Wenn die Seelen Trauer tragen. Rose Hardt
er sein Haupt zum Dank kurz beugte. Dann hakte er sich bei ihr unter und führte sie galant zum Restaurant.
Im Laufe des Abends ersetzten ernsthafte Gespräche das anfängliche Wortgeplänkel, und erst nachdem sie ihn als Mensch einschätzen konnte, willigte sie, auf ein Glas Wein, in seiner Wohnung ein.
Gegen Mitternacht waren sie in seiner Penthousewohnung angelangt. Es war eine traumhafte Immobilie mit einer großen Dachterrasse von der man eine herrliche Aussicht über die gesamte Bucht, bis hinunter zum Yachthafen hatte. Während er sich um den Wein kümmerte, genoss sie die Aussicht. Staunend, wie ein kleines Mädchen das zum ersten Mal den Horizont entdeckte, trat sie zur gläsernen Balustrade vor, um die Schönheit in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Ein Ausblick, der in Verbindung mit Alkohol, noch um einiges imposanter wirkte – ja sogar Einfluss auf ihre mentale Stimmung nahm. Hier würde ich gerne leben wollen, dachte sie, diese Aussicht würde mich, bei meiner kreativen Arbeit, mehr als nur inspirieren – sie würde meiner Fantasie geradezu Flügel verleihen. Ein kleiner Seufzer des Bedauerns kam leise über ihre Lippen und mit ihm erwuchs eine leichte Melancholie. – Doch da lauerte noch ein anderer Gedanke der sich wieder langsam durch die Hintertür einschlich. Wer war der Tote in ihrem Vorgarten? Könnte der Tote wirklich der Mann gewesen sein, der bei ihren letzten Lesungen zugegen war? Sie schloss für einen Moment die Augen und versuchte krampfhaft beide Gesichter nebeneinander zu bringen – Ja, die Ähnlichkeit schien jedenfalls frappierend, mal davon abgesehen, dass der Tod sein Gesicht entstellt hatte.
Mittlerweile war Mister Weinberg neben sie getreten.
„Na, beeindruckt?“ fragte er und überreichte ihr ein Glas Rotwein.
Ihren Gedanken jäh entrissen, blickte sie ihn nur erschrocken an.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er mit besorgter Miene.
„Ja, ja, alles in Ordnung“, antwortete sie abrupt, wobei ihr Blick wieder in die Ferne schweifte.
„Ganz sicher?“, hakte er nach.
Sie nickte nur.
„Übrigens, ich bin Clemens, wenn es der Nora recht ist?“, dabei stieß er mit seinem Glas gegen das Ihrige.
Sie lächelte und merkte, dass es ihm wieder gelungen war sie ihren Gedanken zu entreißen. „Einverstanden“, sagte sie „aber nur wenn du mir nicht wieder mit deinem King-Size-Bett kommst?“
„Versprochen! … An was denkst du?“, fragte er neugierig.
„Hm … nichts! Aber sag, warum deine Bemühungen mich kennenzulernen? Gibt es einen bestimmten Grund?“
Er lächelte, „der Grund ist eine schöne, attraktive Frau! Ist das nicht ausreichend genug?“
Verlegen senkte sie ihren Blick, „danke für das Kompliment, aber das alleine ist es doch nicht …“
„Stimmt! Und wenn ich ehrlich sein soll, hat es einen ganz trivialen Grund“, er stützte beide Arme auf die Balustrade, dann nahm er tief Luft und sagte: „Weißt du, ich lebe seit einigen Jahren hier, und ich lebe gerne hier, berufsbedingt lerne ich viele Menschen aus unterschiedlichen Nationen kennen, die Unterhaltung ist fast immer in englischer Sprache. Doch dann kommt es vor, dass mich das Heimweh nach Deutschland packt“, verlegen senkte er kurz seinen Blick, „und da habe ich dich gesehen und gehört, dass du Deutsche bist“, er lächelte, „ja, du hattest passgenau diesen Moment erwischt, wo das Heimweh mich gepackt hatte, und da ging es einfach mit mir durch … ich musste dich kennenlernen! Kannst du das verstehen?“
Mit einem verstehenden Lächeln, nickte sie ihm zu. Eine Antwort, die ihm, wegen seiner Ehrlichkeit, Sympathiepunkte einbrachte.
Danach lauschten beide, gedankenverloren in die Stille der Nacht.
Nora war es, die zuerst wieder aus der Unterwelt ihrer Gedanken aufgetaucht war, denn die Erfahrung hatte sie gelehrt, nicht zu lange dort zu verweilen, denn das würde jede weitere Kommunikation unmöglich machen. Sie sah zum Himmel und sagte: „Es ist kälter geworden, die Nebelschicht des Tages hat sich aufgelöst, auch einige Sterne sind zu sehen … siehst du“, dabei verwies sie mit ihrem Glas Richtung Himmel, „sogar der Vollmond kann sein Spiegelbild auf der Meeresoberfläche bestaunen“, fügte sie mit einem milden Lächeln an.
Clemens folgte stumm ihrem Hinweis und nippte nachdenklich an seinem Glas.
„Ein Anblick der mich an meine letzte Liebe erinnert“, bemerkte Nora leise.
„Ja, ja … die Liebe!“, seufzte Clemens, und so wie er es sagte, schien er noch in seiner Gedankenwelt unterwegs zu sein.
Kurz schnippte Nora mit dem Finger gegen ihr Glas, der zarte Klang ließ ihn aufblicken.
Für ihren dezenten Hinweis bedankte er sich mit einem Lächeln, dann kam er etwas näher an sie heran, sodass sie seine Körperwärme spüren konnte. „Möchtest du über deine letzte Liebe reden?“, fragte er, wobei er zärtlich mit seinem Zeigefinger über ihren Arm strich.
Ihr Blick folgte seinem Zeigefinger – wie zärtlich er dich in das Thema zwingt, dachte sie. Plötzlich – sie konnte gar nicht anders – musste sie ihn ansehen. Es war, als ob sein Blick nur darauf gewartet hätte. Sie spürte, wie dieser Blick kurz ihr Herz berührte. Die Verkapselung, die sich seit ihrer letzten Liebe um ihr Herz gebildet hatte, schien einen Riss bekommen zu haben. Einen zeitlosen Augenblick waren ihre Blicke ineinander versunken – wobei beiden die Gefährlichkeit der Intensität ihrer Blicke bewusst war. Ob sie darüber glücklich sein sollte, vermochte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu sagen. Verlegen und mit leicht geröteten Wangen schlug sie die Augenlider nieder.
Erst nach einem kaum hörbaren Seufzer erzählte sie ihre Geschichte, die ihr Herz nach der langen Zeit endlich freigeben konnte. „Nun, vor einigen Jahren begegnete ich auf einer Reise einem Menschen der mein ganzes Leben veränderte. Wir lernten uns in einer Vollmondnacht, genau wie diese, kennen, der Mond der sich auf der Meeresoberfläche spiegelte, fand unser beider Interesse. Tja …“, seufzte sie, „ich dachte, es wäre die große Liebe, dabei war es nur ein Wegweiser des Schicksals der mich auf einen ganz anderen Pfad führte, einen Pfad der ebenso schmerzvoll wie auch arbeitsintensiv meine Lebensspur prägte. Den Gedanken an ihn, den Hoffnungsschimmer ihm jemals wieder zu begegnen, war ein Haltegriff an dem ich mich über Jahre emporzogen hatte. – Aber jetzt, wo ich im Begriff bin den Haltegriff wieder loszulassen, bin ich froh, dass der Hoffnungsschimmer erloschen ist, denn wir wären mit Sicherheit unglücklich geworden“, für einen Moment hielt sie inne, dann fuhr sie mit leiser Stimme fort: „Er war nur ein Wanderer auf einem einsamen und lieblosen Pfad, dem eine Frau nur hin und wieder den Weg ausleuchten sollte – nicht mehr und nicht weniger!“
„Das klingt nicht nur sehr poetisch, sondern auch sehr wehmütig!“, wobei Clemens sanft mit seinem Zeigefinger über ihren Handrücken streifte.
Nora drehte sich zu Clemens um, ihre Blicke trafen erneut aufeinander, diesmal durchströmten warme Wellen ihren Körper. Gleichzeitig, vielmehr aus einer Verlegenheit heraus, erhoben beide ihre Weingläser und stießen an, ein heller Klang verdrängte das beharrlich aufsteigende und dürstende Verlangen nach körperlicher Liebe.
Mit einem bitteren Lächeln fuhr sie fort: „Hm … sozusagen war ich die Alchimistin, die aus der Begegnung die große Liebe machen wollte … leider bin ich kläglich daran gescheitert. Aber, ich habe andere Dinge daraus gelernt …!“
„Oh … das klingt sehr philosophisch“, bemerkte Clemens, „kann es sein, dass der Rotwein seine ersten Spuren zeigt?“, wobei er sein Glas gegen den Schein des Mondes hielt und dabei den Rest des Weines spielerisch kreisen ließ.
Sie lächelte, wobei sie eigentlich hätte weinen mögen, aber irgendetwas hielt ihre Tränen zurück. Auch war sie kurz davor ihm von dem Toten in ihrem Vorgarten zu erzählen, aber diese Geschichte würde die wundervolle Atmosphäre nur zerstören – und nein, das wollte sie keinesfalls. Diese Augenblicke der völligen Harmonie waren eine Seltenheit in ihrem Leben geworden und verlangten beachtet, ja, gewürdigt zu werden. Sie setzte das Glas an und nahm einen großen Schluck Wein.