Geschichten aus Movenna. Petra Hartmann
er seine Finger über den Einband des Buches gleiten, ertastete Lederwülste, metallene Beschläge und die feingeschliffenen grünen Katzensteine aus dem nördlichen Gebirge, wo die Hexen, wie man in Mogàl erzählte, seinen Großvater getötet hatten. Das Leder war etwas abgeschabt von Arduas Sturz, doch hatten auch andere Unfälle im Laufe der Jahrhunderte an dem Buch ihre Spuren hinterlassen. Bei Tageslicht hatte er Brandlöcher im Einband sehen können, einige Seiten waren durch Bücherwürmer verstümmelt worden, und den allerletzten Zauberspruch hatte ein dunkler Blutfleck fast vollkommen unlesbar gemacht. Aber es roch gut, das Buch, es roch nach Pferden, nach Vanille, nach der uralten Magie des Landes Movenna. Warm und freundlich lag es in den Händen des jungen Prinzen, und ein bläuliches Glimmen schien von den Pergamentseiten auszugehen.
Entschlossen stand Ardua auf. Sein Atem hatte sich inzwischen fast vollkommen beruhigt, und auch der Puls schlug langsam und regelmäßig, wie ein Puls schlagen muss, wenn man sich mit magischen Dingen beschäftigen möchte. „Also, Schluss mit dem Blümchenpflücken“, murmelte er. „Jetzt wird es sich ja zeigen, ob man aus diesen Hexen nicht etwas mehr herausholen kann als Pfefferkuchenrezepte und Kräutertees.“
Als der Junge sich in Positur stellte und das uralte Buch aufschlug, zitterten seine Arme unter dem Gewicht des schweren Bandes, denn der voluminöse Wälzer war nicht für die Hände jugendlicher Hexenlehrlinge geschrieben worden, und erst recht nicht für fremde Eroberer aus den Steppen von Mogàl. Doch Ardua stemmte beide Beine fest und entschlossen in den Schotterboden und hielt den alten Kodex mit aller Kraft fast waagerecht vor sich. Nun sollte es sich erweisen, ob er nicht erfolgreicher war als sein Vater und sein Großvater, die das Land erobert und dennoch kein Glück gehabt hatten mit ihrer Herrschaft über Movenna.
Ardua schlug das Buch auf, und das bläuliche Leuchten, das von den Seiten ausging, verstärkte sich. Im Licht des Buches konnte man erkennen, wie sehr seine Arme zerschunden waren von den nächtlichen Stürzen, und die zerrissene Hose gab den Blick auf Knie und Oberschenkel frei, in deren Fleisch der feine rote Steinstaub sich tief hineingefressen hatte. Doch Ardua fühlte keinen Schmerz in diesem Augenblick.
Mit den Fingerspitzen wandte er die rauen, steifen Pergamentblätter um, eines nach dem anderen. Er blätterte langsam, ohne Hast, aber für die kunstvollen Illustrationen oder die geheimnisvoll verschlungenen Initialen, die von Hexen zahlloser Generationen geschaffen worden waren, hatte er keinen Blick übrig. Er wusste genau, was er suchte. Endlich hatte er den Zauberspruch gefunden. Er las ihn durch, zweimal, dreimal und zur Sicherheit auch noch ein viertes Mal. Dann schlug er das Buch zu und sprach ihn aus:
„In den Bergen von Movenna wohnt der alte Riese Orkon,
Hüter roter Schotterhalden,
Wächter gelber Goldesadern,
Hort der Krone Eirikirs.
Wem Movenna ist zu eigen, dem gehören auch die Berge.
Wem die Berge sind zu eigen, dem gehorcht der Riese Orkon.
Wem der Riese ist zu eigen, der erlangt des Reiches Krone
von dem alten Riesen Orkon aus den Bergen von Movenna.“
Ein Blitz jagte durch die Nacht. Genau vor seinen Füßen schlug er in den Boden, und Ardua sprang erschrocken zurück, als er in dem plötzlichen Lichtstrahl erkannte, dass die Felswand, vor der er gelegen hatte, gar keine Felswand war. Entsetzt starrte er nach oben, erblickte steinerne Knie und den unbewegten steinernen Oberkörper, breite steinerne Arme waren vor der gewaltigen steinernen Brust verschränkt, und obwohl der Felsenkoloss saß, konnte Ardua den Kopf bereits nicht mehr erkennen.
„Ho ho“, lachte eine grollende Donnerstimme auf ihn herab, dass das Echo noch minutenlang die Berggipfel erzittern ließ. „Wer ruft nach Orkon?“
„Ich bin es“, rief Ardua fest und laut zu ihm hinauf und hoffte, der Riese werde das Zittern seiner Stimme überhören. „Ardua, Sohn des Königs Jurtak und Kronprinz von Movenna. Als dein Herr und Meister gebiete ich dir, Orkon: Bring mir die Königskrone Eirikirs, die in allen Stämmen Movennas geehrt und geachtet ist. So lautet mein Befehl.“
Irgendetwas war falsch, entsetzlich falsch, etwas stimmte nicht, schoss es Ardua durch den Kopf. Klein und demütig hätte der Riese vor dem Meister des Zauberspruchs erscheinen müssen und auf seinen Befehl hin die strahlende Krone des Eirikir herbeibringen sollen. Aber von einem solchen Gelächter, wie es nun ertönte, hatte in Lournus Buch nichts gestanden. Mit fliegenden Fingern begann er erneut zu blättern, zerriss beinahe in seiner Hast eine der Seiten, endlich fand er das Blatt mit der Zauberformel, deren Buchstaben wirr vor seinen Augen zu tanzen begannen. Ardua stöhnte auf, als er den Butterfleck und einige verschmierte, kaum noch sichtbare Zeichenreste am Ende des Spruches bemerkte. Zwei Verse, mindestens zwei, waren hier verlorengegangen, verschwunden unter dem Geruch von ranziger Butter und frischem Pfefferkuchen, und nur noch Lournu selbst mochte wissen, wie man die Beschwörung Orkons korrekt zu Ende brachte. „Verwünschte Hexe!“, stieß Ardua ein drittes Mal hervor und taumelte rückwärts.
Der Steinblock hatte sich noch immer nicht bewegt, nur das Lachen beruhigte sich langsam. „Ho ho“, lachte Orkon ein letztes Mal, „ein fluchender kleiner Moglàt mit ’nem Buch. Und Eirikirs Krone will er haben. Sowas Komisches ist mir ja noch nie in den Weg gekommen.“
„Ich ...“ stammelte Ardua und wich weiter zurück, „ich – meine Mutter war eine Moven’Am. Jurtak mein Vater nahm eine Steppenprinzessin aus dem Stamm der Nearith zur Frau und machte sie zu seiner Königin. Ich bin ein echter Sohn Movennas ...“
Der Felsgigant antwortete nichts. Wieder wich Ardua einen Schritt zurück und versuchte gleichzeitig, in dem Buch einen, irgendeinen, hilfreichen Spruch zu finden. Aber die Zeichen waren plötzlich fremd und unlesbar geworden, und er erkannte keinen einzigen Buchstaben mehr. „Mein Vater gab mich zu Lournu der Hexe in die Lehre“, rief er ängstlich. „Sie soll mich in der Geschichte Movennas unterweisen – glaub mir, ich werde deinem Land ein guter König sein, wenn ...“ Ein weiterer Schritt rückwärts, dann noch einer und –
„Bleib stehen!“, herrschte ihn Orkon mit Donnerstimme an. Ardua erstarrte. „Ich glaube, ich muss mir dich einmal aus der Nähe betrachten. Momentchen, ich komme runter.“ Oben auf den Knien des Steinriesen bewegte sich etwas. Eine kleine, flinke Gestalt ließ sich über die Kante des linken Knies gleiten, rutschte daraufhin eher gemächlich das Schienbein herunter und sprang vom Fuß in den Schotterkies hinein. Ein kleiner, verhutzelter Zwerg, der Ardua nicht einmal bis zum Bauchnabel reichte, kam auf den jungen Prinzen zu, blieb vor ihm stehen und musterte ihn kritisch von oben bis unten. „Du hältst das Buch verkehrt herum“, stellte er fest.
Ardua wurde rot bis über beide Ohren. Hastig schlug er das Buch zu und schnaubte unwillig: „Das geht dich gar nichts an. Wer bist du überhaupt?“
Aber der Zwerg ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Gelassen lehnte er sich gegen den großen Zeh des Felsgiganten und fuhr fort, Ardua zu mustern. Schließlich zog er seine alte, zerkaute Tabakspfeife hervor, die er umständlich zu stopfen begann. „Man sollte meinen“, nuschelte er undeutlich mit dem Pfeifenrohr zwischen den Zähnen, „man sollte meinen, du wüsstest, wer ich bin. Immerhin hast du eben noch laut und deutlich nach mir gerufen.“
„Dann bis du – du bist ...?“, japste Ardua überrascht.
„Orkon der Bergriese, ja“, bestätigte der Zwerg. Er hatte inzwischen einen Holzspan entzündet und hielt die linke Hand schützend vor Flamme und Pfeifenkopf. Ardua betrachtete das putzige Männchen, das dort am Zeh des Steinriesen lehnte und an seiner Pfeife sog, mit großen, runden Augen. Endlich hatte der Tabak Feuer gefangen, Orkon der Zwerg begann vergnügt, vor sich hin zu paffen, und verbreitete einen schweren, nicht unangenehmen Vanillegeruch um sich.
„Aber wenn du Orkon bist“, fragte Ardua unsicher, „wer ist dann das da?“
„Wer?“ Der Zwerg blickte sich verwirrt um. „Ach, du meinst das da, das Steindingsbums?“ Er zuckte die Achseln. „Das haben die Menschen gebaut, vor langer Zeit. Ich glaube, es stellt König Eirikir dar, den letzten der sieben großen Könige. Weißt du, ich wohne da oben in seinem Bauchnabel, der ist sehr geräumig und schön trocken, muss man