Das Mädchen mit dem Flammenhaar. Janet Borgward
beiseite, dann folgte er mir nach draußen. Im Vorbeigehen hatte ich mir einen alten Besen gegriffen. Auf einer Fläche von etwa eineinhalb Metern begann ich sorgsam den ausgetrockneten, rissigen Lehmboden von Blattresten, zertrampelten Fußspuren und sonstigen Störfeldern zu befreien, bis eine glatte Ebene entstand. Die Karten mussten auf dem Boden ausgelegt werden, denn aus ihm gewannen sie einen Teil ihrer besonderen Kräfte. Den anderen Teil steuerte ich bei. Als ich die Karten zu mischen begann, zog mein Vater sich eine Holzkiste heran und nahm darauf Platz, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Gibt es irgendeinen Anhaltspunkt? Ein spezielles Thema, zu dem ich die Karten befragen soll?“ „Nein. Leg sie einfach aus und sage mir dann, was sie bedeuten.“ Heute wurde ich einfach nicht schlau aus ihm. Für gewöhnlich wurden meine Kartenkünste nur vor Vermählungen benötigt, um dem Paar die Zukunft vorauszusagen oder um den Händlern den rechten Zeitpunkt für ihre Reise zu benennen. Ich mischte die Karten erneut. Dann ließ ich mich auf die Knie sinken. In einem einzigen Fächer, entgegen dem Uhrzeigersinn, legte ich sie mit der linken Hand und dem Bild nach unten auf den staubtrockenen Boden aus. Einen Moment verharrte ich in absoluter Unbeweglichkeit. Um mich herum verstummten die Geräusche. Nur das Rauschen meines eigenen Blutes konnte ich im Kopf hören. Dann öffnete ich die Augen wieder. Gerade, als ich den Kartenfächer von oben nach unten umschlagen wollte, vernahm ich ein herannahendes Grollen, wie von Gewitter. Ich blickte zum Himmel, doch es war kein einziges Wölkchen zu sehen. Mein Vater sah mich abwartend an. Ob er das Grollen auch gehört hatte? Dann schraubte sich mit einem Mal ein Wirbel direkt aus dem Inneren des Kartenkreises empor, wie ein Tornado im Herbst. Wie war das möglich? Die Zeit schien still zu stehen. Ich sah, wie die Karten in eben diesen Strudel gerieten, wie in einen Trichter. Immer schneller, empor zum Himmel und dann war der Spuk plötzlich vorbei, und sie fielen in einem letzten, wilden Tanz auf den Boden zurück. Nur die zerfurchte Erde unter ihnen strafte die anschließende Ruhe Lügen. Das hatte ich noch nie erlebt. Was war geschehen? Als ich die Karten umdrehen wollte, die seltsamerweise alle noch verdeckt auf dem Boden lagen, war ihre Bildseite verschwunden. „Avery, was hat das zu bedeuten?“ Die Stimme meines Vaters war nur noch ein Flüstern, als er auf die leeren Karten starrte. Endlich konnte ich mich aus meiner Starre lösen. Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf. „Ich habe dafür keine Erklärung.“ „Aber warum sind die Bilder weg?“ „Ich weiß es nicht, Vater.“ Verwirrt sammelte ich meine Karten wieder ein. Jede einzelne prüfend, wie in Trance. Alle trugen nur auf der Rückseite ihr gewohntes Muster. Die Bilder auf der Vorderseite blieben jedoch verloren. Das Gesicht meines Vaters war inzwischen aschfahl geworden. „Hast du es gesehen?“, fragte ich ihn leise, als könnten wir belauscht werden. Ein Schatten huschte plötzlich über seine Augen, dann sah er mich fragend an. „Was meinst du?“ „Den Wirbelsturm und …“ „Wirbelsturm?“ Er rieb sich die Schläfen, als hätte er Kopfschmerzen. „Nein. Wo denn?“ Suchend blickte er sich um. „In den Bergen?“ Wollte er mich auf den Arm nehmen? Er hatte doch keinen Steinwurf weit entfernt auf seiner Holzkiste gesessen. „Avery, wo sind die Bilder auf den Karten?“ „Langsam, langsam. Wir müssen systematisch vorgehen.“ Mir schwirrte der Kopf. „Sag mir genau, was du gesehen hast, Vater.“ „Ab welchem Zeitpunkt?“ „Nachdem ich die Karten gemischt habe.“ Nervös nagte er an seiner Unterlippe. „Also, du hast sie gemischt, wie immer, bist in die Knie gegangen, danach waren die Bilder weg.“ „Und dazwischen, Vater? Was hast du gesehen, gehört?“ „Dazwischen? Wie meinst du das? Ich habe nichts gehört.“ Ja war er denn plötzlich senil geworden, oder was? „Vater, es war nicht zu überhören oder zu übersehen. Das Donnergrollen, der anschließende Wirbel.“ „Avery, Kind. Ich h-a-b-e nichts gesehen oder sonst was gehört! Sag mir lieber wie es möglich ist, dass die Bilder auf dem Kartenspiel auf einmal fort sind. Wie hast du das gemacht?“ Er schien es für einen billigen Zaubertrick zu halten, wollte schon nach den Karten greifen. „Ich?“ Rasch nahm ich die leeren Karten wieder an mich. „Du hast das Kartenspiel angefasst. Erinnerst du dich? Du hast die Karten aus meinem Schrank genommen. Woher wusstest du überhaupt, dass ich sie dort aufbewahre?“ Was spielte er mir bloß für ein seltsames Theater vor? So kannte ich ihn überhaupt nicht. „Vater. Warum sollte ich dir die Karten wirklich legen? Was wolltest du darin sehen? Ich muss es wissen!“ Mittlerweile schrie ich ihn an, spürte, wie ich kurz davor war, hysterisch zu werden. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Er dagegen schüttelte nur in einem fort den Kopf. „Sprich mit niemand darüber. Schwör es mir, sonst …“ Als meine Mutter, aufgeschreckt durch meine schrille Stimme, über den Hof gelaufen kam, stürmte er in die entgegengesetzte Richtung davon. Wie angewurzelt blieb ich stehen, mit einem Meer von Fragen und leeren Karten.
Rauch über Gullorway
„Wo warst du gestern?“, flüsterte Charise mir am Frühstückstisch zu.
„Später.“
Ich musste in die Schule. Charise blickte fragend zwischen meiner Mutter und mir hin und her. Vielleicht dachte sie, dass wir uns gestritten hatten. Sollte sie glauben, was sie wollte. Hauptsache sie hörte auf, mich weiter mit ihren Fragen zu löchern. Ich brauchte Zeit.
Mein Vater war erst spät in der Nacht nachhause gekommen, und hatte uns kurz nach Sonnenaufgang wieder verlassen. Ohne ein Wort. Ich verstand sein Verhalten nicht, meine Mutter verstand mich nicht, und sagen durfte ich zu niemandem etwas. Aber ich musste mit jemandem darüber reden, was gestern geschehen war, sonst würde ich verrückt werden. Miles, fiel es mir ein. Er wäre der Richtige. Ich würde mit ihm angeln gehen. Dann würde ich ihn fragen, was er von der Angelegenheit hielt. Mit ihm konnte ich über alles reden. Aber die Schule … „Charise? Heute gehst du mir mal zur Hand, hm?“ Die Stimme meiner Mutter holte mich aus meinen Tagträumen zurück und rief bei meiner Schwester ein genervtes Augenrollen hervor. „Und wir sprechen uns nach der Schule noch, Avery“, wandte Mutter sich dann mit durchdringendem Blick an mich. Ich griff nach meinem Lederrucksack, packte die nutzlosen Karten hinein, ein Messer mit meinen Initialen im Knauf und meinen Lesestein. Doch mein Ziel war nicht die Schule. In Gedanken versunken hetzte ich durch die staubigen Straßen von Gullorway. Alles schien wie immer. Kein Gewitter am Horizont. Vor einem frisch getünchten Haus in safrangelb, mit schiefen, schneeweißen Fensterläden, hielt ich an. Miles wohnte hier mit seinen Eltern, zwei jüngeren Schwestern und seinem zehn Jahre älteren Bruder. Als hätte er gespürt, dass ich zu ihm wollte, öffnete sich die Eingangstür. „Nanu? Du kannst es wohl gar nicht erwarten in die Schule zu kommen.“ „Vergiss die Schule, ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen.“ Zwei strahlend blaue Augen schauten mich erwartungsvoll an. Auf dem markant geschnittenen Gesicht mit dem kleinen Grübchen im Kinn zeichneten sich bereits erste Stoppeln eines Bartes ab. Charise behauptete immer, Miles sähe ausgesprochen gut aus. In wenigen Jahren würden ihm die Frauen unseres Dorfes reihenweise zu Füßen liegen, aber ich wäre ja offensichtlich blind für solche Dinge. „Gehen wir angeln“, sagte ich zu ihm, bevor er sich anders entscheiden konnte. Er zog die Tür hinter sich ins Schloss und sah zum Himmel auf, als würde der voller Fische hängen. „Echt? Du willst die Schule sausen lassen fürs Angeln? Dann hast du deine aber zu Hause vergessen genauso wie deinen Hut.“ Er stupste mich an, wollte noch einen Scherz hinzusetzen, wie ich von seinem Gesicht ablas, hielt sich dann aber zurück. „In Ordnung. Du kannst eine von meinen nehmen. Brauchen wir Köder?“ Unentschlossen zuckte ich mit den Schultern. „Du bist heute nicht sehr gesprächig, was? Stress mit deinen Eltern?“ „Lass uns gehen“, sagte ich nur und eilte voraus, in Richtung des Mukonor. Ich wusste, er würde mir folgen. Kurz darauf schloss er zu mir auf. Zwei Angeln in der Hand und eine kleine Büchse, wahrscheinlich randvoll gefüllt mit wimmelnden Ködern. Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her. Die Luft war drückend heiß. Schon jetzt. Kein Vogelgesang war zu hören. Seltsam. „Ist was passiert?“ „Wieso?“ „Du wirkst so komisch. Du willst nicht in die Schule und gestern bist du auch nicht mehr vorbeigekommen.“ „Ich musste meinem Vater noch helfen.“ „Sicher, aber du solltest dich nicht ausnutzen lassen. Es war schließlich der siebte Tag, der einzige freie Tag in der Woche. Mit der flachen Hand schlug er eine Fliege auf dem Oberschenkel platt, die eine ekelige Blutspur hinterließ. Seine Hand wischte er am Hosenboden ab. Ich blieb stehen und sah ihm fest in die Augen. „Ich lasse mich nicht ausnutzen“, fuhr ich ihn an. „Außerdem hast du gerade einen fetten Köder plattgemacht“, setzte