Die Schiffe der Waidami. Klara Chilla
Kleidung und fügte sich perfekt in die Schatten der Nacht. Völlig regungslos blieb er stehen und beobachtete Jess in dem matten Licht einer abgedunkelten Laterne. Seine smaragdgrünen Augen funkelten auf ihn herab, und der Mann murmelte etwas Unverständliches. Dann griff er mit langen, dünnen Fingern nach Jess Morgans Kopf und erschloss sich einen Zugang zu dessen Gedanken. Für einen kurzen Moment zuckte er zurück, als er auf die ersten Träume stieß. Fahlweiße Gesichter starrten ihm aus großen, toten Augen entgegen, die von einem Chor klagender Laute begleitet wurden. Der Unbekannte konzentrierte sich und murmelte in einer raschen Folge Worte in einer alten, geheimnisvollen Sprache. Die Gesichter zogen sich zurück, und die Muskeln von Jess Morgan entspannten sich. Seine Gesichtszüge wurden ruhiger, und auch unter den Augenlidern hörten die Bewegungen auf. Seine Träume hatten nun freien Zugang zu den Erinnerungen, die heute freigelassen worden waren.
Zuerst wechselten sich die Bilder in rascher Folge ab, bis sie in einen langsamen und gleichmäßigen Fluss übergingen. Bilder von einem kleinen Jungen inmitten einer Familie: Sein Vater, dem er erst vor kurzem begegnet war, um viele Jahre jünger in einer innigen Umarmung mit seiner Mutter, die ihn liebevoll betrachtete. Jess durchströmten die schmerzhaften Empfindungen, die er gespürt hatte, als man ihn entführt und zu den Waidami gebrachte hatte. Er erlebte erneut die Jahre bei den Waidami voller Demütigung und Schmerz, traf auf einen Mann mit smaragdgrünen Augen, der ihm Zuneigung entgegengebracht hatte und ihn heimlich an einem Strand unterrichtete, durchlebte den Schmerz bei der Zeremonie der Tätowierung. Die Bilder beschrieben einen Kreis und begannen von vorne, bis die Erinnerungen und Gefühle aus seinem Leben als normaler Mensch auf die Erinnerungen des Piraten trafen und sich zu einem Ganzen zusammenschlossen. Sein Leben war komplett und wies keinerlei Lücken mehr auf.
Die Träume zogen sich zurück und hinterließen nur noch das Bild von zwei katzenhaften, grünen Augen, die auf ihn hinab starrten. Jess riss seine Augen auf und fühlte eisige Kälte, als er in eben diese Augen über sich starrte. Mit einem Satz sprang er auf und wollte sich auf die Gestalt stürzen, als ihn ein Ruf zurückhielt: “Jess, nein, das ist Lanea!“
Cale Stewart schob sich zwischen ihn und die rothaarige Frau, die ihn irritiert ansah und ihre Hände abwehrend nach vorne richtete. Verwirrt sah Jess zwischen Lanea und seinem Freund hin und her.
„Wie habt ihr mich gefunden?“ Seine Stimme klang rau, und er bemühte sich, nicht auf die grünen Augen von Lanea zu starren.
„Heute Morgen kam ein bezahlter Bote zur Treasure, der uns zu diesem Haus führte. Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet.“ Cale sah sich neugierig um. „Was machst du hier?“
Jess Morgan runzelte die Stirn und betrachte Cale zurückhaltend. Dieser begegnete dem Blick und nickte dann.
„Wir kehren zur Treasure zurück und laufen heute noch aus.“ Jess verließ seinen Leuten voran das Haus, während sich seine Gedanken um ein Paar grüner Augen drehten.
*
Lanea stand auf dem Vordeck der Monsoon Treasure. Dies war ihr dritter Tag an Bord und nach der ersten rätselhaften Begegnung mit Captain Jess Morgan hatte sie kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Nachdem sie ihn in diesem schäbigen Haus gefunden hatten, waren sie sofort ausgelaufen. Sie segelten scheinbar ziellos durch die Gewässer, und sie hatte erst heute Morgen zum ersten Mal einen Kurs bestimmen dürfen. Nun gut, sie hatte damit gerechnet, dass es dauern würde, sich das Vertrauen der Piraten zu erwerben.
Lanea ließ ihren Blick über den Bugspriet hinweg in das Meer gleiten. Das Schiff wälzte sich durch dicke, bleigraue Wellen. Der Wind hatte seit dem Morgen stetig zugenommen und wechselte oft unvermittelt die Richtung. So gut es ging, hielt die Crew die Monsoon Treasure hoch am Wind. Die Segel waren bis zum Zerreißen gespannt und sackten dann plötzlich in sich zusammen, als der Wind drehte. Doch die Mannschaft war ein eingespieltes Team. Es bedurfte nur weniger Augenblicke, die Taue schlugen knatternd gegen die Masten, und das Tuch flatterte kurz im Wind, bevor es sich wieder blähte und den Wind einfing.
Von Cale Stewart hatte Lanea erfahren, dass die gesamte Mannschaft seit gut fünfzehn Jahren zusammen segelte. Sie verstanden sich ohne Worte. Während der Segelmanöver schallten kaum Befehle über Deck. Jeder einzelne Mann schien genau zu wissen, was er zu tun hatte, und jeder Handgriff saß und passte perfekt in das Gefüge.
Die Monsoon Treasure tanzte wild auf den Wellen und schlingerte hin und her, wenn der Wind sie wieder neckte. Lanea hielt sich mit beiden Händen an der Reling fest. Ihr Gesicht hielt sie in den Wind und spürte ein wunderbares Gefühl voller Tatendrang. Dann richtete sie ihr Augenmerk auf das Achterdeck, auf dem Jess Morgan und Cale Stewart dicht beieinanderstanden und sich unterhielten.
Er war einfach faszinierend, mit welcher Sicherheit der Captain auf den Planken stand. Während jeder der Mannschaft bei den unvermittelten Schlingerbewegungen des Schiffes schwankte oder sich einen Halt suchen musste, stand er wie ein Fels in der Brandung. Jess Morgan verlagerte immer im richtigen Augenblick kurz sein Gewicht, um dem Schlingern des Schiffes entgegen zu wirken. Es war ganz und gar sein Parkett, sein Tanz. Er schien jede plötzliche Bewegung vorauszusehen und nahm sie mit einer gleitenden Bewegung in Empfang und in seinen Körper auf.
Lanea ertappte sich dabei, wie sie sich wieder in der heimlichen Beobachtung des Mannes verlor. Er berührte oft, wie zufällig, das Schiff, wie man es meist mit Menschen tat, denen man auf besonderer Weise zugetan war. Sie versuchte, einen Blick auf seine faszinierenden Augen zu werfen und erschrak, als es ihr unvermittelt gelang. Ihr Mund wurde plötzlich trocken. Beschämt schlug sie die Augen nieder, als seine Augen den ihren begegneten. Jess sagte etwas zu seinem Ersten Maat und lenkte seine Schritte zielstrebig in ihre Richtung.
Lanea schluckte. Ihre Brust presste sich auf unangenehme Weise zusammen. Er kam tatsächlich auf sie zu. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft hinter ihrer Stirn. Sicher wusste er genau, warum sie hier war: Dass sie Verrat plante, kaum dass sie ihren Fuß auf die Planken gesetzt hatte; dass sie eigentlich jedem Piraten Verachtung entgegenbrachte und sie der Meinung war, dass sie alle durchaus mehr als den Tod verdient hatten.
Lanea runzelte die Stirn. Dieses ursprüngliche Urteil von ihr war aber bereits nach den wenigen Tagen hier nicht mehr ganz so einfach. Hinter den namenlosen Piraten standen nun plötzlich Gesichter voller Leben und Geschichte. Sie war bei der Vorstellung durch Cale sehr freundlich aufgenommen worden, und die Männer waren ihr tatsächlich auf Anhieb sympathisch gewesen. Sie waren zwar allesamt raue Kerle, aber nicht die gefühllosen Mörder und Verbrecher, die sie erwartet hatte.
Unbehaglich wurde Lanea bewusst, dass Jess Morgan bereits auf dem Niedergang war. Ihr Herz schlug schneller, stolperte und fiel, rappelte sich mühsam auf und schlug eilig weiter. Verzweifelt konzentrierte Lanea ihren Blick wieder auf das Meer, um sich zu beruhigen.
Der Bug der Treasure tanzte gerade eine hohe Welle hinauf, stürzte sich auf deren Kamm kopfüber in das folgende Tal, um dort spritzend in das aufgewühlte Wasser einzutauchen, bevor sie sich an die nächste Welle begab.
Lanea spürte dankbar die erfrischende Kühle der Gischt in ihrem Gesicht, als sie sich bereits wieder verspannte.
„Hast du dich eingelebt, Lanea?“ Seine Stimme erklang direkt hinter ihr.
Warum hatte sie nicht bemerkt, dass er bereits so dicht an sie herangetreten war? Langsam wandte sie ihm ihr Gesicht zu.
„So weit, Captain.“ Sein forschender Blick ruhte auf ihr, und sein Mund verzog sich zu einem selbstgefälligen Lächeln, als er ihre Unsicherheit bemerkte. Jess Morgan trat neben Lanea und umfasste mit seinen sehnigen Händen die Reling direkt neben den ihren. Schweigend betrachtete Lanea die ungestümen Wellen und dachte fieberhaft darüber nach, was sie sagen könnte, als sie erneut seine dunkle Stimme vernahm.
„Was treibt eine junge Frau wie dich auf ein Piratenschiff?“ Jess hatte fragend eine Augenbraue gehoben und musterte sie beiläufig von der Seite. Doch Lanea war klar, dass die Antwort auf diese Frage nicht wirklich unbedeutend war. Sie hatte mit einer Frage dieser Art gerechnet und hoffte, dass ihre Antwort plausibel klang.
„Ich bin ein Mischling. Meine Mutter stammt aus dem Volk der Ka’anu, und mein Vater ist ein spanischer Seefahrer, der nie zu meiner Mutter zurückgekehrt ist. Das Volk meiner Mutter hatte nur Verachtung für sie übrig und duldete sie und