Homunkulus Rex. S. G. Felix
Warten auf den Klon
Mehr als ein Monat war nun vergangen, seit Robert Nicole vergeblich in sein Vorhaben einspannen wollte. Sein Klon war bereits in Produktion, und er wachte jeden Morgen mit dem Gefühl auf, ein Schwerverbrecher zu sein. Doch es gab bislang keinerlei Anzeichen, dass irgendetwas schiefgegangen sein könnte. Hendrik, sein Kontaktmann, hatte ihm gesagt, es könne nicht Wochen, sondern auch Monate dauern, bis sein Klon fertig wäre. Alles war also noch im Lot.
Robert ging daher ganz normal zur Arbeit, schwatzte mit seinen Kollegen, ließ sich von seinem Vorgesetzten (einer Roboter-KI) über Verbesserungsmöglichkeiten zur Arbeitsoptimierung belehren, und einmal die Woche traf er sich mit Nicole, mit der er nur noch über Belangloses redete. Innerlich hatte er sie bereits von sich gestoßen. Doch musste er weiterhin gegenüber seinem gesamten sozialen Umfeld den Normalen spielen, damit niemand Verdacht schöpfte. Die ganzen ermüdenden Dinge, die ihm seine Bekannten, Kollegen und Freunde erzählten, würde sich bald sein Klon anhören müssen und nicht mehr er selbst. Bei diesem Gedanken musste er sich ein Grinsen verkneifen.
Die Tage gingen vorüber. Robert war gerade auf dem Nachhauseweg und schaute sich im Schaufenster einer Immobilienfirma täuschend echt animierte 3D-Videos über die neuesten Luxusappartements in mediterraner Lage an. Plötzlich trat jemand neben ihn, ohne ihn anzusehen.
»Ich bin nur gekommen, um Ihnen zu sagen, dass alles nach Plan verläuft. Sie müssen aber noch ein wenig länger Geduld haben. Ihre 'Bestellung' braucht etwas länger, um zu reifen.« Es war Hendrik.
Robert drehte sich zu ihm um, doch da war Hendrik schon wieder in der Menge von Menschen auf dem Bürgersteig untergetaucht. Wie aus einem Reflex heraus wollte Robert ihm hinterher, aber zum Glück siegte die Vernunft, und er drehte sich wieder zum Schaufenster, um bloß nicht aufzufallen. Innerlich war er bis zum Zerreißen gespannt. Sein Herz pochte wild in seiner Brust. Es war eine Mischung aus Vorfreude auf sein neues Leben und nackter Angst davor, entdeckt zu werden. Eine Mischung, deren Adrenalinschub ihm auf eine für ihn nicht erklärbare Weise gefiel.
Die Tage vergingen. Bloß nicht auffallen - das war stets sein Leitmotiv, an das er sich verkrampft hielt. Kurz vor dem Ziel durfte er sich keine Fehler leisten. Eines Tages dann, an einem Freitag, etwa drei Wochen nach dem Zusammentreffen am Schaufenster, stieß ihn einer seiner Arbeitskollegen während seiner Mittagspause an. Er war ein einschüchternd wirkender Hüne, aber ein netter Kerl, der sich immer um guten Kontakt zu seinen Kollegen bemühte.
»He Robert, alles klar mit dir? Du wirkst in letzter Zeit irgendwie abwesend.«
Erwischt, dachte Robert erschrocken. Hatte er nicht alles getan, um möglichst nicht aufzufallen? Hatte er es vielleicht dabei übertrieben? Nach außen gab er sich locker. »Was willst du denn damit sagen?«
»Na ja, du bist irgendwie so still und in dich gekehrt. Probleme?«
»Wenn ich irgendein Problem hätte, dann glaub mir, hätte mich unsere allseits geschätzte und omnipräsente künstliche Betriebspsychologen-KI schon darauf aufmerksam gemacht.« Eine schlagfertige Antwort. Die Roboterpsychologin hatte tatsächlich nichts gemerkt - bis jetzt. Und alle seine Kollegen hassten sie.
»Hast du auch wieder recht. Dem Miststück entgeht nichts. Ich habe es ja nur gut gemeint«, beschwichtigte sein Kollege schnell.
»Schon gut. Ich überlege nur, wo ich meinen Jahresurlaub verbringe - das beschäftigt mich schon seit Wochen. Die Ziele, zu denen man fliegen kann, werden für unsereins ja immer weniger.«
»Und die Beschränkungen, denen man dort jeweils unterliegt, werden immer mehr. Ich weiß genau, was du meinst, Robert. Ich glaube, ich werde dieses Jahr zuhause bleiben und mich ein wenig im VR-Horizon amüsieren.« Das VR-Horizon war eine Unterhaltungseinrichtung, die komplexe virtuelle Realitäten erschuf. Meist wurde diese für sexuelle Erfahrungen genutzt, weswegen sein Kollege auch entsprechend dümmlich grinste, als er daran dachte.
Wie armselig, dachte Robert. Sein Wunsch, alles stehen und liegenzulassen, wurde drängender. Raus aus dieser künstlichen Hölle!
Während seine Kollegen den Rest des Tages über die neuesten Angebote der VR-Horizon referierten und ihre nächsten virtuellen Sexabenteuer planten, war Robert nur froh, dass er es geschafft hatte, erfolgreich von sich abzulenken. Er versuchte, sich sein neues Leben vorzustellen. Wie würde sich Kamtschatka anfühlen? Er hatte Bilder und Filmaufnahmen gesehen. Aber wie würde es sich anfühlen? Er stellte sich die unberührte Natur vor, das raue Klima, die frische Luft, unbebaute Flächen, so weit das Auge reichte. Es musste das Paradies sein.
Am Abend schlenderte er nach Hause. So gut hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Er würde etwas tun, das nur ganz wenige Menschen in Anspruch nehmen konnten. Sein Klon war seine Fahrkarte in die Freiheit.
Im dichten Gedränge auf seinem Nachhauseweg fasste ihn jemand kurz von hinten an den Arm und flüsterte ihm zu: »Ihre 'Bestellung' ist fertig. Kommen Sie heute Abend um elf Uhr zu unserem letzten Treffpunkt. Seien Sie pünktlich!« Dann ließ sich der Mann, dem die Stimme gehörte, zurückfallen und verschwand in der Menge. Robert ging weiter und rang um seine Fassung. Er hätte einen Luftsprung machen können. Endlich ging es los. Zugleich übermannte ihn furchtbare Angst. Und das gefiel ihm.
Kapitel 4: Robert2 = ?
Mit dem letzten Treffpunkt war der Keller des Restaurants gemeint, in dem Robert die Erschaffung seines Klons in Auftrag gegeben hatte. Keine Zeit mehr zum Nachdenken. Keine Zeit, sich auf irgendetwas vorzubereiten. Von nun an übernahm die Klonorganisation die Regie.
Robert betrat das Restaurant mit einem flauen Gefühl im Magen. Jemand dirigierte ihn durch eine Tür, die über einen langen Gang - vorbei an den Gästetoiletten - in den Keller führte. Er wurde in einen kleinen Vorratsraum geleitet. Als er ihn betrat, schloss sich hinter ihm unmittelbar die Tür, was ihn erschreckte. Im spärlichen Licht machte er drei vermummte Personen aus. Hendrik war unmaskiert und begrüßte ihn freundlich.
»Schon aufgeregt?«, fragte er Robert lächelnd.
»Sie haben ja keine Vorstellung! Für einen Moment dachte ich, dass ich in der Falle sitze und gleich die Handschellen klicken. Ist alles in Ordnung?«, fragte Robert mit Blick auf die vermummten Gestalten.
»Ja, es ist alles in Ordnung. Das sind alles Leute, denen ich mein Leben anvertrauen würde. Sie waren maßgeblich an der Herstellung Ihres Klons beteiligt. Zu Ihrem eigenen und zu deren Schutz, Herr Mester, sollten die Jungs von Ihnen nicht erkannt werden, für den Fall der Fälle.«
Er meint, wenn sie uns erwischen. Gott, ich bin so aufgeregt, ich könnte im Strahl kotzen! Robert fuhr sich nervös durchs Haar. »Wo ist er?« Er meinte den Klon.
»Er ist hier. Und er ist perfekt geworden. Kommen Sie, ich zeige ihn Ihnen.« Hendriks Leute schoben zwei große Regale mit Lebensmitteln auseinander. Dahinter stand eine Liege. Darauf lag ein menschlicher Körper, der von einer undurchsichtigen weißen Plastikdecke bedeckt war. Robert erschrak erneut. Die Decke erinnerte ihn an ein Leichensack. Und er kam sich in diesem kühlen dunklen Kellerraum vor wie in einer Leichenhalle. Erneut überkam ihn ein vages Gefühl, einen schweren Fehler begangen zu haben.
»Kann ich ihn mir ansehen?« Robert blieb buchstäblich die Spucke weg. Seine Zunge klebte an seinem Gaumen.
»Natürlich. Er gehört ja Ihnen. Ich bin sicher, Sie werden zufrieden sein«, sagte Hendrik und trat einen Schritt zurück.
Robert näherte sich der Gestalt. Er streckte seinen Arm nach der Decke aus, um sie vom Gesicht zu ziehen. Für einen kurzen Moment stockte er in seiner Bewegung, weil er sich vorkam, als würde er unter sein eigenes Leichentuch fassen. Ein eiskalter Schauer fuhr ihm über den Rücken. Dann fasste er sich ein Herz und legte das Gesicht seines Klons frei. Und was er sah, war... er. Er sah sich selbst schlafend auf einer Liege im Keller eines Restaurants. Die Augen waren geschlossen. Aber es war unverkennbar eine eins zu eins Kopie seiner selbst, die er vor sich hatte. Er legte den ganzen Körper frei. Sein Klon hatte ein schlichtes Nachthemd an. Arme, Beine, Hände und