Holzperlenspiel. Irene Dorfner
meinen, Bruder Benedikt wurde ausgeraubt? Das kann ich mir nicht vorstellen, denn wir haben selten irgendwelche Papiere oder eine Brieftasche bei uns, und wenn, dann ist nur wenig Bargeld drin – wie gesagt, wir sind ein Bettelorden. Unser Habit hat keine Taschen und wenn wir etwas vorhaben, nehmen wir eine Tasche mit: für das Gesangbuch, die Bibel, Taschentücher und ein paar Euro. Aber Bruder Benedikts Tasche ist hier, er hatte sie nicht bei sich.“ Bruder Siegmund stand in der offenen Tür und setzte keinen Fuß in das Zimmer, sondern beugte sich so weit wie möglich vor – er drohte, jeden Moment aus seinen Latschen zu kippen, während er auf die Ledertasche am Stuhl zeigte.
„Für mich persönlich sieht das nicht normal aus, denn auch als Geistlicher in einem Kloster besitzt man doch bestimmt irgendwelche persönlichen Dinge. Zumindest Bücher, vielleicht ein Adressbuch, Fotos, irgendwas, was einem lieb und teuer ist. Fuchs soll sich das genauer ansehen, wenn er in der Basilika fertig ist.“
Leo nahm sein Handy und wählte die Nummer von Fuchs, was von Bruder Siegmund mit einem strengen Blick beobachtet wurde.
„Handys sind bei uns nicht erlaubt,“ bemerkte er und schüttelte den Kopf. Leo war das herzlich egal und telefonierte unbeeindruckt weiter. Er hatte hier seine Arbeit zu machen und dachte nicht daran, sich irgendwie einschränken zu lassen. Das hier war schließlich nicht der Vatikan, wo eigene Gesetze galten.
„Wer hat hier das Sagen? Gibt es bei Ihnen so etwas wie einen Abt?“
„Bei uns ist das der Guardian, er ist der Hüter der Gemeinschaft und achtet darauf, dass alles rund läuft, schließlich gibt es auch bei uns Probleme. Dem Guardian zur Seite steht der Vikar, er ist sein Stellvertreter.“
Nach dieser Erklärung war Leo auch nicht wirklich schlauer, denn wie die hier alle betitelt wurden, war ihm ebenfalls egal.
„Kann ich mit dem Guardian oder dessen Stellvertreter sprechen?“, sagte Leo daher etwas genervt.
„Selbstverständlich, wenn Sie mir folgen würden,“ sagte Bruder Siegmund und ging auch schon davon. Zaghaft klopfte er an eine schlichte Tür auf dem gleichen Flur, nur gefühlte tausend Meter entfernt. Diese Gänge hier waren sehr verwinkelt und sahen aufgrund ihrer Schlichtheit endlos lang aus. Bruder Siegmund öffnete die Tür und bat die Beamten, einen Moment zu warten – nach einigen Minuten erschien er wieder.
„Bitte, Bruder Paul erwartet Sie.“ Bruder Siegmund trat nicht mit ein, sondern schloss die Tür von außen.
Ein großer, schlanker Mann Ende fünfzig trat auf die beiden zu.
„Ich heiße Sie trotz der schrecklichen Umstände bei uns willkommen, mein Name ist Bruder Paul, ich bin hier der Guardian, nehmen Sie bitte Platz. Wie ich eben erst erfahren habe, wurde Bruder Benedikt tot in der Basilika aufgefunden?“ Bruder Paul sprach sehr ruhig, aber man konnte ihm ansehen, dass er von dem Tod des Mitbruders sehr bestürzt war.
„Nach den ersten Erkenntnissen können wir davon ausgehen, dass es sich um Mord handelt, Einzelheiten erfahren wir nach der Obduktion.“ Viktoria machte eine kurze Pause, denn sie erwartete Einwände gegen die Vorgehensweise, aber Bruder Paul sagte nichts dazu. „Wir haben das Zimmer des Toten bereits in Augenschein genommen, die Spurensicherung wird es sich später genauer vornehmen.“
„Ich kann Ihnen versichern, dass Sie keine Spuren finden werden, denn Fremde haben zu unserem Kloster keinen Zugang, ohne unser Wissen kommt hier niemand rein. Wir vermeiden es auch so gut wie möglich, Fremde einzulassen, das geschieht nur im äußersten Notfall – so wie heute.“ Er blätterte in einem dicken, schwarzen Terminkalender. „Seit 8 Wochen war kein Fremder mehr in unserem Kloster.“
„Sie schreiben die Besuche tatsächlich auf?“
„Natürlich. Das sind die Eintragungen der Pforte, die ich wöchentlich aktualisiere. Auch wir müssen über alles Buch führen, was hier innerhalb der Klostermauern passiert.“
„Also keine Fremden in den letzten 8 Wochen? Auch keine Bekannten? Freunde? Familie?“
„Nein, niemand. Diese Spur können Sie also streichen. Und dass irgendein Mitbruder mit diesem schrecklichen Verbrechen zu tun hat, schließe ich kategorisch aus. Sie sehen also, dass dieses schreckliche Verbrechen nichts mit unserem Kloster zu tun haben kann. Aber Sie müssen Ihre Arbeit machen, das verstehe ich. Ich werde der Pforte die Nachricht weitergeben, dass Ihren Kollegen Zugang gewährt wird.“
„Das ist sehr freundlich von Ihnen. Wir vermissen persönliche Dinge des Toten. Papiere, Geldbeutel oder ähnliches.“
„Das konnten Sie auch nicht finden, denn das befindet sich bei mir im Schrank. Bruder Benedikt hat mich nach seiner Ankunft gebeten, seine persönlichen Dinge aufzubewahren, da er befürchtete, beides zu verbummeln. Ja, Bruder Benedikt war in der Tat sehr schusselig.“ Bruder Paul stand auf, öffnete einen Schrank und übergab den Beamten eine verschlissene Brieftasche, in der sich sein Personalausweis, eine Krankenversichertenkarte und ein Bahnticket befanden. Außerdem bekamen sie einen kleinen Lederbeutel überreicht, in dem vierzig Euro in Scheinen und etwas Kleingeld waren. Bruder Paul sah zu, wie Leo die wenigen Habseligkeiten auf den Tisch legte und bemerkte dessen Verwunderung.
„Wir Kapuziner haben uns der Armut verschrieben und leben und arbeiten nur zum Wohle unserer Mitmenschen. Das, was Bruder Benedikt besaß, reichte aus, um wieder nach Hause zu kommen, hier bei uns lebte er natürlich unentgeltlich.“
„Es wurden schon Morde für weniger Euros begangen,“ sagte Leo. „Es gibt nichts, was es nicht gibt.“
Bruder Paul sah Leo in die Augen.
„Ich beneide Sie nicht um Ihre Arbeit, die tagtäglich schreckliche Dinge mit sich bringt, für mich wäre das nichts.“
„Mir geht es umgekehrt genauso, denn ich würde auch niemals ihren Job machen wollen. Um nichts in der Welt würde ich in einem Kloster leben wollen und mich dem Zölibat unterwerfen. Schon allein die Vorstellung ist für mich grausam. Und die Kirche und das Drumherum ist für mich ein rotes Tuch.“ Viktoria glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen – hatte Leo das eben tatsächlich gesagt? Sie war es gewöhnt, dass Leo immer und überall ehrlich seine Meinung sagte, aber das war nun doch etwas zu viel. Noch bevor sie irgendwie reagieren konnte, fuhr Leo fort.
„Was können Sie uns über Bruder Benedikt sagen? Was war er für ein Mensch?“
„Bruder Benedikt war erst seit einer Woche bei uns und pflegte meinem Wissen nach keine tieferen persönlichen Kontakte hier in Altötting. Aber bitte, Genaueres weiß ich natürlich nicht. Er war ein sehr angenehmer, ruhiger und sehr loyaler Mensch mit den besten Referenzen.“
Bruder Paul schien wegen Leos Offenheit keineswegs gekränkt. Er nahm einen Zettel aus der Schublade.
„Das ist die Adresse des Heimatklosters in Wiener Neustadt. Wenden Sie sich vertrauensvoll an Bruder Franz, er kann Ihnen sehr viel mehr über den Verstorbenen berichten, ich kannte ihn leider nur sehr flüchtig.“
„Diese Holzperle haben wir in der Hand des Toten gefunden.“
Bruder Paul nahm das Tütchen und sah sich den Inhalt sehr genau an.
„In seiner Hand? Das ist merkwürdig, vielleicht ist sein Rosenkranz kaputtgegangen, denn diese Holzperle sieht aus wie die eines Rosenkranzes.“
„Nein, wir haben seinen eigenen Rosenkranz in seinem Zimmer gefunden und in der Basilika waren keine weiteren Holzperlen zu finden.“
„Seltsam. Ich bin mir fast sicher, dass diese Holzperle zu einem Rosenkranz gehört. Auch wir hier im Kloster verwenden schlichte Rosenkränze aus Holz, ich persönlich halte nichts von dem neumodischen Schnickschnack, aus dem die Rosenkränze heute hergestellt werden. Aber das ist natürlich meine persönliche Meinung, das muss jeder für sich entscheiden. Das hier ist mein Rosenkranz, und wie Sie sehen, gleichen sich die Holzperlen beinahe.“
Bruder Paul hielt den Beamten beides hin und tatsächlich – die Perlen waren tatsächlich fast identisch.
„Und bevor Sie jetzt auf die wildesten