabend nicht mehr in seiner Nähe zu wissen, fühlte sich bitter an.
»Da ist noch etwas«, sagte Konrad Schwendt, womit er Raymond aus der Einsamkeit seiner Gedanken zurück in die Wirklichkeit holte. »Philipp wartet draußen. Er würde gern kurz mit Ihnen reden. Aber er will