Das Mädchen mit dem Flammenhaar. Janet Borgward

Das Mädchen mit dem Flammenhaar - Janet Borgward


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liegen mir ihre Ängste und Nöte am Herzen.“ Seine Stimme klang wieder milder. „Was erwartest du dann von mir? Dass ich wie ein einfältiges Schaf an deiner Seite sitze, brav meinen Mund halte und dich anhimmele?“ „Ganz sicher nicht. Du weisst, weswegen ich dich dabeihaben wollte. Weil du eine ausgezeichnete Beobachterin bist. Weil du in den Gesten der Menschen liest, so wie ich in deinem Gesicht jede Gefühlsregung ablesen kann.“ „Wenn du so gut darin bist, dann weißt du ja auch, was ich gerade empfinde.“ Ich presste meine Lippen aufeinander und funkelte ihn zornig an. „Ach, Avery.“ Er zog mich in seine Arme und strich mir sanft übers Haar. „Ich möchte ja nur, dass du nicht die Mutter aller bist. Sie sind gestandene Männer, deswegen habe ich sie ja ausgewählt. Wenn du sie jedoch wie kleine Jungen behandelst …“ „Auch ein erwachsener Mann sollte hin und wieder seinen Schmerz zeigen dürfen.“ Ich wand mich aus seiner Umarmung. „Was haben dir ihre Gesten überhaupt verraten?“, fragte er beiläufig. „Du bist ein erwachsener Mann und besitzt sicherlich mehr Menschenkenntnis als ich. Daher werde ich mich künftig wieder meinen Aufgaben widmen, statt die Gefühle gestandener Männer mit Füßen zu treten.“ Ich drängte mich an ihm vorbei. „Und was glaubst du, ist deine Aufgabe?“, rief er mir nach. „Heilerin zu sein, Skyler!“

      „Ich will hoffen, dass du nicht nur hier vorbeischaust, wenn ihr beide euch streitet, Avery.“

      Jodee maß mich streng, die Hände energisch in die Seiten gestemmt.

      „Nein, es ist alles geklärt zwischen uns. Wie kann ich dir behilflich sein?“ Es lag mir fern, unseren Konflikt vor ihr offenzulegen.

      Ihre dunklen Augen ruhten skeptisch auf mir. Doch kräuselten sich ihre vollen Lippen bereits zu einem angedeuteten Lächeln.

      „Schön. Fangen wir also an, aus dir eine respektable Heilerin zu machen, wenn du denkst, dass dies deine wahre Bestimmung ist.“

      Sie nickte mir aufmunternd zu, nahm ihre Tasche vom Haken, in der sie allerlei Heilkräuter und sonderbare Instrumente aufbewahrte und forderte mich auf, ihr zu folgen.

      „Wohin gehen wir?“, fragte ich sie, als sie mich durch die staubigen Straßen Gullorways aus der Stadt hinaus zu den Feldern führte.

      „Hm“, brummte sie nur.

      „Was, hm?“

      „Ich will dir etwas zeigen.“

      Sie hielt an einem abgelegenen Feld.

      „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du einen Gewaltmarsch durch die Mittagssonne planst, dann hätte ich mir Wasser und vor allem einen Sonnenhut mitgenommen“, murrte ich.

      „Entschuldige. Wasser habe ich dabei, aber an den Hut habe ich nicht gedacht.“

      Sie kramte in ihrer Tasche herum und reichte mir stattdessen einen Seidenschal.

      „Lege dir den einstweilen um Kopf und Schultern, ja?“

      Ich griff nach dem angenehm kühlen Stoff und befolgte ihren Rat.

      „Also, was tun wir hier draußen? Ich sehe keine Menschenseele, die unserer Hilfe bedarf. Wer vernünftig ist, zieht sich während der Mittagshitze in den Schatten zurück.“

      Statt einer Antwort richtete sie ihren Blick stur geradeaus, die Augen gegen das gleißende Licht zusammengekniffen, als suche sie nach etwas. Ihre Schritte waren inzwischen nicht mehr so energisch. Schließlich blieb sie vor einer Ansammlung Disteln stehen, deren violette Blüten aus dem dornigen Gestrüpp hervorbrachen, als buhlten sie um unsere Aufmerksamkeit.

      „Ringdisteln“, erklärte sie, sich dabei mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wischend. Sie reichte mir auffordernd den Wasserschlauch, bevor sie selbst einen Schluck nahm.

      „Sie helfen bei Schädigung der Leber und hemmen die Aufnahme von Toxiden in der Leberzelle. Und sie fangen hoch aktive und zellschädigende freie Radikale ab.“

      „Was denn für Radikale? Meinst du Schläger?“ Ich lachte über diese seltsame Formulierung.

      Jodee fiel donnernd in mein Lachen ein und schlug sich dabei auf die kräftigen Schenkel.

      „Nein, Liebes. So nennt man aggressive Sauerstoff-Verbindungen, die die Körperzellen schädigen können. Durch die lange Dürre in unserem schönen Gullorway treten bereits Mangelerscheinungen bei der Bevölkerung auf. Uns fehlt frisches Obst und Gemüse, da es meist nur kümmerlich wächst, oder schon vor der Ernte verwelkt.“

      Mit einer kleinen Harke grub sie die Ringdisteln aus dem steinharten Erdreich aus.

      „Die Früchte im Mörser zerstoßen und mit sechzig prozentigem Kumbrael oder anderem reinem Alkohol versetzt ergibt eine Tinktur, die vier Wochen in einem Glas aufbewahrt werden muss. Hilf mir mal.“

      Sie bat mich, eine Leinentasche offenzuhalten, um die Disteln darin zu füllen. Inzwischen glühten mir Gesicht und Arme wie Feuer. Schweiß rann aus sämtlichen Poren. Mein dünnes Leinenkleid klebte mir am Körper. Doch Jodee blieb unermüdlich in ihrem Handeln, als könne ihr die Hitze nichts anhaben.

      „Der sich bildende Satz muss täglich geschüttelt werden“, klärte sie mich auf. „Nach vier Wochen entsteht eine Art Öl, welches man durch einen Filter gießen muss, damit die Rückstände im Sieb verbleiben.“ Sie erhob sich schwerfällig und gefährlich wankend, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt. Jodee trank gierig aus dem Wasserschlauch und hielt mir den Rest entgegen.

      „Was ich damit sagen will, ist, wir haben hier die Möglichkeit eine Pflanze anzubauen, die uns Heilmittel und vitaminreiches Nahrungsergänzungsmittel zugleich ist. Verstehst du?“

      Ich nickte lahm.

      „Gut. Dann sammeln wir die Gewächse ein. Einige davon halten wir für Neupflanzungen zurück.“

      Ich half ihr bei dieser Arbeit, bis mir Blitze vor den Augen zu zucken begannen.

      „Jodee, können wir wohl mal eine Pause einlegen oder Schatten aufsuchen? Ich fühle mich nicht gut.“

      „Oh. Entschuldige. Wie unaufmerksam von mir. Du hast ja einen feuerroten Kopf. Lass uns zurückgehen, dann gebe ich dir etwas gegen deinen Sonnenbrand. Du siehst tatsächlich wie eine überreife Tomate aus.“

      Als wir Jodees Haus erreichten, war mir so übel, dass ich mich vor der Eingangstür erbrach. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er in einen Schraubstock gespannt. Mir schmerzte der Nacken. Erschöpft ließ ich mich auf einen Stuhl sinken.“

      „Hier, trink das.“

      Schuldbewusst sah sie mich an, goss mir einen Becher Wasser ein, den ich zitternd ergriff und in einem Zug leertrank. Als ich nach dem zweiten greifen wollte, wurde mir schwarz vor Augen und ich verlor das Bewusstsein.

      „Was hast du mit ihr angestellt?“, hörte ich Skylers besorgte Stimme wie durch Watte.

      „Ich hatte nicht darüber nachgedacht, dass sie keinen Sonnenschutz dabeihat“, antwortete Jodee kleinlaut.

      „Musstest du mit ihr unbedingt in der Mittagshitze dieses Unkraut ausgraben?“, fuhr er sie an.

      Ich spürte zwei angenehm kühle Hände an meiner Wange und kurz darauf ein nasses Tuch auf der Stirn. Blinzelnd öffnete ich die Augen.

      „Was ist denn los?“, fragte ich benommen.

      „Einen Sonnenstich hast du, und zwar einen ordentlichen. Wenn das deine Vorstellung einer Heilerin entspricht …“ Kopfschüttelnd winkte er ab.

      „Ich habe da so gewisse Kräfte“, setzte ich zu einem lahmen Scherz an.

      „Die wirst du auch benötigen, falls du dein Hirn nicht bereits verkocht hast.“

      „Skyler“, bemühte sich Jodee, ihn zu beschwichtigen.

      „Und gerade von dir hätte ich mehr Vernunft erwartet“, fuhr er sie ungewohnt schroff an. „Meine Frau ist schwanger, du erinnerst dich?“

      Plötzlich flog die Tür auf und Mattwill stürmte herein.

      „Jodee! Avery! Wir brauchen eure Hilfe! Schnell! Es geht um Koray.“ Sein jugendliches Gesicht war aschfahl.

      „Geh nur, Jodee. Ich komme gleich


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