Geschichten aus Movenna. Petra Hartmann

Geschichten aus Movenna - Petra Hartmann


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Unter seinen Füßen befand sich nichts als ein lächerlich schmaler Pfad aus weißem, geharktem Kies. Kaum breiter als eine Armeslänge spannte sich der Weg in flachem Bogen über einen schwindelerregenden Abgrund, und beide Wände der Schlucht waren so entsetzlich fern, dass Ardua sie kaum erkennen konnte. Unter ihm in der Tiefe wich die Erde zurück, bodenlose Felsklüfte taten sich auf und schienen ihn zu rufen in ihrer unerbittlichen steinernen Lautlosigkeit. Der Kronprinz taumelte. Angstschweiß brach ihm aus, er sank in den Kies nieder, umklammerte den brüchigen Pfad fest mit beiden Armen. Die Moglàt waren Steppenbewohner, erinnerte er sich schmerzlich, und den Blick aus größeren Höhen nicht gewohnt. Schon beim Aufstieg zu den Wachttürmen der alten Grenzfestung Ira hatte er vor Jahren einen furchtbaren Anfall von Höhenangst erlitten, aber dieser Abgrund, der an seinem Magen sog und vor seinen Augen zu wirbeln begann, ließ selbst den höchsten Turm von Ira wie ein Kinderspielzeug erscheinen.

      Es wurde dunkler um ihn, und Ardua stellte mit Schrecken fest, dass sein Licht bereits ein gutes Stück von ihm entfernt war und sich zielstrebig dem Ende der Kiesbrücke zubewegte. Zornig schüttelte er den Kopf, bis das Schwindelgefühl verflog, raffte sich auf, hastete der Flamme hinterher und hatte sie bald wieder eingeholt. Den Blick geradeausgerichtet, folgte er dem Licht, tappte mit weichen Knien den Kiesweg entlang und hütete sich, in die Tiefe zu sehen, aus der die scheußlichsten Fratzen Movennas zu ihm herauf grinsten und boshaft zu kichern schienen. Ardua beachtete sie nicht, er folgte nur seinem Licht und erreichte endlich die rettenden Felsen am anderen Ende.

      Hier wurde der Weg breiter, fast war es eine Freude, auf ihm zu gehen, und beinahe war er versucht, ein fröhliches Liedchen vor sich hin zu pfeifen. Doch er war sich nicht sicher, ob das Pfeifen nicht ebenfalls verboten war auf diesem Weg, so ließ er es besser bleiben. Das Licht setzte gemächlich seine Wanderung fort, und Ardua trottete ergeben hinterdrein.

      Endlich tat sich vor ihm ein hohes Felsentor auf. Die Flamme tänzelte durch den Torbogen hindurch, und als Ardua folgte, fand er sich im Innern eines geräumigen Saales wieder, der bis zur Decke angefüllt war mit Gold, Diamanten und Schmuck jeglicher Art. Der Moglàt atmete tief ein. Er war seinem Ziel jetzt ganz nahe, das spürte er.

      Der Geruch der Schatzkammer weckte eigenartige Erinnerungen in dem Prinzen. Das Bild Lournus und ihres kleinen gemütlichen Hexenhauses stieg vor ihm auf, und Ardua schüttelte unwillig den Kopf. Lournu. Wie kam es, dass er ausgerechnet jetzt an Lournu denken musste? Er streckte die Hand aus und griff wahllos nach einer der Goldmünzen. Die Münze roch nach Lournu und fühlte sich seltsam weich an. Als er wie ein Münzprüfer auf den movennischen Marktplätzen in die Münze hineinbiss, wusste er, was hier nach Lournu roch: Pfefferkuchen. Die Schätze des Saales bestanden ausnahmslos aus Pfefferkuchen, den süßesten und duftigsten, die Lournu jemals gebacken hatte.

      Aber dem jungen Prinzen stand der Sinn nicht nach Süßigkeiten. Unwillig schleuderte er die Münze weit von sich, und mit leisen Zischen löste sich der Kuchenspuk in Luft auf.

      Ardua blickte sich um. Der Saal war leer. Leer bis auf einen hohen Steinsockel in der Mitte des Raumes. Fast hätte er einen lauten Jubelschrei ausgestoßen, als er erkannte, was dort auf dem Sockel ruhte. Dort lag sie, unberührt seit neun Königsaltern, und barg alle Macht und Herrlichkeit Movennas in sich. Zögernd trat Ardua näher. Er betrachtete die sagenumwobene Krone Eirikirs mit großen, runden Moglàt-Augen. So wundersam strahlend hatte er sich die Krone Movennas nicht vorgestellt. Sie glänzte und funkelte wie von tausend Mittagssonnenstrahlen, und noch der kleinste ihrer Edelsteine war so kostbar, dass man ihn für ein ganzes Lehen zum Pfand setzen konnte.

      Auf der Krone aber hockte ein winziger, schrumpeliger Zwerg, noch kleiner und hutzeliger als Orkon der Bergriese, der hatte eine so unfassbar-fürchterlich große Nase, wie man sie in Movenna und Mogàl noch niemals zu Gesicht bekommen hatte.

      „Mein Gott, was für eine große Nase!“, rief Ardua überrascht aus.

      Eine zornige Zwergenhand versetzte ihm eine Ohrfeige, deren Klatschen den gesamten Felsensaal zum Dröhnen brachte. Im selben Augenblick zerbarst der Weg unter seinen Füßen in Milliarden von Steinsplittern, in einer Lawine aus Kies und Staub wurde Ardua in die Tiefe gerissen, stürzte hinab in den Abgrund, der Erdboden raste ihm entgegen, bis er donnernd aufschlug.

      Der Aufprall war so heftig, dass die Berge erzitterten. Ardua erwachte und fand sich lang ausgestreckt auf Lournus Zauberbuch wieder. Seine rechte Wange brannte wie Feuer. Im Rot der aufgehenden Sonne glühte König Eirikirs Steinbild über ihm, und tanzender rötlicher Steinstaub kratzte in seinem Hals, der trocken und ausgedörrt war wie nach einem mehrtägigen Wüstenmarsch.

      Eine faltige Hand reichte ihm eine Trinkflasche. Ardua griff fiebernd zu und trank in gierigen Schlucken.

      „Tut es sehr weh?“, fragte Lournu besorgt.

      Ardua schüttelte heftig den Kopf und bereute die Bewegung sofort, als der Wind in die Wunde auf seiner Wange griff, eine winzige glührote Brandwunde mit fünf schmalen Fingern wie von einer sehr kleinen Hand. Aber er bemühte sich, tapfer zu lächeln.

      „Das ist gut“, seufzte die Hexe. „Zwergenwunden heilen nie.“

      Sie half ihm vorsichtig beim Aufstehen und tastete seine Arme und Beine ab. „Für das andere habe ich Salben. Wir werden dich schon wieder in Ordnung bringen, kleiner Prinz.“

      Ardua winkte ab. „Später“, sagte er. „Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich vorher noch gern dein Pfefferkuchenrezept lernen. Ich fürchte, ich habe beim letzten Mal nicht richtig aufgepasst.“

      Gestützt auf die alte Waldhexe hinkte Ardua auf dem unebenen Schotterweg zurück zum Hexenhaus, und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er dabei das Gefühl, nach Hause zu kommen.

      Flarics Hexen

      „Aaaaaaaaaaaaaaaaauuuuuuuuuuuuuuuuaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah!!!“ Ardua schrie auf vor Schmerz, als die alte Hexe ihn berührte. Mit grausamer Präzision schienen die faltigen Hände genau die Stelle erspüren zu können, die am furchtbarsten wehtat. Blut sickerte aus seinem Oberschenkel, verkrusteter Steinstaub und Dreck lösten sich viel zu langsam.

      „Ja, heul du nur“, brummte Lournu mitleidlos und fuhr mit dem feuchten Lappen erneut über die Wunde. „Was läufst du auch nachts in den Bergen herum, dummer Junge.“

      Ardua sog die Luft durch die zusammengebissenen Zähne ein. „Ich hab – autsch! – ich hab einen Zauberspruch ausprobiert – aaah!“

      „So, Zauber also“, kommentierte Lournu trocken und goss eine scheußlich brennende Flüssigkeit über sein Bein aus.

      „Das –“, gurgelte Ardua, „– das hast du mit Absicht getan.“

      Doch Lournu schraubte unbewegten Gesichts die räuchernde Tranfunzel etwas höher, die das Hexenhaus mehr schlecht als recht beleuchtete. „So, nun zeig das Bein nochmal her, kleiner Prinz, wir wollen sehen, was wir noch darauf tun können ...“

      Ardua fuhr zurück. Wütend stampfte er mit dem Fuß auf, eine Bewegung, die er sofort bereute. Lodernder Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. „Nein“, brach es aus dem jungen Prinzen hervor. Schmerz und Empörung ließen seine Stimme fast umkippen. „Jetzt ist es genug. Du bringst mir keine Zaubersprüche bei, du erklärst mir nicht, wie man mit Zwergen redet, und mit dem Besen lässt du mich auch nicht fliegen. Denkst du vielleicht, mein Vater hat mich hergeschickt, damit du mich hier zu Tode folterst, du altes Nachtgespenst? Unterrichten sollst du mich, ja. Mich zu einem guten König machen, ja. Aber du sollst mich nicht umbringen.“

      Lournu zeigte keine Regung. Nur wer die zerfurchten Gesichtszüge der Alten sehr gut kannte, hätte ein amüsiertes Lächeln im Winkel des linken Auges entdecken können, als sie entgegnete: „Nachtgespenster gibt es nicht. Und du kannst froh sein darüber.“ Leise, sodass Ardua es nicht verstehen konnte, setzte sie hinzu: „Die können nämlich sehr gefährlich werden.“ Das Lächeln verschwand, als sie knurrte: „Außerdem gibt es keine Zauberei, obendrein bist du sowieso viel zu abergläubisch dazu und viel zu ungeduldig. Man kann nicht einfach ins Gebirge hineinlaufen und irgendeinen Spruch aufsagen, den man


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