Geschichten aus Movenna. Petra Hartmann

Geschichten aus Movenna - Petra Hartmann


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um sich den Bauch halten zu können, so sehr lachte Ardua. „Und vor so einem lächerlichen Winzling habe ich Angst gehabt“, lachte er lauthals, „es ist wirklich zu komisch.“

      Orkon der Bergriese schmauchte gemütlich weiter vor sich hin und betrachtete mit unbewegtem Gesicht den jungen Königssohn, der sich nur langsam wieder beruhigte. Erst als Ardua nach einigen Minuten mit seinem Gelächter zum Ende gekommen war, nahm der Zwerg die Pfeife aus dem Mund und brummte: „Ein halbausgebildeter Halb-Moglàt will mit einem halben Zauberspruch die Krone Eirikirs erlangen. Wer von uns beiden ist hier wohl die größere Witzfigur? Also, besser noch klein als halb.“

      „Entschuldigung“, murmelte Ardua. Er streckte dem Zwerg die Hand entgegen. „Es tut mir leid, nimm’s bitte nicht übel.“

      Orkon übersah die ausgestreckte Hand. Aber er blickte nicht unfreundlich dabei. „So, also du willst die Krone Eirikirs nach Hause tragen. Weißt du denn auch, dass keiner der sieben kleinen Könige, die nach Eirikir kamen, die Krone gefunden hat? Und sie waren alle hier und haben mich gerufen mit ihrem Zauberspruch. Mit dem ganzen Spruch, wohlgemerkt. Glaubst du etwa, ein komischer kleiner Halb-Moglàt kann erreichen, woran sieben echte Könige Movennas aus dem Stamm König Surbolds gescheitert sind?“

      „Die sieben kleinen Könige waren Schwächlinge“, sagte Ardua selbstbewusst. Jedenfalls hoffte er, dass es sich selbstbewusst anhörte. „Sie waren die kraftlosen Erben einer großen Zeit, die mit König Eirikir beendet war. Aber ich bin der Spross einer neuen Dynastie. Mein Großvater König Harvart eroberte Movenna durch die Kraft seines Schwertes. Mein Vater König Jurtak errichtete und festigte eine neue Königsherrschaft, wie es sie seit Eirikirs Tagen nicht mehr gegeben hat. Ich bin fähig, die Krone zu tragen, glaube mir. Bitte, lass es mich versuchen.“ Bei dem letzten Satz hatte Ardua seinen typisch mogalithischen Kinderblick eingesetzt. Lournu hatte er damit noch jedesmal herumgekriegt. Er war sich jedoch nicht sicher, ob er auch auf Wesen wirkte, die ihm nur bis zum Bauchnabel reichten.

      „Und obendrein würdet ihr damit endlich so etwas wie Achtung bei den Moven’Am erlangen“, ergänzte der Zwerg Arduas Rede und ignorierte demonstrativ den herzensbrecherischen Kinderblick.

      Der junge Prinz nickte. Selbst wenn man die stärkeren Waffen auf seiner Seite hatte, war es nicht angenehm, von den Eingeborenen als unerwünschtes Usurpatorenärgernis betrachtet zu werden. Die Krone Eirikirs konnte dem Königshaus der Moglàt eine Legitimation verleihen, die einen Mangel an Ahnen mehr als wettmachte. „Lass es mich versuchen, bitte“, bettelte Ardua.

      Der Zwerg schwieg. Langsam kletterte er den großen Zeh Eirikirs hinauf, bis er genau auf der Höhe von Arduas Gesicht angelangt war. Er fasste den Jungen unters Kinn und blickte ihm prüfend in die Augen. „Es ist wirklich zu schade, dass du nie König werden wirst“, murmelte er. „Wir hätten sicher viel Spaß miteinander. Aber wenn du darauf bestehst, gut, du sollst deine Chance haben.“ Ardua jubelte hell auf. „Freu dich nicht zu früh, mein Kleiner“, warnte der Zwerg. „Wer die Krone Movennas finden will, der muss den Pfad der Träume und Alpträume gehen, und selbst wenn er schließlich den Saal der Krone erreichen sollte, so ist noch nichts, aber auch wirklich gar nichts, dadurch gewonnen.“ Mit einem gewagten Salto kam Orkon vom Zeh des alten Königs herabgesprungen, dass der Schotterkies nach allen Seiten davon spritzte. „Ich sage dir jetzt die Regeln für den Weg zur Krone. Und es ist wichtig, dass du sie dir vollständig einprägst. Jede auch noch so winzige Abweichung bedeutet das Ende deines Weges. Dann verschwindet die Krone im Inneren der Berge, und sie wird sich von dir nie wieder berühren lassen. Hast du das verstanden, kleiner Prinz?“

      Ardua nickte ehrfürchtig.

      „Also“, sagte Orkon, „das Wichtigste, das überhaupt Aller-Allerwichtigste auf deinem Weg ist: Du darfst nicht sprechen. Kein einziges Wort, kein lauter Angstschrei, kein noch so leiser Seufzer darf über deine Lippen kommen, bevor nicht die Krone sicher und fest auf deinem bezaubernden Prinzenköpfchen sitzt. Kein Wort von jetzt an, verstanden?“

      Ardua biss sich fest auf die Lippen und nickte. Die Bedingung war leicht zu erfüllen. Schließlich galten die Moglàt nicht gerade als Schwätzer, nein ganz gewiss nicht.

      „Der Rest ist einfach“, fuhr der Zwerg, inzwischen wieder gemächlich geworden, fort. Er lehnte mit untergeschlagenen Armen an Eirikirs Zeh und plauderte im Tonfall movennischer Märchenerzähler: „Die ersten hundert Schritte musst du in absoluter Dunkelheit zurücklegen. Zähle sie sorgfältig mit, aber sprich die Zahlen nicht aus. Nach einhundert Schritten wird dir ein Licht erscheinen. Und was immer auch geschehen mag: Diesem Licht musst du folgen. Du wirst Spukgestalten sehen, die furchterregendsten Gestalten von ganz Movenna, vielleicht auch schöne, verlockende Bilder. Aber achte nicht darauf. Folge du nur immer deinem Licht, und es wird dich durch das Innere der Berge geleiten bis hin zu dem großen steinernen Saal, in dem die Krone Eirikirs seit neun Königsaltern verborgen ruht. Dann fasse sie an, mit beiden Händen, hebe sie hoch in die Luft, dann setze sie dir aufs Haupt, und wenn du das getan hast, wird sie unangefochten dein sein, und auch die Krone deiner Kinder und Enkelkinder. Aber du darfst nicht sprechen, bis zu diesem Moment. Denn sonst zerbricht der Pfad unter deinen Füßen, und die Krone Eirikirs sinkt zurück in die unerreichbaren Tiefen der Berge. Hast du das alles begriffen?“

      Ardua nickte schweigend.

      „Nun gut!“, rief Orkon. Er richtete sich hoch auf, und plötzlich kam es Ardua so vor, als sei er doch ein Riese, der mit seiner gewaltigen Faust zwischen Eirikirs Beinen gegen den Fels schlug. Donnernd fuhren die Steinmassen auseinander.

      Ardua schluckte lautlos, fast hätte er aufgeschrien vor Entsetzen. Schwarze, undurchdringliche Finsternis breitete sich hinter dem Felsriss aus, zwei Schritte weit konnte er noch sehen, doch was danach kam, was dort hinten im Dunkel auf ihn lauern mochte, das –

      „Und denk daran: keinen Laut, sonst ist alles verloren!“, brüllte der Bergriese ihn an. Er packte Ardua mit der Faust am Kragen und warf ihn hinein in die Dunkelheit. Noch während er durch die Luft segelte, schlossen sich die Felswände hinter ihm.

      Er stürzte auf unebenen Schotterboden und schlug mit dem Ellenborgen gegen eine Felskante. Mit zusammengebissenen Zähnen rappelte er sich auf, hastete in der ersten Panik zurück zur Tür, doch seine ausgestreckten Hände fuhren ins Leere. Wohin er sich auch wandte, der lichtlose Raum schien in keiner Richtung eine Begrenzung zu haben. Um ihn war Dunkelheit. Dunkelheit und absolute Stille. Und die Angst, die langsam heran kroch, mit jedem Herzschlag ein Stück näher. Hätte sich in diesem Augenblick eine Hand auf seine Schulter gelegt, der mogalithische Prinz wäre in hysterisches Schreien ausgebrochen und in wahnsinniger Flucht davon gestürzt. Doch nichts dergleichen geschah.

      Ardua, der unendliche Herzschläge lang wie erstarrt in der Finsternis gestanden hatte, fasste sich endlich. Einhundert Schritte, hatte der Riese verlangt. Dummerweise hatte er nicht gesagt, in welcher Richtung er gehen sollte. Doch Ardua hatte bei seinem hilflosen Herumtasten inzwischen ohnehin vollständig die Orientierung verloren. So konnte er kaum mehr tun, als aufs Geratewohl vorwärts zu stolpern, blindlings durch den wandlosen Raum, der nicht nur alles Licht zu verschlucken schien, sondern auch alle Geräusche. Ardua versuchte verzweifelt, wenigstens das Knirschen des Steinschotters unter seinen Füßen zu hören, doch selbst seine tastenden Schritte auf dem unebenen Fußboden blieben vollkommen lautlos. Siebzehn, achtzehn, neunzehn, zählte er in Gedanken peinlich genau mit und widerstand der Versuchung, die Zahlen laut auszusprechen. Langsam verstand er, warum Orkon ihn ausdrücklich vor dem Sprechen gewarnt hatte. Dreiunddreißig, vierunddreißig, fünfunddreißig. Denn das Schweigen des Raumes schien einen fast unwiderstehlichen Sog auf ihn auszuüben. Immer stärker wurde der Drang, ein lautes Wort zu sprechen, ein einziges nur, um die Stille zu zersprengen. Dies musste der Punkt gewesen sein, an dem die sieben kleinen Könige gescheitert waren. Zweiundfünfzig, dreiundfünfzig, vierundfünfzig. Irgendwo hier musste es passiert sein, sie hatten die undurchdringliche Lautlosigkeit nicht mehr ausgehalten, der Druck war zu groß für sie, und sie zerbrachen mit dem Schweigen auch ihren Pfad. Neunundsiebzig, achtzig, einundachtzig. Doch in Mogàl lernte man, sich zu beherrschen, er würde durchhalten, ganz sicher. Siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig und Einhundert ...

      Ardua fuhr erschrocken zusammen, als das Licht vor ihm aufflammte, obwohl er die


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