Geschichten aus Movenna. Petra Hartmann
sind die Könige Movennas
mit Lorman und Orsan
richtig aufgezählt.“
Das Lied von den Königen Movennas war gesungen worden. Und das am zehnten Geburtstag Arduas und unter den Augen der mogalithischen Garden. Scheue Blicke flogen zum Thron des Königs und seines Prinzen hinüber, doch Ardua summte nur die Melodie lustig mit und hielt das alte heilige Lied wohl für einen Kinder-Abzählvers. Jurtak aber blickte mit gespanntem Gesichtsausdruck und einem seltsam zufriedenen Lächeln auf den Sänger, der noch immer die Saiten rührte und weiterspielte, obwohl die Kette nun zu Ende gesungen war. Doch Rimuric spielte noch immer, noch immer spielte der alte Dichter. Dann öffnete er erneut den Mund. Und sang. Sang nach der Melodie der alten Kette. Dies waren seine Worte:
„Drauf Harvart der Große mit Heermacht gewann er
und mächt’gem Gefolge Movenna
Jurtak sein Erbe voll Umsicht und Weitblick
errichtet von neuem das Reich
aber als Stolz seiner Väter
strahle im Ruhme der Herrschaft
Ardua Blüte Movennas.“
*
Das Volk ging schweigend auseinander. Und wieder einmal fragte sich König Jurtak, was er von diesen Moven’Am eigentlich wusste. Eigentlich sehr wenig, schloss er seine Grübeleien ab, eigentlich so gut wie gar nichts. Nur das eine hatte sich wieder einmal als unerschütterliches movennisches Naturgesetz erwiesen, und das war die verwünschte Gelassenheit, die bei diesen Leuten immer wieder bei den unpassendsten Gelegenheiten zu Tage trat. Jubelrufe hatte er erwartet oder auch Unmutsäußerungen des Volkes, in jedem Fall aber erregte Diskussionen darüber, dass der König die Kette öffentlich hatte vortragen lassen. Doch in den Gesichtern der Untertanen war nichts zu lesen. Mit gleichmütigen Mienen trennten sie sich, sie gingen auseinander, ohne ein Wort oder auch nur einen Blick zu wechseln, jeder seines eigenen Weges, und Jurtak sah sich plötzlich allein mit seinen Moglàt auf dem Festplatz zurückgelassen und gab rasch das Zeichen zum Aufbruch, um die Entzweiung beider Nationen nicht allzu offenkundig werden zu lassen. Mit lautschallenden Fanfarenstößen trabten die Moglàt zurück nach Pol Movenn, und inmitten des Heervolks der kühnen Reiter wippte auf seinem Pony Prinz Ardua auf und ab und streute Goldmünzen aus, die niemand mehr aufsammelte.
Einzig Rimuric, der greise Sänger, blieb auf dem Platz zurück. Seine Hände glitten noch immer über die Saiten der Harfe. Noch einmal spielte er die Melodie der Königskette. Ein versonnenes Lächeln lag auf seinen Lippen, als er die Worte sang, die alten und die neuen Verse, würdig einer großen Tradition und des größten Dichters der Moven’Am. Die Kranichsepen hatten seinen Ruhm begründet, und die Diamantlieder konnte man in den Städten Movennas an jeder Straßenecke singen hören. Die Geschichte von Rayan und Yvalir schließlich war so tief in die Herzen des Volkes eingedrungen, dass viele sie für eine alte movennische Sage hielten, und nicht für die Dichtung, die sie war. Aber erst jetzt, fühlte der alte Dichter, erst jetzt hatte er sein wahres, sein größtes Werk geschaffen, als er die neuen Verse an den heiligen Gesang anfügte. Und so die längst vergangene Zeit der Heroen mit der kräftigen Gegenwart einer neuen Epoche verknüpfte. Ein letztes Mal spielte er das Lied der Könige, dann nahm er die schwere Winterbaumharfe auf und schlug den Weg zur Stadt ein.
Oh, er hatte es sich wahrlich nicht leicht gemacht. Niemand würde sagen können, er habe leichtfertig gehandelt oder sich gar kaufen lassen. Der Dichter kicherte leise, als er an Jorn zurückdachte. Jorn, der alte Waffenmeister Jurtaks, der schon unter Harvart gedient hatte. Ein beeindruckender Mann, zweifellos, dieser alte Kämpe in der verbeulten Rüstung, die er noch trug aus der Zeit, als er das Land erobert hatte. Zweimal erobert hatte, zuerst unter Harvart, dann ein zweites Mal als Mentor des jungen Königs Jurtak.
Rimuric sah den Helden noch immer vor sich stehen, breitbeinig im Wohnzimmer, genau vor dem Bücherregal, vor dem er keinerlei Ehrfurcht zu haben schien.
„Bist du der Dichter Rimuric?“, tönte seine raue Stimme in die Ohren des Sängers. „Der, den sie den Barden Movennas nennen?“
„Es mag wohl sein, dass mich der eine oder andere so genannt hat“, entgegnete der Verfasser der Yvalir gelassen.
Da griff der Krieger in seinen Brustharnisch hinein. „Das hier schickt dir mein König.“
Ein prallgefüllter Lederbeutel segelte durch die Luft und schlug schwer auf dem Schreibtisch Rimurics auf. Der volle, satte Klang hatte wenig gemein mit dem Geräusch, das eine normale Poetenbörse beim Aufprall verursachte.
„Einhundert movennische Reichstaler Königsgold“, verkündete Jorn prahlend. „Wenn du mich fragst, ein stolzer Preis für ein wenig Reimerei, aber Jurtak muss ja wissen, was er tut.“
Da ergriff Rimuric den Beutel mit den Münzen, wog ihn gleichmütig in der Hand und warf ihn schließlich ebenso gleichmütig zum Fenster hinaus.
„Sag deinem König“, lächelte er Jorn an, „Movennas Dichter habe keine Verwendung für mogalithisches Gold.“ Und als Jorn aus dem Haus stürzte, um den kostbaren Dichterlohn wieder aufzulesen, hatte der Barde Movennas die Tür hinter ihm verschlossen.
Rimuric lächelte vor sich hin bei der Erinnerung an diesen Abgang des riesenhaften Moglàt. Man sollte es nicht für möglich halten, wie sich ein alter schwacher Mann bei einem solchen Fleischberg in Achtung setzen kann.
Inzwischen hatte er sein kleines Häuschen erreicht, das ein wenig außerhalb der Mauern auf einer kleinen Anhöhe lag. Wohlgefällig glitten seine Augen über den gepflegten Vorgarten und über die vielen bunten Blumen, deren Farbenpracht auch jetzt noch, im Licht der untergehenden Sonne, eine außerordentliche Leuchtkraft hatte. Nur wenige Dichter konnten einen solchen Garten ihr eigen nennen, dachte Rimuric stolz. Und nur wenige Dichter hätten je einen Krieger wie Jorn ihrer Wohnung verwiesen. Während er die Haustür aufschloss, wanderten seine Gedanken erneut zu Jorn und zu dem Boten, der nach ihm gekommen war. Wieder kicherte er. Und dachte an Gulltong, den geschmeidigen Ratgeber Jurtaks.
Gulltong war einen Tag später bei ihm erschienen. Noch immer glaubte der Dichter in seiner Wohnung den schweren, süßlichen Parfümgeruch wahrzunehmen, den der Moglàt hinterlassen hatte. Gulltong war ein Freund schöner Worte und kannte, im Gegensatz zu Jorn, die Schriften Rimurics sehr genau.
„Ich habe stets den Wohlklang und die klugen Gedanken deiner Kranichsepen bewundert, Barde Movennas“, begann der Moglàt das Gespräch. Und als Rimuric bescheiden dankte, fuhr er fort: „Man hat mir erzählt, die Geschichte sei frei erfunden. Doch das habe ich nie so recht glauben wollen. Schon als kleines Kind daheim in Mogàl war ich überzeugt, dass eine große Wahrheit in den Versen verborgen lag. Ich habe lange darüber nachgesonnen, Rimuric. Und nun glaube ich, sie gefunden zu haben.“
„In jeder großen Dichtung liegt Wahrheit verborgen“, nickte Rimuric zustimmend. „Ich freue mich, dass mein Kranich dir so viel davon geben konnte.“
„Und dennoch erschien mir die Geschichte des Kranich um vieles wahrer als manche andere Erzählung“, lächelte Gulltong. „Du hast darin die Abenteuer eines fremden Ritters beschrieben, der aus einem sagenhaften Land im Osten nach Movenna kam. Gayol der Kranich besiegte alle Ritter des Reiches, denn er war stark und mutig. So erwarb er die Hand der movennischen Prinzessin, und nach des Königs Tod gewann er die Herrschaft über das Land und war ihm ein weiser und gerechter Fürst.“
„Das alles wurde in den Kranichsepen berichtet, ja“, sagte Rimuric. „Aber einen historischen Gayol hat es, wie du weißt, nie gegeben. Nicht zur Zeit der sieben großen und nicht am Hof der sieben kleinen Könige.“
„Und dennoch irrst du dich.“ Gulltong beugte sich erregt vor. „Ich spreche nicht von vergangenen Zeiten, wenn ich die Wahrheit der Kranichsepen suche. Nein, Rimuric, nicht in den alten Zeiten habe ich deinen Gayol gefunden. Als du die Verse schriebst, leitete dich ein prophetischer Geist. Nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft deines Landes hast du beschrieben. Jurtak ist es, den du verkündet hast. Dem ganzen Volk hast du, Jahrzehnte vor seiner Ankunft, den neuen König gezeigt,