Geschichten aus Movenna. Petra Hartmann

Geschichten aus Movenna - Petra Hartmann


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die Fersen in die Weichen und lenkte es hinüber zu den Bogenschützen.

      „Deine Enkelin wird sehr frech, alte Frau“, brummte der fremde König Aeshna zu. „Du solltest ihr etwas mehr Respekt beibringen, das ist sicherer für sie.“

      „Sie hat fast alles gelernt, was ich ihr auf dieser Reise beibringen wollte“, entgegnete Aeshna.

      Wieder brach einer der Krieger in wahnwitziges Schreien aus.

      „Heb du nur morgen den Stein“, drohte Harvart. Dann trieb er den Hengst an und sprengte davon.

      *

      Das Tal. Aeshna war schon oft im Tal der tanzenden Schatten gewesen. Und doch hatte der Ort für sie nichts von seinem geheimnisvollen Zauber verloren. Dunkle Berghänge, reichbewaldet, umschlossen das Tal, und in langsamen, würdevollen Wellenbewegungen glitten Licht und Schatten durch das dunkle Laub der Bäume. Schattengeister, die alten Mächte Movennas, wohnten im Tal, helle und dunkle Erinnerungen, und König Surbold war einer von ihnen.

      Harvart war sehr schweigsam geworden, seit sie das Tal betreten hatten. Bösen, bleichen Gesichtes bewegte er sich durch die Schatten der Bäume, ein falscher König unter den Schatten Movennas, und biss nervös auf seiner Unterlippe herum. Auch die Krieger waren sehr still geworden, als spürten auch sie die Heiligkeit dieses Ortes.

      Als der Wald sich lichtete, schrie Harvart auf.

      Was immer er aus den alten Legenden über Surbolds Felsen erfahren haben mochte, so groß hatte er sich das Grabmal des Königs nun doch nicht vorgestellt. Wie erstarrt stand er vor der gewaltigen Felsplatte, eine lächerliche rotäugige Fliege, und mit blutunterlaufenen Augen las er die Inschrift:

      „Wunner äwer wunner – wat leit woll dar unner“.

      „Eine reizvolle Aufgabe, in der Tat“, stellte der kleine Mann fest.

      Der Techniker war der einzige, den die Aura des Tales nicht angerührt hatte, und Aeshna konnte es fast körperlich fühlen, wie unter den trockenen Worten der Zauber zerbrach.

      Die Schatten wichen, und plötzlich war die Felsplatte über Surbolds Grab nicht mehr als ein gewöhnlicher Grabstein. Ein besonders großer Stein vielleicht, doch nichts was man nicht mit Hilfe von Rollen, Keilen und Seilwinden von der Stelle bewegen konnte. Die Soldaten Harvarts atmeten auf, und schon machten erste Scherzworte die Runde.

      „Siehst du, du kleine Kröte“, grinste Jorn triumphierend zu Lournu hinüber, „wir brauchen deine Großmutter nicht einmal. Wir sind moderne Eroberer, mit uns marschiert eine neue Zeit in Movenna ein.“

      Lournu sagte nichts darauf.

      Der kleine Techniker hatte inzwischen seine Werkzeuge ausgepackt und gab den Soldaten seine Anweisungen. Harvart stand dabei, fast sah es aus, als habe der König abgedankt und die Macht in die Hände des schmächtigen Mannes gelegt. Und die riesenhaften Krieger, die den Techniker auf der Reise oft genug verlacht und verspottet hatten, nun sprangen und liefen sie nach seinem Befehl mit einer Demut und Bereitwilligkeit, die sie Harvart gegenüber nie gezeigt hatten. Hundert mächtige Eichen fällten Harvarts Männer an diesem Tage. Andere hoben einen tiefen Graben am Fuße der Steinplatte aus, wieder andere trieben Keile unter den Felsen oder verarbeiteten die Eichenstämme zu Hebeln und Rollen, während der Techniker mehrere Seilwinden anbrachte.

      „Ich glaube“, flüsterte Lournu der Großmutter zu, „der kleine Mann ist gefährlicher als König Harvart.“ Aeshna nickte stumm.

      Kurz vor Sonnenuntergang war der Techniker bereit. Tausend schwitzende und schwer atmende Riesen standen still und warteten auf seinen letzten Befehl. Seile, Hebel, Rollen, Keile und die riesenhafte Armee Harvarts, all dies stand bereit, harrte auf das Wort des mächtigsten Mannes in Movenna. Und er sprach es aus: „Jetzt.“

      Da legten sich eintausend Riesen in die Seile, eintausend Männer zogen, schoben, drückten, hoben, eintausend Beinpaare stemmten sich gegen die Erde. Mächtig traten die Muskeln der Krieger hervor, Adern drohten zu platzen, Sehnen zu reißen, und der Stein hatte sich noch immer nicht geregt, doch dann – „Sieh nur, Großmutter, der Felsen!“, rief Lournu erschrocken aus – hob sich die gewaltige Steinplatte, erst langsam, endlich mit einem einzige mächtigen Ruck richtete sie sich auf und schlug dann donnernd um. Eintausend Krieger stürzten zur Erde und blieben keuchend im Gras liegen.

      Der Felsen war bewegt worden, doch keiner der Soldaten hatte noch Kraft genug, zum Grab zurückzukehren.

      Einzig Harvart, ein sehr alter, einsamer Mann, stand vor dem Felsen und las die Inschrift, die an der Unterseite der Grabplatte eingemeißelt war: „Dat was Tied, dat ek kom op anner Siet“, las er fassungslos und starrte in das leere Grab hinein. Das war Zeit, dass ich auf die andere Seite komme.

      Kein Gold, kein Silber, kein Schmuck. Dafür das Heer vollkommen zugrunde gerichtet und die Soldkasse leer.

      Das Gelächter in Movenna, das über ihn hereinbrechen würde, konnte er schon jetzt hören. Lachte es dort nicht bereits aus den Schatten um ihn herum, lachten nicht selbst die Schatten Movennas über den lächerlichen Eindringling?

      Harvart presste die Hände auf die Ohren, aber das Gelächter wollte kein Ende nehmen, da lief er davon, tiefer und tiefer in den Wald hinein, und niemand in Movenna hat ihn je wieder gesehen.

      *

      „Was sollen wir jetzt tun, Großmutter?“, fragte Lournu leise, als sich die Soldaten nach und nach davongemacht hatten und es still und dunkel geworden war im Tal.

      „Aufräumen“, sagte die Alte. „Fass mal mit an.“

      Als Lournu die Hand an die Steinplatte legte, spürte sie ein eigenartiges Kribbeln in den Fingerspitzen, das sich durch ihren ganzen Körper fortsetzte. „Ist das jetzt Magie?“, flüsterte sie ehrfürchtig.

      „Ich weiß es nicht genau“, entgegnete Aeshna.

      Vorsichtig hoben die beiden Frauen die Felsplatte auf und legten sie zurück auf das Grab, wo sie hingehörte. Dort liegt sie heute noch, und jeder, der versuchen will, sie zu heben, wird sie leicht finden. Sie liegt im Tal der Schatten, wo die Geister Movennas tanzen, und auch Lournu und Aeshna sind schon seit langen Zeiten dort.

      Die Krone Eirikirs

      Ardua hielt das Buch mit beiden Armen fest umklammert. Sein Atem ging stoßweise, als er durch die Nacht hastete, mehrfach war er gestrauchelt, war lang hingeschlagen auf das scharfkantige Geröll und hatte sich üble Schürfwunden an Armen und Beinen zugezogen. Aber das Buch ließ er nicht los, obwohl der dickleibige Kodex viel zu schwer war, um von einem untrainierten, schwächlichen Jungen über weite Strecken getragen zu werden. Keuchend stürzte er voran, blickte immer wieder hastig über die Schulter zurück, doch einen möglichen Verfolger hätte er selbst bei Tage in der unwegsamen Felslandschaft nur schwer ausmachen können, um wie viel weniger in dieser mondlosen Nacht und mit flüchtigen, gehetzten Schulterblicken.

      „Verwünschte Hexe!“, stieß er keuchend hervor und dachte neiderfüllt an seine Altersgenossen daheim in Mogàl, die bei ihren kriegerischen Übungen auch auf derartige nächtliche Fluchten in wüsten Felsgegenden vorbereitet worden waren. Hier in Movenna dagegen, so hatte man es seinem Vater einzureden gewusst, sei es Tradition, dass der zukünftige König zu einem der alten Kräuterweiber in die Lehre gegeben wurde. Wie hatte er nur darauf eingehen können. Ardua stolperte schwer atmend vorwärts. „Verwünschte Hexe!,“ keuchte er wieder und schaute sich im Laufen um, übersah dabei einen fast kniehohen Steinblock, stürzte und rutschte meterweit über feinkörnigen Schotter, bis er gegen eine Felswand prallte. Benommen blieb er liegen.

      Das Buch hielt er noch immer umklammert, fest hatte er den in uraltes, brüchiges Leder eingebundenen Wälzer an sich gepresst, und obwohl er nun wirklich kaum noch Luft bekam, spielte ein triumphierendes Lächeln um seine Lippen. „Das hättest du nicht gedacht, Lournu, du alte Wetterhexe“, röchelte er, „dass dein kleiner Kräutersammler aus Mogàl dir deine Sprüche stiehlt.“

      Langsam, sehr langsam


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