Geschichten aus Movenna. Petra Hartmann

Geschichten aus Movenna - Petra Hartmann


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beim Reinigen der Wunden nicht eben zimperlich gewesen war, konnte man doch noch überall den feinen Steinstaub des Schottergebirges finden, der sich tief in den Muskel hineingefressen hatte. Nicht einmal Jorn, der alte Waffenmeister des Königs, hatte jemals nach einer Schlacht so ausgesehen. Und Jorn war immer genau dort zu finden, wo die Hiebe am dichtesten fielen.

      „So“, sagte Lournu, „und jetzt gib mir den Topf dort. Die Wunden werden sich entzünden, wenn sie nicht behandelt werden. Das willst du doch nicht, oder?“

      Gehorsam hinkte Ardua zu dem baufälligen Regal hinüber und fand zwischen Trockenblumen und halbleeren Flaschen ein Töpfchen aus ungebranntem Ton. Er hob den Deckel, schnupperte misstrauisch und schloss das Gefäß sofort wieder, als sich der ekelhafte Geruch von ranziger Butter ausbreitete.

      „Schon recht“, lächelte Lournu. „Alles hat seinen Nutzen, auch wenn es nicht besonders gut riecht.“

      Ardua zögerte. Doch das Brennen in seinem Bein war schwerer zu ertragen als der Gestank, so trug er das Töpfchen zu Lournu hinüber.

      „Brav“, lobte die Alte. Sie tunkte den Finger hinein, schnupperte und verzog angewidert das Gesicht. „Riecht wirklich schlimm“, gab sie zu. „Aber es wirkt, glaub mir. Wenn auch nicht allzu viel Zauberei darin ist. Nur ein bisschen.“

      „Erklärst du es mir?“, bat Ardua. „Zeigst du mir wenigstens den Heilzauber? Für einen zukünftigen König ist das eine nützliche Kunst.“

      „Das kann ich tun“, brummte Lournu versöhnlich. Sie drückte ihn auf seinen Holzschemel nieder und rührte vorsichtig mit dem Finger in der Salbe. Dann strich sie eine schmale Spur der Substanz über seinen Oberschenkel. „Es gehört eine Geschichte dazu“, murmelte sie. „Die Geschichte vom Ursprung der Waldhexen, die du für so üble Nachtkreaturen hältst. Das Rezept für die Salbe stammt aus der Zeit, als die Waldfrauen das Zaubern lernten. König Flaric war es, der die Magie in Movenna einführte, und er gilt als der Begründer der Hexenzunft.“

      „Das ist einer von den Kleinkönigen, nicht wahr?“, unterbrach Ardua. „Ich habe immer gedacht, die sieben kleinen Könige hätten gar nichts geleistet in Movenna.“

      „O was das angeht, war Flaric ein mindestens ebenso großer König wie sein Vater Eirikir. Es gab bloß zu seiner Zeit keine Kriege mehr, da konnte er sich nicht so gut mit Ruhm eindecken wie seine Vorfahren. Jedenfalls war von den Kleinkönigen Flaric der größte. Das glauben nicht nur die Waldhexen.“

      Mit den Fingerspitzen verteilte sie die Salbe auf Arduas Bein. Sie ging nun bedeutend sanfter vor als beim Reinigen der Wunde, und auch der Gestank schien ihm nach und nach erträglicher zu werden. Dunkle Schatten huschten über die Wände des Zimmers, kicherten leise in den Regalen, und hinter der Fensterscheibe glaubte er, Waldgeister grimassieren zu sehen. Ardua lächelte zufrieden. Bei allem Spuk um sie herum, das eine hatte er längst gelernt, dass man nämlich nirgends auf Erden geborgener sein konnte als im Haus einer Hexe, die Geschichten erzählte.

      „Flaric war ein freundlicher Mann“, fuhr Lournu fort. „Künste und Wissenschaften blühten an seinem Hofe, und fast alle bedeutenden Bauwerke der Stadt Pol Movenn sind während seiner Regierungszeit entstanden. Manche nennen diese Zeit auch das Goldene Zeitalter Movennas, und Flaric, den großen Baumeister, nennen sie den Säulenkönig. Er hat aber auch die Universität von Vitta gestiftet. Alles in allem ein wirklich bemerkenswerter König.“

      Lournu beugte sich über die Wunde und flüsterte einige Worte in der alten Sprache Movennas vor sich hin. Ardua konnte sie nicht verstehen, doch breitete sich daraufhin ein angenehm warmes Gefühl in seinem Bein aus. Es musste ein sehr mächtiger Zauberspruch gewesen sein, und er war begierig darauf, ihn zu lernen.

      „Ein freundlicher König war Flaric“, wiederholte Lournu, und mit einem Seitenhieb auf Ardua fügte sie hinzu: „gar nicht so wie heutige Könige. Oft sah man ihn durch die Straßen Pol Movenns schlendern, und sehr gern streifte er durch die Uferwiesen unten an der Trifta, wo sie den Waldrand berührt. Denn er liebte den Fluss und die Menschen, die an ihm lebten. Auch liebte dieser Sohn Eirikirs das Dunkel des Waldes, und er war überhaupt vollkommen anders geartet als seine Vorfahren, die aus den östlichen Steppen stammten und an gleißende Sonne und offenes Land gewöhnt waren. Und wie er zu allen Bewohnern Movennas freundschaftlichen Umgang pflog, so stand er auch mit Waldwohnern und Kräuterfrauen auf vertrautem Fuße und hielt gern ein Schwätzchen mit ihnen ab, wenn sie ihre Waren auf dem Markt von Pol Movenn feilboten.

      In jenen Tagen lebte eine Frau namens Achlys im Walde. Sie war die Großmutter meiner Großmutter Aeshna und verdiente sich als Pilzsammlerin ihren Lebensunterhalt. Die ganze Woche über suchte sie Braunhüte, Schmackschwämme und die seltenen Mundlinge, und am Markttag trug sie ihre Beute nach Pol Movenn und verkaufte sie dort. Und wenn du dich erinnerst, wie lange du letztens gebraucht hast, um einen Korb Braunhüte zusammenzufinden, dann wirst du mir zustimmen, dass es keine leichte Arbeit war und dass man kaum davon leben konnte.“

      Ardua nickte. Der Geruch der Salbe stieg ihm zu Kopf, und ihm war ein wenig neblig zumute in seinen Gedanken. Doch der Zauber Lournus hatte bereits begonnen, seine Wirkung zu entfalten. Die Wunde im Oberschenkel war merklich kleiner geworden. Oder bildete er sich das nur ein? Lournu massierte indessen die Salbe in sein linkes Knie ein, das sich langsam erwärmte. Beim Sturz war das Gelenk schwer geprellt worden. Wieder murmelte die Hexe ihren Spruch, aber sosehr Ardua sich auch anstrengte, die undeutlich gebrummten Worte verstand er nicht.

      „Achlys die Pilzsammlerin“, nahm Lournu die Erzählung wieder auf, „war eines Tages mit einem Korb voller Mundlinge hinunter zum Ufer der Trifta gestiegen. Sie hatte sich früh aufgemacht, denn der Weg zur Stadt war lang, und als sie zur Triftafurt kam, war sie weit und breit das einzige menschliche Wesen. Die Fischer und Fährleute schliefen noch, und auch fahrende Händler waren noch nirgends zu erblicken. Niemand war dort, der sie hätte hinübersetzen können. Doch Achlys hob den Saum ihres Rockes an, und sie wollte eben zu Fuß durch die Furt hindurch waten, als plötzlich hinter ihr Hufschlag erklang.

      Flaric war zu dieser Zeit noch ein junger Prinz, der Zaubergeschichten und Märchengestalten liebte, und er hatte, wie schon oft, die Nacht im Walde verbracht, um nach Trollen und Gespenstern zu suchen. Natürlich hatte er keine gefunden, denn es gab dergleichen nicht in unserem Wald. Vielleicht war er nicht besonders gut gelaunt deswegen, doch höflich und wohlerzogen, wie er nun einmal war, zügelte der Prinz sein Pferd, als er meine Ahnfrau erreichte, und bat sie, zu ihm in den Sattel zu steigen. Achlys war froh darüber. Denn zu dieser Zeit führte die Trifta viel Wasser, und in der Mitte des Flusses schlugen die Wellen bis an den Bauch des Pferdes herauf, doch Flaric und Achlys gelangten trockenen Fußes hinüber, und es blieb ihnen sogar Zeit für ein Schwätzchen. ‚Wie stehen denn die Waldpilze dieses Jahr?’, erkundigte Flaric sich interessiert. ‚Ich hoffe doch, die Geschäfte gehen gut?’ ‚Ach nein’, erwiderte Achlys traurig, ‚es geht gar nicht mehr gut mit dem Pilzgeschäft. Der Sommer war trocken, und was die Mäuse nicht weggeholt haben, das haben die Fliegen zerfressen. Jedesmal fällt es mir schwerer, genug Pilze zu finden. Und was ich auf dem Markt dafür bekomme, reicht kaum zum Leben. Die Zeiten sind schwer geworden, Prinz, und es ist wahrhaftig nicht leicht für eine arme Pilzfrau, sich über Wasser zu halten.’ ‚Das tut mir leid’, sagte Flaric, der ein mitfühlendes Herz besaß, und er schwieg betroffen.

      Bis sie das gegenüberliegende Flussufer erreicht hatten, dachte er nach, und er sagte kein einziges Wort dabei. Doch als er vom Pferd sprang und Achlys aus dem Sattel half, da begannen seine Augen plötzlich zu leuchten. Hatte ich schon erwähnt, dass Prinz Flaric strahlendblaue Augen hatte? Manchmal, wenn er einen guten Gedanken verfolgte, haben die Leute sogar dunkelblaue Blitze darin flackern sehen. ‚Du könntest doch nebenher ein wenig doktern’, schlug er vor. ‚Krankheiten heilen und Wunden pflegen, das soll schon etwas einbringen.’ Achlys schüttelte den Kopf. ‚Davon verstehe ich nichts.’ Aber Flaric hatte den Faden schon weitergesponnen und erklärte begeistert: ‚Nichts leichter als das. Du brauchst nur ein paar Salben. Nimm Butter dazu oder meinethalben Wagenschmiere, dann tu ein paar Kräuter hinein, das wird schon ausreichen. Anfangs musst du von selbst hingehn, wenn du hörst, dass jemand krank ist. Den reibst du mit deiner Salbe ein und murmelst dabei immer so vor sich hin: Helpt dat nich, dann schad’t ook


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