Der Krieg. Barbara E. Euler
es und immer weiter und gab den Takt vor für den melodischen Sprechgesang, den der Großmeister jetzt über dem Gefäß anstimmte, während er begann, langsam den schwarzen, geschmückten Sarg Gabriels zu umrunden.
Requiem aeternam dona ei, Domine, et lux perpetua luceat ei. Te decet hymnus, Deus, in Sion, et tibi reddetur votum in Jerusalem. Exaudi orationem meam, ad te omnis caro veniet. Requiem aeternam dona ei Domine.
Die Orgel schwieg; Herigold war alleine mit seiner Stimme und dem rhythmischen Klirren des Weihrauchfasses und der großen, atemlosen Stille der Gemeinde. Nur das wohl riechende Rauchopfer begleitete seinen Gesang, stieg mit diesem empor bis unter das hohe Gewölbe und weiter wohl, bis zu den Engeln, so wie er sang.
Cornelis sah, wie der Großmeister das Rund um den Sarg mit seinen Schritten festlich zu Ende schrieb und still verharrte; wie durch einen Schleier sah er es und versuchte gar nicht erst, sich einzureden, dass es vom Weihrauch käme, und er war nicht alleine, des Großmeisters Gesang hatte viele angerührt. Jolanthe, in das Chorgestühl gekauert, hatte einen Trauerschleier vors Gesicht gezogen. Andurkan verfügte nicht über solche Mittel. Es würde nicht nötig sein, er war der König, mutig, stolz und unverzagt, jetzt jedenfalls und hier und solange der Tee wirkte. Lange genug.
Dann durften sie sich wieder erheben. Der Physikus lehnte sich gegen die Säule und beobachtete, wie der Großmeister grazil einen Messdiener heranwinkte und dem blonden Jungen den Weihrauchkessel übergab, ehe er sich nun der Kanzel zuwandte. Langsam stieg Herigold die üppig geschnitzte Wendeltreppe empor, sein Mantel folgte ihm wie eine Schleppe, es sah aus, als schwebte der Großmeister, schwerelos, heilig, in einer Wolke von Weihrauch, die der blonde Junge ihm hinterhergesandt hatte, wie eine Kusshand so leicht. Als er die letzte Stufe genommen hatte, ließ der Großmeister seinen dunklen Blick über die Menge gehen. Fest umfassten seine manikürten, goldberingten Hände das reich verzierte Pult, zu dessen Seiten schwere silberne Kandelaber Licht spendeten. Über Cornelis, der nahe saß, senkte sich der süße, warme Duft der kostbaren Wachskerzen. Die Flammen standen unbewegt, wie gebannt.
„Ein Held ist von uns gegangen.“ Sanft und eindringlich und klar strömten Herigolds Worte über die Gemeinde hin. „Ein Freund. Ein frommer Mann.“ Herigold nahm eine Hand vom Pult und malte eine offene, grüßende Geste in Richtung des Chores, während er demütig den Kopf neigte. „Hoheit“, sagte er, als er wieder hochsah, und bettete die schöne Hand an das Pult zurück. Seine weichen Lippen schimmerten. Die Flämmchen hatten zu tanzen begonnen. Jolanthe sah zu ihm hoch und hob den Schleier vom Gesicht. Der Physikus beobachtete, wie sich ihre Blicke verschränkten, einen Herzschlag lang, zwei. Andurkan bewegte sich nicht. „Majestät“, sagte der Großmeister jetzt und beugte wieder das Haupt. Andurkan kehrte ihm sein Gesicht zu, das trocken und ruhig war wie das von Unak, der mit der Palastwache zwischen den Säulen stand.
„Brüder und Schwestern“, klang es nun aus Herigolds Mund. Leise begannen sich die wie mit einem Zauber belegten Menschen wieder zu rühren. Füße scharrten. Hie und da stahl sich ein Wispern durch die Stille.
„Der Tod…“, sagte Herigold nun in lauerndem Mezzoforte und alles Geräusch erstarb sogleich, „…. er hat ihn geholt“; die Stimme hatte ihr eindringliches Piano wieder aufgenommen. Hunderte Augenpaare richteten sich auf den Großmeister. Den Retter in der Not. Den einzigen. Den schönsten. „Gott hat ihn geholt“, fuhr der Großmeister fort. „Zu sich geholt in sein Reich. Er war ein guter Mann. Er war fromm. Und er hatte Mut. Mut!“ Das laut gesprochene Wort ließ die dicht gedrängte Gruppe Nonnen in Cornelis Nähe zusammenzucken. Blicke schnellten hoch und senkten sich wieder, fahrige Hände rückten schwere Kreuze über der Brust zurück und falteten sich wieder zusammen. „Den Mut, sich den Ungläubigen entgegenzustellen. Den Heiden. Den Gottlosen!“ Herigold verharrte, fuhr sich über das Gesicht, wisperte jetzt. „Den Gottlosen, die ihm das Leben nahmen…“ Er ermannte sich und gab seiner Stimme neue Kraft für ein sanft ansteigendes Crescendo. „Das Leben, ja, doch nicht der Seelen Seligkeit. Gabriel fiel herrlich im Kampfe, im Kampf für den Glauben fiel er, für seinen Glauben. Für unseren Glauben. Gott liebt ihn. Gott liebt ihn… Und sein Opfer, sein Opfer… war nicht umsonst. Denn er tat es für uns. Für uns gab er sein Leben. Für dich!“ Seine zarte Hand, halb bedeckt von der samtenen Stola, wies auf einen Mann – „Und für dich. Und für dich. Und für dich“. Im Rhythmus der Worte pickte sein Finger Menschen aus der Menge, die die Augen aufrissen. „Und für dich. Und für dich!“ Herigold trat einen Schritt zurück, die Gemeinde im Blick, schweigend. Dann schob er sich ganz nah an die Balustrade, die Brust gewölbt. „Gabriel hat sich für uns geopfert. Und viele vor ihm. Viele haben sich für uns geopfert, prachtvolle Männer, edle reine Seelen, den Heiden hingeworfen… Nein... Hingegeben haben sie sich, hingegeben für ihr Land, für ihren Glauben, für uns. Für uns… Doch wir… was machen wir?“ Mit der Rechten schlug er sich vor die Brust. „Noch mit seinem letzten Atemzuge sehnte Gabriel sich nach Gott. Hier wollte er sterben, hier! In Todesnöten zog es ihn in diese unsere Kathedrale, keines irdischen Arztes bedurfte er…“ – der Großmeister sah Cornelis ins Gesicht, eiskaltes Leuchten in den dunklen Augen, „… er hatte an seinem himmlischen Heiler genug. Seinem Heiland. Dem Retter der Welt… doch wir – was machen wir?“ Cornel of Clovesborough erwiderte den Blick freundlich interessiert. Es war fast wie im Felde hier.
„Wir essen und trinken, wie säen und ernten, wir handeln, feilschen, fressen, saufen, huren…“ Herigold nahm die Hände vom Pult und betrachtete seine Gemeinde. Dann bellte er weiter. „Wir achten ihn nicht, unsern Heiland, wir achten nicht seine Gebote. Wir verschließen die Augen, wo wir wachsam sein müssten, wir vertrauen, wo wir anklagen müssten, wir übergehen, was wir wissen müssten – d a s s d a s B ö s e m i t t e n u n t e r u n s i s t!“
Wieder zuckte die schmale Hand über die Leute. „Da! Und da! Und da!“ Die Hand sank auf das Pult. „Ein jeder ist schuldig“, raunte der Großmeister jetzt. Seine dunklen Augen streiften über die Menge. Bei der Gruppe der Nonnen hielten sie inne. „Wer das Böse duldet, auf den wartet nur eines: die Hölle. Teuflische Flammen…“, seine Finger züngelten im Takt seiner Worte, „ewige Qualen… unsägliche Schmerzen… und keine Erlösung. Keine.“
Es war wie im Feld. Cornelis heftete seine Augen auf den schwarzen Sarg und hoffte, dass Gabriel weit, weit weg war.
Auch Herigold wies jetzt nach dem Katafalk. „Des edlen Ritters Herz, Gott sei seiner Seele gnädig und das ewige Licht leuchte ihm, es hing an unserem Kloster, Gott weiß es. Was er besaß, teilte er mit den Schwestern. Mit euch! Aber verdient ihr es? Widersteht ihr dem Bösen – widersteht ihr?“ Als eine Novizin zu weinen begann, besann er sich. Er nahm das Funkeln aus seinen Augen und machte das Gesicht glatt und weich wie seine Stimme. „Auch die Große Heilige Kirche ist dem Kloster wohl gesonnen und stiftet Reichtümer für fromme Werke und hält ihren Arm schützend über Euch.“ Sein dunkel bewimperter Blick berührte eins ums andere der streng verschleierten Frauengesichter und wanderte dann bedächtig über die ganze Gemeinde hin – die Edlen und Kleriker, die anmutigen Damen auf der Balustrade, die Bürger und Kaufleute, und auch über das niedere Volk, das sich hinten drängte, ließ der Großmeister seine dunklen Augen gehen, voll ruhigen Ernstes erwiderte er der Menschen Blick, als kennte er einen jeden mit Namen und oft war es auch so. „Betet und seid gut. Seid gut. Auf dass Euer himmlischer, schutzgewährender Heiland und seine Große Heilige Kirche Euch gewogen bleiben auf ewig. Amen.“ Mit einer perlenden Bewegung seiner feinen Finger löschte der Großmeister die Flammen und glitt die hölzernen Stufen herab.
Orgelklang brach in die Stille und der Oberpriester stimmte ein Lied an und alles Volk befreite die angehaltene Luft in inbrünstigen Kehrversen.
Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto, sicut erat in principio et nunc et semper et in saecula saeculorum, amen.
Bescheiden fügte Herigold seine Stimme in des Volkes Widergesang, während er nun den Großen Schlüssel entgegennahm, den ein Ordensbruder ihm unter tiefen Verneigungen auf einem Silberteller darbot. Herigold, immer noch singend, fasste ihn ehrfürchtig und verneigte sich ebenfalls. Hoch hielt er den schimmernden Schlüssel, dass alles Volk ihn sähe.