Holzperlenspiel. Irene Dorfner
ihr Bild in der Zeitung und vielleicht weiß jemand, wo wir Frau Silberstein finden können.“ Leo war überaus euphorisch, denn es ging endlich voran. Für seine Begriffe war es ein Klacks, diese Frau ausfindig zu machen. Er drängte zum Gehen, denn die Tatsache, dass es im Kapuziner-Kloster noch einen Bruder Benedikt gibt, war für ihn von großer Wichtigkeit, das bewies ihm sein nervöser Magen, der sich seit dieser Neuigkeit ständig bemerkbar machte.
„Werner und Hans, ihr beiden sucht nach dieser Frau. Ich fahre mit Leo ins Kapuziner-Kloster.“ Viktoria hatte natürlich bemerkt, wie nervös und aufgeregt Leo war. Sie selbst empfand das Gespräch mit diesem zweiten Bruder Benedikt als nicht ganz so wichtig – lag sie damit falsch? Hatte Leo diesmal das bessere Gespür? Sie musste lächeln, als sie in den Wagen stiegen, denn sie stellte immer wieder fest, dass sie beide sich sehr gut ergänzten. Sie war eher der Kopfmensch und für sie zählten hauptsächlich Tatsachen und Fakten, während Leo eher der Bauch- und Gefühlsmensch war. Und er sprach Dinge gerne direkt an, nannte sie beim Namen, sie tat sich damit sehr schwer. Nach ihrer bescheuerten Kur in Bad Mergentheim hatte sie sich wieder sehr gut hier eingelebt und es ging ihr gut. Im Nachhinein betrachtet war diese Kur absolut notwendig und auch sehr hilfreich, was sie aber niemals offen zugeben würde. Sie hatte nicht mehr diese schrecklichen Alpträume, die ihr den Schlaf raubten. Auch war sie wieder etwas geduldiger und aufmerksamer. Sie konnte sogar ab und zu wieder herzhaft lachen. Die Narbe machte ihr keine Probleme mehr und es gab Tage, da dachte sie nicht einmal an die ganze Geschichte, die ihr im Landratsamt Altötting widerfahren war. Bis auf diese verdammte Raucherei war ihr nichts geblieben, aber darum würde sie sich auch noch kümmern.
Sie parkten ihren Wagen in der Burghauser Straße und gingen die wenigen Meter zu Fuß zum Kapuziner-Kloster, das sich direkt gegenüber der Gnadenkapelle und neben der Magdalenenkirche befand. Auch jetzt mussten sie sich wieder durch jede Menge Wallfahrer und Besuchermassen kämpfen, die den Kapellplatz und das weitere Umfeld bevölkerten. Instinktiv hielten sie auch nach dieser Frau Silberstein Ausschau, aber sie sahen niemanden, der auch nur annähernd nach einer Obdachlosen aussah. Wurden die hier absichtlich ferngehalten, um die Gläubigen nicht zu stören?
An der Pforte des Kapuziner-Klosters kam ihnen Bruder Andreas bereits entgegen, offenbar hatte er nach Ihnen Ausschau gehalten und auf sie gewartet.
„Ich habe Bruder Siegmund bereits Bescheid gegeben, er ist jeden Augenblick da und wird sie dann zu Bruder Benedikt begleiten.“
„Vielen Dank, sehr freundlich.“
Sie mussten tatsächlich nicht lange warten. Bruder Siegmund öffnete mit hochrotem Kopf die Tür, er war vollkommen außer Atem. Er war offenbar bei der Gartenarbeit gewesen, denn an seinen Händen waren noch Reste von Erde, die er nun an dem Tuch, das an seinem Strickgürtel eingeklemmt war, abwischte.
„Entschuldigen Sie bitte, aber ich dachte, ich nutze die Zeit bis zu Ihrem Eintreffen. Der Herbst war heuer sehr gnädig und wir können immer noch Gemüse aus dem Garten ernten. Heute Abend gibt es eine frische Gemüsesuppe und ich wurde gebeten, die letzten Karotten und Kräuter zu ernten. Aber was erzähle ich denn, Sie sind nicht wegen meinem Gemüse und den Kräutern hier. Folgen Sie mir bitte.“
Ohne Bruder Siegmunds Hilfe wären sie in diesem Labyrinth verloren gewesen. Auch in diesem Teil des Klosters – oder war es das Gleiche? – war es sehr sauber und duster. Der Geruch der Reinigungs- und Desinfektionsmittel vermischt mit dem Geruch des Alten in Form von Möbeln, Bildern und geschnitzten Figuren setzten Viktoria ganz ordentlich zu. Leo hingegen war fasziniert von den alten Kunstwerken und der Architektur des alten Gemäuers. Was diese Mauern schon alles erlebt hatten? Trotz seiner Faszination blieb er dem Kloster selbst gegenüber ablehnend und skeptisch.
„Wir befinden uns hier in dem Teil des Klosters, in dem die alten Glaubensbrüder ihren wohlverdienten Ruhestand verbringen. Die Zellen sind etwas komfortabler und haben die schönste Aussicht von allen. Sie werden sehen, von den Zellen aus kann man direkt auf unseren wunderschönen Blumengarten blicken!“ Bruder Siegmund schwärmte geradezu. Man konnte fühlen, dass er durch und durch aus voller Überzeugung Mitglied dieser Glaubensgemeinschaft war. Zaghaft klopfte er an die Tür und sie traten ein. Tatsächlich war dieser Raum geräumiger und einladender als die Zelle des Getöteten. Das Bett, der Schrank, der Tisch und der Stuhl waren zwar identisch, aber hier lag ein dicker, dunkelbrauner Teppich am Boden, an der Wand war ein prallvolles Bücherregal angebracht und am Fenster stand ein schwerer, dunkelblauer Sessel. Die beiden Polizisten hatten den alten Mann erst nicht bemerkt, der beinahe in dem Sessel unterging.
„Gott zum Gruße. Kommen Sie bitte zu mir, meine Beine wollen heute nicht. Ich leide unter Rheuma, das mich heute besonders plagt. Aber ich möchte nicht jammern, das ist nun mal das Los des Alters.“
Viktoria und Leo begrüßten den alten Mann, dessen Körper zwar sehr gebrechlich schien, aber dessen Augen hellwach waren. Der Sessel stand so am Fenster, dass Bruder Benedikt tatsächlich direkt auf den gepflegten, üppig blühenden Garten blicken konnte. Es dämmerte bereits, trotzdem leuchteten die Farben der Herbstblumen in ihrer ganzen Pracht. Am Fensterbrett lagen ein Buch und eine Lupe, offenbar hatte Bruder Benedikt trotz seiner starken Brille die Lupe zum Lesen nötig. Bruder Benedikt bemerkte die Blicke der Beamten.
„Ohne diese Lupe geht es überhaupt nicht mehr, aber was soll ich machen? Nicht nur der Körper plagt mich, auch die Augen werden immer schlechter. Der Arzt sagt, dass man das vielleicht mit einer Operation wieder hinbekommt, aber mit 84 Jahren lasse ich nicht mehr an mir herumschnippeln – nachher ist es noch schlechter und ich sehe überhaupt nichts mehr. Nein, es ist, wie es ist, und das ist gut so. Jetzt bin ich aber neugierig, was die Polizei von mir möchte, denn aus der wirren Geschichte von Bruder Siegmund bin ich nicht schlau geworden. Er hat wie ein Wasserfall geredet und ich wollte ihn in seiner Begeisterung nicht unterbrechen.“
„Sie haben mitbekommen, was mit dem anderen Bruder Benedikt aus Wiener Neustadt passiert ist?“ Er nickte nur und bekreuzigte sich. „Wir müssen auch der Möglichkeit nachgehen, ob es sich eventuell um eine Verwechslung handelte und eigentlich Sie gemeint waren.“
Bruder Benedikt lachte nur und schüttelte den Kopf.
„Du meine Güte, was haben Sie denn für eine blühende Phantasie? Nein, ich war bestimmt nicht gemeint. Bereits seit vielen Jahren bin ich nur noch hier im Kloster, selbst den Gottesdienst kann ich nur noch an sehr guten Tagen besuchen, ansonsten komme ich nicht mehr raus und bin auch leider nicht mehr im Kontakt mit anderen Menschen, nur noch mit meinen Glaubensbrüdern, die sich rührend um mich kümmern. Vor allem Bruder Siegmund besucht mich häufig und ist mir in den letzten Jahren ein sehr guter Freund geworden. Er hat zwar ein einfaches Gemüt, aber mit ihm und seiner Unbefangenheit lässt sich Vieles leichter ertragen. Ich genieße die Zeit mit ihm sehr. Er liest mir aus Kriminalromanen vor, die er eigens für unsere gemeinsame Zeit aus der örtlichen Bücherei ausleiht. Eigentlich interessiere ich mich nicht für dieses Genre, aber ich liebe Bruder Siegmunds Begeisterung dafür.“
„Trotzdem müssen wir die Möglichkeit einer Verwechslung in Betracht ziehen. Sagt Ihnen der Name Babette Silberstein etwas?“
Das fröhliche Lächeln war sofort aus Bruder Benedikts Gesicht verschwunden – er kannte die Frau!
„Selbstverständlich kenne ich Schwester Babette. Es ist schon viele Jahre her, dass ich mit ihr zu tun hatte. Sie ist Krankenschwester am hiesigen Krankenhaus und wir hatten ab und an beruflich miteinander zu tun. Eine sehr nette, freundliche und hilfsbereite Frau, die leider wegen ihrer Naivität oft ausgenutzt wurde und sehr darunter litt. Trotz allem hat sie sich vor allem für Frauen und Kinder immer mit vollem Herzen eingesetzt. Sie hat oft den Gottesdienst besucht und ich habe ihr einige Male die Beichte abgenommen. Was ist mit Schwester Babette? Ist ihr etwas zugestoßen?“
„Keine Sorge, bislang gehen wir nur einer Vermutung nach. Frau Silberstein hat offenbar mehrfach an der Pforte nach Ihnen gefragt und wollte sie sprechen.“
Bruder Benedikt rief leise seinen Mitbruder Siegmund, der vor der Tür gewartet hatte.
„Du hast mich gerufen?“
„Ist es wahr, dass eine Frau mehrfach nach mir verlangt hat?“
„Das