Wenn die Seelen Trauer tragen. Rose Hardt

Wenn die Seelen Trauer tragen - Rose Hardt


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nach hinten. Seine ganze Erscheinung wirkte in ähnlicher Weise wie die Drohgebärde des Rabens. Dann stand er vor ihr. Seine Augen waren noch stärker mit schwarzem Kajal umrandet als am Morgen, seine Haare waren mit Pomade straff nach hinten frisiert und ein seltsames Lächeln lag in seinem totenblassen Gesicht. Ein Anblick der sie erschauderte.

      „Ich … ich …“, stotterte er, „ich wollte mich in die Tiefe stürzen, aber ich war zu feige mich dem Tod in die Arme zu werfen.“ Ein krankhaftes Lachen schüttelte seinen Körper bevor er dann zusammenbrach und er bitterlich zu weinen anfing.

      Unbeholfen stand Nora vor diesem bedauernswerten Geschöpf das sich nicht mehr der Worte bedienen konnte, sondern nur noch in der Lage war zu weinen. Unfähig etwas zu sagen blickte sie sich erst einmal hilfesuchend um, doch sie waren sie die Einzigen hier. Verzweifelt suchte sie in ihrer Handtasche nach ihrem Handy um Clemens anzurufen – nichts! Immer, wenn man dieses blöde Ding braucht, ist es nicht da, schoss es ihr durch den Kopf. Kurz überlegte sie wie sie ihn trösten könnte, aber wie tröstet man einen Fremden von dem sie nur wusste, dass er anders war und um einen geliebten Menschen trauerte. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend setzte sie sich neben ihn, tröstend legte sie ihren Arm um seinen vor Kummer gebeugten Rücken. Allein schon ihre Berührung war für ihn Anlass genug, Schutz in ihren Armen zu suchen. Erschrocken von dem kalten fremden Körper saß Nora zuerst einmal irritiert und handlungsunfähig da. Großer Gott, was nun? Nach einigen Sekunden fing sie schließlich an, ihn, wie ein schutzbedürftiges Kind, in ihren Armen zu wiegen – irgendwann war er still. Auch sie gab sich, mehr aus Unbeholfenheit als aus Absicht, der Stille hin. Es muss wohl so nach einer Stunde etwa gewesen sein, als er schließlich aus seiner Lethargie erwachte und sich zeitlupenähnlich aus ihren Armen löste. Der von den Tränen aufgelöste Kajal überzog nun schwarz seine Wangen und zeichnete sein Gesicht zu einer furchterregenden Maske – er schien nicht mehr von dieser Welt zu sein! Oh mein Gott, wie deprimierend das auf sie wirkte – auf sie – der sie doch selbst mit einem tragischen Ereignis zu kämpfen hatte. Der Anblick war so unerträglich, dass sie ein Taschentuch hervorziehen musste, um ihn von seinem elenden Aussehen zu befreien. Ganz allmählich fand er wieder in die reale Welt zurück, er richtete sich auf und während sein Blick in die Ferne schweifte, fing er zögerlich und mit gebrochener Stimme zu reden an …

      „ER … Stéphan stand auf der Bühne. Im Opernhaus herrschte völlige Ruhe, dann sollte sein Einsatz kommen, aber er schwieg. Das Publikum wurde allmählich unruhig. Ich befand mich hinter dem Vorhang und zischte ihm mehrmals zu, doch er reagierte nicht. Auch die Souffleuse wurde aktiv und tippte ihm mit einem kleinen Stöckchen mehrmals an sein Bein – wieder nichts. Das ganze Ensemble rings um ihn herum war wie erstarrt. Er stand nur da … in seiner imposanten Erscheinung stand Stéphan einfach nur regungslos da. Die Bühnenbeleuchtung war komplett ausgeschaltet, nur ein kleiner Lichtstrahl zielte noch auf ihn. Sein Blick verlor sich irgendwo im dunklen Zuschauerraum. Es herrschte eine eigenartige, ja, fast schon respektvolle Stille, denn alle warteten auf seinen großen Einsatz, warteten auf den letzten Satz, den Satz der das ganze Stück beenden sollte. Dann geschah es, Stéphan drehte sich um, und verließ in langsamen wohlbedachten Schritten die Bühne.“

      Entsetzt, als ob er es immer noch nicht begreifen konnte, sah er sie mit großen Augen an.

      Nora saß bewegungsunfähig, auch ein wenig verängstigt, weil sie ihn nicht einschätzen konnte, neben ihm und folgte aufmerksam seinen Worten.

      „… und noch immer sehe ich ihn mit seinem braunen weiten Gewand, mit dem weißen wallenden Haar über die Bühne schreiten“, fuhr er leise fort, „ein Lichtstrahl folgte ihm bis er hinter dem Bühnenvorhang entschwunden war. Er hatte nur noch einen Satz zu sagen … einen einzigen Satz“, echauffierte er sich kopfschüttelnd, „aber es gelang ihm nicht mehr.“

      Für einen Moment hielt er inne, bevor es ihm dann wieder möglich war in seiner Geschichte fortzufahren.

      „Dann geschah etwas Eigenartiges, ein Mann aus dem Publikum erhob sich – ein Raunen ging zeitgleich durch das Publikum. Voller Ehrerbietung vor dem großen Schauspieler, sprach dann dieser Mann, seinen letzten Satz, laut und deutlich aus. Danach applaudierte das Publikum – zuerst noch verhalten, doch dann standen die Menschen auf, um mit lautem Applaudieren die künstlerische Darstellung, des großen Schauspielers: Stéphan, zu würdigen. Ja, und noch während dieses Applauses ist Stéphan dann in seiner Garderobe, alleine, verstorben.“

      Jacob schwieg, sein Blick vertiefte sich in den herankommenden Wellen. In seiner gebeugten Körperhaltung lag unendlich viel Trauer, ja, man hatte das Gefühl, das er sich noch mittendrin in seiner Erzählung befand.

      Mit einem tiefen Seufzer, der seinen Körper kurz aufbäumte, redete er weiter: „Als ich etwas später in seine Garderobe kam, saß Stéphan in seinem großen Ohrensessel – ganz so wie immer, als würde er sich nur für den nächsten Akt ausruhen wollen. Beide Arme lagen gestützt auf den Armlehnen, seine Augen waren geschlossen und in seinem Gesicht lag der ganze Frieden eines erfüllten Künstlerlebens ...“

      Plötzlich geriet Jacob in Ekstase, er sah Nora direkt an, sein Atem wurde schneller, in seiner Stimme lag Unruhe.

      „… ich kniete mich vor Stéphan, umschloss seine starken Hände, ich dachte, wenn ich nur fest genug zudrücke, dann … dann wird er wieder wach“, Jacob wandte sein Blick wieder dem Meer zu, mit bebender Stimme fuhr er zeitverzögert fort, „dann, ja, dann hielt ich seine Hände so lange umschlossen bis die letzte Lebenswärme aus ihm gewichen war. Ein letztes Mal dankte ich ihm dann für alles … ja, für alles was er aus mir gemacht hatte“, der letzte Halbsatz erstickte in Tränen.

      Jetzt erst, nachdem Nora die Geschichte gehörte hatte, löste sich ihre erstarrte Körperhaltung. Tröstend strich sie mit der Hand mehrmals über seinen vor Kummer gebeugten Rücken.

      Er nickte ihr dankend zu, zog ein Taschentuch hervor, schnäuzte hinein und sagte: „In der Presse hieß es: … auf dem Zenit seines Könnens ist er gestorben. Ja, und ein letztes Mal zierten Stéphans Bilder die Titelseiten einiger Boulevardblätter – diesmal nicht mit seinem Erfolg, sondern mit seinem dramatischen Abgang ... mit seinem Tod!“

      Eine ehrfurchtsvolle Stille lag zwischen den beiden.

      Mittlerweile hatte die Flut ihren Höchststand erreicht, die Elizabeth Castle war von den Fluten des Meeres völlig eingeschlossen. Beide saßen nebeneinander und beobachteten die Wellen die langsam und kontinuierlich die restlichen Felslücken ausfüllten. Ein beklemmendes Gefühl erwuchs zwischen ihnen, und es schien, dass dieses ganz in schwarz gekleidete und zerbrechlich wirkende Geschöpf noch mehr Seelenlast mit sich trug. Eine Seelenlast die nun bedrohlich nach Nora griff. Unter halbgeöffneten Augenlidern beobachtete sie ihn, und es war, als würde der Tod ihn immer noch fest umschlossen halten. Ihr schauderte bei dem Gedanken! Aber wie konnte sie ihm helfen? Mit was trösten? Alles ist ihr in diesem Moment durch den Kopf gegangen: Sie sah den Toten in ihrem Vorgarten, sah sein totenstarres Gesicht, auch sah sie das schemenhafte Gesicht des Gastes bei ihren letzten Lesungen – beide fügten sich ganz allmählich zu ein und demselben Gesicht zusammen; dann sah sie in das Gesicht ihrer großen Liebe, das immer mehr und mehr zu verblassen schien, stattdessen trat das Gesicht von Clemens in den Vordergrund. Alles wirbelte durcheinander, aber nichts fügte sich zu einem Trost für Jacob zusammen. Sie konnte ihn nicht trösten weil sie selbst eine Trostsuchende war, das wurde ihr in diesem Moment bewusst.

      Jacob fühlte Noras verstohlene Blicke, was ihn sogleich wieder zum Reden anspornte: „Stéphan war mein Mentor, mein großes Vorbild“, die Worte sprudelten geradezu aus ihm heraus. „Nein, er war mehr als das“, er nahm tief Luft und mit dem Ausatmen sagte er: „Stéphan war meine große Liebe.“

      Mit großen Augen sah sie zu ihm hin, ja, ihre Vermutung hatte sich somit bestätigt: er war homosexuell!

      Im nächsten Augenblick stand er, wie an unsichtbaren Fäden emporgezogen, auf. Seine Bewegungen waren ähnlich wie die einer Marionette.

      „… bevor ich Stéphan kennenlernte war ich ein Niemand! Ein Nobody! Er hat aus mir erst einen Menschen gemacht, er vermittelte mir das Gefühl geliebt zu werden. Aber jetzt, wo er tot ist, durchkreuzen


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