Geschichten aus Movenna. Petra Hartmann

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Königs sind mit Blut befleckt.“

      „Sicher“, gab Gulltong zu. „Er hat in den ersten Jahren ein wenig härter durchgreifen müssen. Ein neues Königreich regiert sich nicht so leicht wie ein seit Generationen ererbtes. Aber sieh dich doch um in Movenna. Jurtak ist dem Volk gegenüber nun milder und großzügiger, als es je ein König aus Surbolds Stamm gewesen ist. Recht und Gesetz genießen Achtung in unseren Landen, und das neue Gesetzbuch wird selbst von Feinden des Königs gepriesen. Du selbst, alter Mann, würdest dich kaum abends auf die Straßen Pol Movenns wagen, wäre Orsan noch König. Und nahm nicht Jurtak eine movennische Prinzessin zur Frau? Achtet er etwa nicht movennische Sitten und Gebräuche? Sicher, ein Teil von ihm wird stets ein Fremder hier im Lande bleiben. Doch sein Sohn Ardua wird einer von euch sein, Rimuric. Und das ist gut so. Schau, die sieben kleinen Könige waren kaum noch stark genug, Surbolds Volk weiter zu leiten. Mit Harvart und Jurtak strömte nun neues, frisches Heldenblut durch den morschen Stamm. Eine neue Ära der Heroen wird in Movenna heraufziehen ...“ Gulltong verstummte. Er blickte den Dichter auffordernd an.

      Auch Rimuric schwieg. Er war nicht sicher, was er von der ganzen Angelegenheit halten sollte. Seinen Ritter Gayol mit Jurtak zu identifizieren, schien ihm eine recht unpassende Deutung seiner Dichtungen. Und doch hatte die Vorstellung vom Heraufdämmern eines neuen Heldenzeitalters in Movenna etwas ungemein Verlockendes für den alten Barden. Denn waren nicht die Könige Lorman und Orsan schrecklich unpoetische Figuren gewesen? Undenkbar ein Epos über den alten Lorman oder darüber, wie Orsan in der letzten Schlacht um Movenna versagt hatte. Rimuric hatte stets daran gelitten, in einer Zeit nüchterner Interessenvertretung und Handelspolitik zu leben. Wie hatte er von ruhmreichen Schlachten geträumt in seiner Jugend, von Reiterkönigen wie Surbold. Was hätte er dafür gegeben, Barde am Hof König Eirikirs sein zu dürfen und dessen Taten zu besingen. Und Lorman und Orsan hatten die Mittel für das Heer dermaßen zusammengestrichen, dass Harvart der Einladung irgendwann einfach folgen musste.

      „Warum erzählst du mir das alles?“, fragte Rimuric schließlich.

      „Weil dein König dich braucht“, antwortete Gulltong, jedes einzelne Wort betonend. „Jurtak kennt und achtet die Macht der Barden. Dir als dem größten Dichter Movennas hat er eine Aufgabe zugedacht, wie sie ehrenvoller kaum sein kann: Es ist an dir, Rimuric, die alte und die neue Zeit zusammenzuschmieden durch ein Werk, das nur der Barde Movennas vollbringen kann: Ergänze das alte Königslied, Dichter. Schmiede ein neues Glied für die Kette Movennas. So lautet Jurtaks Befehl.“

      Bei dem letzten Wort Gulltongs schoss Rimuric in die Höhe, als habe ihn eine Schlange gebissen. „Die Kette ist heilig, lieber Freund“, entgegnete er förmlich. Man hängt da nicht einfach irgendwelche Namen an.“ Wenig später hatte er den Moglàt mit einer knappen Verbeugung hinauskomplimentiert, und Gulltong war ebenso erfolglos davongegangen wie vor ihm Jorn.

      Die Erinnerung an die beiden Boten Jurtaks tat dem alten Dichter wohl. Zufrieden lehnte er seine Harfe an das Bücherregal und ließ den Blick über die Buchrücken gleiten. In seinem nächsten Gedichtband würde er die Verse der Königskette aufnehmen, das machte sich bestimmt ausgesprochen gut darin. Wieder summte er die Strophe vor sich hin, während er die Kerzen auf dem Schreibtisch entzündete. Er wärmte seine Hände an den Flammen und sah vergnügt zu, wie die Schatten über die Wände huschten.

      Genau so hatten die Schatten getanzt an dem Abend, als der König zu ihm gekommen war. Ja, Jurtak persönlich war in die bescheidene Hütte des Dichters herabgestiegen, um ihn um die Verse zu bitten.

      „Der König vermag nichts ohne den Dichter“, hatte Jurtak gesprochen. „Die Macht des Königs ist nichts im Vergleich zu der deinen. Darum bitte ich dich heute, Barde Movennas: Erkenne mich als König an. Tu, was kein König jemals vermöchte. Vereine unsere Völker, schmiede die alte und die neue Dynastie zusammen. Ich bitte dich, Barde Movennas.“

      In dieser Nacht hatte Rimuric das letzte Glied der Kette geschmiedet.

      *

      Ein Geräusch ließ den Dichter aufhorchen. Er lauschte. Waren da Schritte im Vorgarten? Besuch noch um diese Zeit? Doch niemand klopfte an die Tür, und die Schritte – er hatte sie sich nicht eingebildet – entfernten sich wieder. Mühsam erhob er sich aus dem Sessel und schlurfte zur Tür.

      Draußen war es bereits dunkel geworden, er konnte niemanden entdecken, kein Mensch war auf der Straße unterwegs, nicht einmal eine streunende Katze war zu sehen. Doch auf der Türschwelle lag etwas. Ein kleines Büchlein lag dort, kaum größer als seine Hand, eingebunden in brüchiges, abgegriffenes Leder, und Rimuric brauchte nicht hineinzusehen, um seine Diamantlieder wiederzuerkennen.

      Er hob das Buch auf und kehrte ins Haus zurück, hatte kaum wieder im Sessel Platz genommen, als draußen erneut Schritte zu hören waren. Schritte, die kamen. Schritte, die gingen. Und die prunkvolle Erstausgabe der Kranichsepen blieb vor der Tür liegen.

      Die ganze Nacht über ging das so. Schritte kamen, Schritte gingen. Nie waren es laute Schritte, doch niemals bemühte sich jemand, besonders leise aufzutreten. Schritte kamen, Schritte gingen, Bücher blieben zurück, auf der Türschwelle, im Vorgarten. Tagelang, Nächte durch, Schritte kamen, Schritte gingen, wochenlang, Bücherberge türmten sich auf im Garten des Dichters, Diamantlieder, Kranichsepen, täglich wuchsen die Berge aus Versen, täglich kamen neue Bücher herzu, aus allen Teilen des Landes brachte man sie zurück, und niemand, der jemals ein Buch Rimurics besessen hatte, behielt es bei sich, wie weit der Weg auch sein mochte.

      Den Dichter aber hat kein einziger Mensch jemals wiedergesehen.

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