Der Politiker. Geri Schnell
Danach beginnt er sofort mit der Organisation des komplizierten Musterungsvorgangs. Die Männer müssten sich in Zehnerreihe aufstellen. Jede Kolonne steht nun vor einem Tisch, an welchem ein Feldwebel mit einer langen Liste sitzt. Der Vorderste der Kolonne schreit laut seinen Namen. Der Feldwebel sucht nun den Namen auf seiner Liste. Dort ist vermerkt, in welche Abteilung er eingeteilt ist.
«Wilhelm Wolf!», ruft Willi.
Nach einigen Sekunden kommt die Antwort: «Abteilung D, wegtreten!»
Willi blickt kurz um sich, dann sieht er das Schild mit dem Buchstaben D. Er stellt sich zu den dort wartenden. Ohne dass sie dazu aufgefordert werden, reihen sie sich in Viererkolonne ein und warten.
Die Schlange vor den Tischen wird kürzer. Einig Minuten später räumen die Feldwebel ihre Papiere zusammen und bringen die Tische in einen Schuppen. Danach verteilen sie sich auf die neu entstandenen Kolonnen. Abteilung A, beginnt mit dem Abmarsch. Später folgt die Abteilung von Willi ihrem Feldwebel, der sich in Richtung Bahnhof entfernt. Etwas abseits steht ein Zug, welcher nur aus drei Wagen besteht.
«Los einsteigen!», brüllt der Feldwebel, «ein bisschen Beeilung, wir sind nicht in einem Mädchenpensionat!»
Nun geht es zügig voran, keiner will auffallen. Einige versuchen mit einem Leidensgenossen ein kurzes Begrüssungsgespräch zu führen, das kommt beim Feldwebel gar nicht gut an, er brüllte sofort los. Also bleibt man ruhig und hängt seinen eigenen Gedanken nach.
Der Zug setzt sich in Bewegung und die nächsten Stunden hörten die jungen Männer nur das Rattern der Räder. Anfänglich weiss Willi noch, in welche Richtung sie fahren, doch schon bald fährt der Zug auf einer Strecke, die er nicht kennt. Dann wird es draussen dunkel und der Zug fährt immer noch.
Die meisten schlafen, als der Zug anhält und der Feldwebel losbrüllte.
«Alles aussteigen!», schrie er die Rekruten an, «alles persönliche Gepäck mitnehmen!»
Das kleine Bahnhofsgebäude ist nur spärlich beleuchtet, sie reihen sich in der Kolonne ein, jeder hatte ein kleiner Rucksack mit persönlichen Sachen dabei. Was erlaubt war und was Pflicht war, dass man es dabei hat, wurde ihnen vor Wochen schriftlich mitgeteilt.
Dann marschieren sie los in die dunkle Nacht. Im Morgengrauen erreichten sie eine Kaserne. Sie haben noch einen halben Tag als Zivilist, dann stecken sie alle in der Uniform und der militärische Drill beginnt.
Erst nach zwei Monaten gibt es den ersten Urlaub. Als ihn Gabi am Bahnhof abholt, kennte sie Willi beinahe nicht mehr. Es sind nicht nur die kurzen Haare, darauf wurde sie vorbereitet. Die Gesichtszüge von Willi sind härter geworden. Man sieht auch, dass er gut trainiert ist, er hat mehr Muskeln zugelegt. Auch seine Stimme ist lauter, früher hat er ihr zärtlich Worte ins Ohr geflüstert, jetzt empfindet sie es, als ob er sie anschreien würde.
Sie lässt sich nichts anmerken, sie wird sich daran gewöhnen. So sind Soldaten und es wäre ihr nicht Recht, wenn Willi sich vor der Wehrpflicht drücken würde. Sie will, dass er ein stolzer Soldat wird. Vor dem Haus der Wolfs verabschiedet sich Gabi, sie weiss, dass Rosa ihren Sohn für sich haben will, sie werden abends noch tanzen gehen, dann hat sie ihren Willi für sich.
Rosa freute sich den ganzen Tag auf ihren Wilhelm und werkelt in der Küche. Da Samstag ist, muss Franz noch bis fünf Uhr arbeiten. Immer wieder blickt sie nach dem Kaninchenbraten im Backofen, dazu gibt es Sauerkraut aus dem eigenen Garten, sie ist stolz. Der Wilhelm würde Augen machen, so gut wird er in der Kaserne sicher nicht essen.
Nun hat sie ihren Sohn für sich. Schnell merkt sie, dass ihr Sohn mit einer Frau nicht über den Soldatenalltag sprechen will. Das versteht sie eh nicht. So berichtet sie ihrem Sohn, was sich in Worms ereignet hat. Sie informiert, dass die Lederfabrik viele neue Arbeiter einstellte. Die kommen mit der Produktion kaum nach. Die Nachfrage nach Bestandteilen zu Uniformen ist gross. Handschuhe, Gürtel, Stiefel, alles ist gefragt.
Doch diese Information hat ihm schon Gabi gegeben, sie arbeitet ja auch in der Fabrik und das erst noch im Büro, da weiss sie viel besser, als seine Mutter, wie gut die Fabrik arbeitet. Mutter arbeitet, als deutsche Hausfrau weniger lang. Rosa muss nur ein reduziertes Pensum in der Näherei leisten. Sie hat sich auf das Nähen von feinsten Handschuhen spezialisiert.
«Unser Gauleiter hat sich bei mir persönlich bedankt», erzählt sie stolz, «er hat die Fabrik besucht und erhielt vom Werksleiter Handschuhe aus sehr feinem Leder, dieses Leder darf nur ich bearbeiten.»
«Ja nähen hast du schon immer gut gekonnt.»
«Der Gauleiter war mit Worms nicht zufrieden und hatte sich beschwert, den Juden in Worms geht es immer noch zu gut. Noch immer können sie die Synagoge besuchen und der Rabi wird nicht an der Ausübung seines Amtes gehindert. Die meisten Leute in Worms findenden, dass das die Stadt in ein schlechtes Licht rückt.»
«Es sind eigentlich keine Juden, die meisten sind deutscher als mancher Linke.»
«Die sind auch eine Gefahr. Der Gauleiter will, dass sie in ein Lager müssen. Da hat man sie unter Kontrolle.»
«Sonst habt ihr in Worms keine Sorgen, die Stadt wirkt ruhig, die Leute trauen sich wieder auf die Strasse. Das ist mir sofort aufgefallen.»
«Ja, in den Strassen ist es wieder ruhig, die Juden wagen sich nicht nach draussen, sie verstecken sich.»
«Dann ist ja alles gut, solange sie nur in der Synagoge sind, stören sie nicht.»
«Trotzdem macht es auf den Gauleiter einen schlechten Eindruck, es ist eine Schande! Worms feierte letztes Jahr das 900 jährige bestehen der jüdischen Gemeinde.»
«Da siehst du, die sind gar keine Juden mehr, das sind Deutsche.»
«Worms wird wohl damit leben müssen», seine Mutter wirkt resigniert, «es gibt zu viele und man kann sie gar nicht mehr von den deutschen trennen.»
«Das ist ja was ich meine, sie sind Deutsche geworden. Die Hauptsache ist, dass sie auch am Aufbau von Deutschland mithelfen.»
Soeben fährt Franz mit dem Motorrad vor. Nun muss sich Rosa wieder um das Essen kümmern. Wilhelm eilt nach draussen um seinen Vater zu begrüssen. Neben seinem Vater interessiert ihn auch das Motorrad. Stolz lädt Franz ihn ein, eine kurze Runde zu drehen, soviel Zeit bleibt noch, bis das Essen fertig ist.
Die Mutter ruft zum Essen. Wilhelm berichtet von seiner Ausbildung. Meistens ist sie sehr hart, was Franz freut, endlich werden die jungen Deutschen wieder zu richtigen Männer erzogen.
«Bevor wir in den Urlaub entlassen wurde, fand noch die Vereidigung satt, in einer imposant Zeremonie schworen wir Adolf Hitler die Treue. Jetzt bin ich ein richtiger deutscher Soldat!»
«Darauf stossen wir an!», Franz hebt das Glas, gefüllt mit einer Flasche Wein, welche noch aus seiner Schmugglerzeit stammt, «ich bin stolz auf dich!»
Nach dem Willi viel zu viel gegessen hatte, zieht er sich in sein Zimmer zurück. Die Reise war lang und anstrengend. Trotz der Müdigkeit, findet er keinen Schlaf. Seine Gedanken bewegen sich im Kreis. Die Gespräche, vor allem das mit seiner Mutter geben ihm zu denken. Plötzlich wird ihm bewusst, dass er keine eigene Meinung mehr hat. Er stumpft in der Wehrmacht ab. Der ganze Drill, die dauernd auf ihn einwirkenden Befehle verhindern, dass er selber denkt. Seit zwei Monaten wird ihm jede Entscheidung abgenommen, wenn es heisst rennen, dann rennt er. Heisst es warten, dann wartet er, bis der nächste Befehl kommt. So läuft das in der Wehrmacht.
Das Diskutieren hat man sich gänzlich abgewöhnt, viel zu gefährlich. Jede Form von persönlicher Meinung könnte falsch ausgelegt werden. Da hält man lieber die Schnauze. Die Aufgabe eines Soldaten ist nicht zu denken, sondern Befehle ausführen. Wo käme man hin, wenn jeder Soldat selber denken würde. Das erledigen die Offiziere. Schliesslich muss er doch eingeschlafen sein. Er erwacht erst, als Mutter an die Tür klopft und ihm sagt, dass unten Gabi auf ihn wartet, damit sie einen Spaziergang machen können.
«Ich komme sofort», ruft Willi und zieht sich an.
Gabi sieht bezaubernd aus.