Die Schiffe der Waidami. Klara Chilla
sollte, aber ich konnte die ständigen Demütigungen und die Verachtung nicht länger ertragen. Ich hatte nie wirklich einen Platz in dieser Gemeinschaft und habe dann beschlossen, die besonderen Fähigkeiten, die ich von meinen Vorfahren geerbt habe, für mich zu nutzen. Ihr suchtet zum richtigen Zeitpunkt einen Navigator, und ich habe einfach mein Glück versucht.“ Lanea richtete ihren Blick fest auf sein Gesicht. Jess Morgans Augen schienen bis in ihre Seele zu dringen. Lanea räusperte sich unbehaglich. Während der Pirat sie mit seinen Augen festhielt, die so tiefgründig waren wie das Meer um sie herum, bemerkte sie eine plötzliche Veränderung. Lanea schaute in den Himmel, folgte dem Zug der Wolken und besah sich die Segel, bevor sie wieder Jess Morgan ansah.
„Wir haben den Kurs geändert!“
Er legte seinen Kopf leicht auf die Seite und grinste sie offen an, wobei er strahlend weiße Zähne entblößte.
„Ein kleiner Test für den neuen Navigator, verzeih!“ Er legte elegant eine Hand auf sein Herz und verbeugte sich provozierend langsam, während er sie nicht aus den Augen ließ.
Lanea kämpfte erneut gegen ihre eigene Unsicherheit.
„Ich werde heute noch Abschriften meines Kartenmaterials in deine Kabine bringen lassen. Du wirst sie brauchen.“ Er zögerte kurz und seine Augen verengten sich unmerklich. „Wenn du das Material gesichtet hast, werde ich mit dir über unsere nächsten Pläne reden.“ Jess drehte sich mit dem Rücken zur Reling und stützte sich lässig darauf. „Jedem einzelnen dieser Männer dort würde ich blind mein Leben anvertrauen. Für jeden Einzelnen würde ich meines geben, wenn es nötig wäre.“ Er machte eine kurze Pause, um seinen Worten noch mehr Geltung zu verleihen, und Lanea fragte sich, worauf er so plötzlich hinauswollte. Seine Augen schienen immer klarer zu werden, trotzdem konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass er ihr gerade einen winzigen Einblick in seine Abgründe zeigte. Seine Augen hielten ihre wieder fest. Eisblaue Augen, die die Kälte darin spürbar machten. Sein Blick war offen und fest, und sie wurde in seinen Bann gezogen, war gefangen von der Intensität und dem Abgrund dahinter, der sie in seine Tiefen lockte.
„Ich will dir vertrauen wie jedem anderen an Bord auch, Lanea. Meine Frage ist ganz einfach: Kann ich das? Kann ich dir vertrauen so wie dem Rest meiner Crew? – Das Leben meiner Männer kann davon abhängen, ob ich mich in dir täusche oder nicht.“
Lanea schluckte. Ihre gerade gewonnene Selbstsicherheit drohte zu zerbröckeln. Mühsam darauf bedacht, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, antwortete sie: „Ihr könnt mir vertrauen, Captain!“
Jess schaute sie aus seinen unergründlichen Augen an.
“Du hast sicher davon gehört, dass ein Kapitän der Waidami ein einzigartiges Bündnis mit seinem Schiff eingeht?“ Er wartete keine Antwort ab, sondern sprach direkt weiter. „Aufgrund dieser Verbindung habe ich ein besonderes Gespür für das Meer und Wasser an sich entwickelt, das mir Einblicke in eine Welt ermöglicht, die für andere verborgen bleibt. Ich höre das Flüstern der Begeisterung, wenn ein Delfinkörper sanft durch das Wasser streicht. Ich spüre, wie das Wasser den Vertiefungen des Meeresgrundes folgt und Felsen ausweicht. Ich fühle, wie der Tod in der Gestalt eines Hais aus den dunklen Tiefen heraufdrängt, um sich ein Opfer zu suchen. All dies und noch viel mehr höre und fühle ich in jedem einzelnen Augenblick des Tages und der Nacht. - Es gibt keine Möglichkeit des Entrinnens für mich.“
Jess Morgan lächelte sie schief an, und ihr Herz schlug heftig in ihrem Brustkorb.
„Ich spüre die gewaltigen Kräfte des Meeres, die Strömungen, die unser Schiff mit einem leichten Schlag zerschmettern könnten.“
Er griff unvermittelt nach Laneas Hand, hielt sie fest in seiner und presste dann beide auf das Schanzkleid. Lanea wurde von solcher Wucht gepackt, dass sie zuerst zurückschrak, aber Jess hielt sie mit eiserner Hand fest. Die Empfindungen schwappten über sie hinweg, als hätte er sie gepackt und in das Wasser geworfen. Doch sie stand immer noch neben ihm. Die Eiskristalle in seinen Augen funkelten sie unbewegt an. Lanea schnappte nach Luft, als eine Welle voller Eindrücke über sie brach und mit unbeugsamer Gewalt in ihr Bewusstsein drang. Sie wurde in einen Strudel fortgerissen, immer tiefer hinein in das Leben und Sterben des umgebenden Gewässers. Sie spürte das Leben und den Tod, der auf dem Meeresgrund lauerte, und sah Schönheit von bisher ihr unbekannten Farben. Angst war ihre erste Reaktion, die augenblicklich schwand und sich in schlichtes Staunen über die Einzigartigkeit dieser Fähigkeit wandelte. Hätte sie es nur vermocht, hätte Lanea die Arme begeistert ausgebreitet und sich in dieser Empfindung voller Freude gedreht wie ein Kind, das im Regen tanzt.
Plötzlich ebbte die Brandung der Empfindungen ab. Jess hatte seine Hand fortgenommen und ihre Finger sanft von dem Schanzkleid gelöst, in das sie sich unbemerkt immer fester gekrallt hatte. Sie riss den Mund auf, um ihre Lungen mit Luft vollzusaugen, als wäre sie tatsächlich zu lange unter Wasser getaucht. Lanea taumelte, wurde jedoch augenblicklich von Jess festgehalten.
„Ich kenne den Weg, den das Wasser nimmt.“ Ein überhebliches Lächeln umspielte seine Lippen, als er sie losließ und geschmeidig zur Seite trat. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck beobachtete er, wie eine hoch aufspritzende Welle sich über dem Schanzkleid brach und Lanea unvermittelt nass spritzte.
„Ich spüre alles, was mit Wasser in meiner Umgebung zusammenhängt. Selbst der Mensch besteht zu einem großen Teil aus Wasser.“ Mit einer weit ausholenden Geste deutete er auf die Männer an Deck.
Jess beugte sich verschwörerisch vor, und Spott saß in seinen Mundwinkeln. Er grinste sie an, doch seine Augen blickten kalt. „Ich spüre, dass es bei dir anders ist – du bist nicht das, was du vorgibst zu sein …“ Captain Jess Morgan machte eine Pause und brachte seinen Mund direkt neben ihr Ohr.
„Ich hoffe, du enttäuschst mein Vertrauen nicht!“
Abrupt richtete er sich zu seiner vollen Größe auf, wandte sich um und ließ Lanea beklommen zurück.
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