Der Krieg. Barbara E. Euler
Cornelis und stützte sich gegen eine Säule. Vorsichtig öffnete der Bader des Leibarztes seidenes Doublet und betastete ihn, kundig und sacht. Langsam sog Cornelis Luft zwischen die zusammengebissenen Zähne. Gebrochene Rippen taten weh, doch Mohn und Bilsenkraut konnte der Physikus jetzt nicht gebrauchen. Es wurde besser, als Zand ihm behutsam eine feste Binde um die Brust gewunden hatte. Schon drängten die nächsten Verwundeten. „Danke, Kollege“, sagte Cornelis leise, während sie weiterarbeiteten. „You’re welcome“, grinste der Bader und brachte mit entschlossenem Ruck einen verrenkten Knöchel zurecht.
Später bemerkten sie, dass es einen Toten gegeben hatte. Der alte Zigeuner war einfach umgefallen. „Das Herz“, sagte Cornelis sanft, als er die klugen, runzligen Schildkrötenaugen schloss, „o jilo“. Die Leute nickten und wickelten den Toten in einen dünnen Mantel und trugen ihn fort. Alle gingen sie nun fort. Der Weg war frei. Auch draußen hatte man den Tumult zerstreut und ein jeder ging durch die stumme Stadt an seinen Platz zurück und suchte zu begreifen, was geschehen war.
Niemand nahm es dem König übel, dass er im Alabastersaal einnickte, ehe man die Desserts des Leichenschmauses für die Edlen und Kleriker aufgetragen hatte. Längst hatte die Nacht sich über die Burg gesenkt. Jolanthe und Herigold würden die Gäste auch weiterhin aufs Trefflichste bei Laune halten. Unak begleitete seinen König zu dessen Gemächern und half ihm ins Bett und fiel auf der Matte vor des Königs Bettstatt in der Leibwächter flachen Schlaf.
Wie jede Nacht träumten sie denselben Traum, der keiner war.
Die Schlacht tobte schon über Stunden. Trotz einer klaffenden Fleischwunde in seinem Oberschenkel ging Andurkan erst zu Boden, als eine Lanze ihn aus dem Sattel schlug. Unak, der eng an seiner Seite ritt, riss die Füße aus den Steigbügeln und warf sich über seinen Herrn und bedeckte ihn mit seinem starken Leib, dass ihrer beider Blut sich mischte, doch da war Andurkans mächtiges Schlachtross, von tödlichem Schrecken irr geworden, bereits über den König hingaloppiert und hatte in ihm zerbrochen, was zu zerbrechen war, und ES war geschehen. Unak richtete sich auf und pfiff nach seinem Hengst und nahm den zerschmetterten Körper in der schweren, zerborstenen Rüstung in seine Arme und hob ihn auf das Ross und saß hinter ihm auf und legte sich auf ihn und stob durch die brausende Schlacht hinaus ins Lager, wo die Wundärzte waren…
Unruhig wälzte der Leibwächter sich im Schlaf. Die Erinnerung schmerzte.
Erst als er mit den Ärzten Andurkans Harnisch geöffnet hatte, hatte er sein eigenes heftig aus vielfachen Wunden strömendes Blut bemerkt und das Bewusstsein verloren. Als es den Feldscheren schließlich gelungen war, Unaks Wunden zu schließen, stand das Blut in einer Lache. Aber Unak war zäh und er erwartete nichts. Schmerzen und Schwäche verlachend, hatte er seinem König gedient mit inniger Fürsorge. Andurkan, der in wilden Fiebern lag, wurde des Kameraden Verwundung nicht gewahr und Unak erzählte es ihm nie. Es war nicht von Belang. Als der König den Fieberträumen endlich entrissen war, waren Unaks Wunden genesen und die alte Stärke war zurück.
Ohn’ jedes Zögern hatte er sein Leben in die Waagschale geworfen für das seines Herrn, doch tausendmal hatte Unak sich seither verwünscht für den einen Augenblick, den zu spät er sich über Andurkan gebreitet hatte, um selbst die Huftritte der verrückten Mähre zu empfangen und sich zermalmen zu lassen und ES zu erleiden. Tausendmal hatte er zu Orestun um Vergebung gefleht, doch wer sich selbst nicht vergeben kann, braucht nach der Heiligen Gnade nicht zu fragen. Aber auch wenn bisweilen Schmerz und Gram ihn schier zerfraßen – nicht einen Flügelschlag lang wär’s ihm in den Sinn gekommen, des Königs Ohr mit eines unwerten Dieners Sorge zu beleidigen. Und so war Unak freundlich und stark und tat seinen Dienst fraglos und unerschütterlich und treu.
Zehntes Kapitel
Auch nach Tagen war keiner über sie gekommen. Plötzlich musste Lelle daran denken, als sie den Hasen sah, den der kunstvoll geschnitzte Pfeil Bantaks nicht getötet, sondern nur am Boden festgenagelt hatte, dass das Tier zappelte und schrie. Sie waren ganz alleine hier im Wald, sie und Bantak, der Zigeuner, der den komischen kleinen Ritter zu einer Jagdpartie mitgenommen hatte; aus Neugier; aus Lust… Lust auf Töten. Lust auf Liebe… Lelle fragte sich, was er in ihr sah. „Geht mit ihm!“, hatte Moira gesagt.
Bantak packte den Hasen, dessen rehbraunes Fell sich voll Blut zu saugen begann, und zog den Pfeil aus dem Boden und aus dem weichen, zuckenden Körper und hatte plötzlich ein Messer in der Hand und durchschnitt dem Hasen die Kehle und es war vorbei. Er hielt den Kadaver von sich weg, dass das Blut in die Erde lief, und grinste. „Häuten und ausnehmen!“, sagte er, als er ihr das Tier zuwarf. Das blutige Tier flog gegen Gabriels Mantel. Lelle packte den warmen Körper und beugte sich darüber und sog den herben Geruch des Blutes ein. „Das Messer“, sagte sie rau. Bantaks Grinsen erstarb. Zögernd reichte er ihr das Jagdmesser. Lelle nickte. Es war kein Skalpell, aber es war scharf und die Spitze lang und schmal. Der Anblick beruhigte sie und schärfte ihr die dämmrigen Sinne und lüftete den Schleier, den Moiras Tees darüber gelegt hatten, weil Lelle wieder geschrien hatte in der Nacht.
Wie sie es bei Bantak gesehen hatte, bereitete sie ein Bett aus frischen Farnen und legte den kleinen Hasen darauf. Sie zitterte, aber nicht aus Furcht, sondern aus Erregung, weil sie so lange auf diesen Moment gewartet hatte. Weil sie eine Sünde begehen würde, zumindest in ihren Gedanken. Jetzt. Ohne Zaudern schlitzte sie den Rücken auf und zog die fellbewachsene, feste Haut ab und reichte sie dem Zigeuner. Dann eröffnete sie das Tier mit einem entschlossenen Schnitt in den Bauch. Da. Das Herz. Die Lunge. Die Leber. Der Magen. Der Darm. Mit den Fingern befühlte sie die warmen Eingeweide. Chirurgen wurden in der Küche gemacht. Oder auf dem Schlachtfeld. Oder in den Leichenhallen, wenn es ihnen egal waren, ob sie lebten oder gehenkt wurden; verbrannt; gerädert; alles war möglich. „Pass mit der Galle auf“, sagte Bantak. Dann sagte er nichts mehr. Mit einem sauberen Schnitt löste Lelle das rot glänzende Herz aus dem kleinen Körper. Zügig nahm sie das Tier weiter aus. Einen Moment lang überlegte sie, ob es ihr egal war, ob sie lebte oder verbrannt würde oder gehenkt. Sie wusste es nicht und selbst die Frage war ihr gleichgültig, weil jetzt die kleinen Nierchen vor ihr lagen; die Nieren, die mit ihren Steinen diese unsäglichen Schmerzen bereiten konnten. Es gab Tees. Und es gab Steinschneider. Lelle lächelte bitter. Steinschneider, die an Hasen übten. An Schweinen, wenn der Patient Glück hatte. An anderen Patienten. An ihm. Manchmal brachte man solche noch ins Hospiz. Lelle dachte an Werogand. Er hatte so geschrien, bis zum Schluss. Liebe Gottesmutter Maria voll der Gnaden, warum? Und nie wurde wer belangt. Die Bader holperten weiter mit ihren klapprigen Wägen, in routinierter Eile, um im nächsten Weiler weiter zu morden gegen Geld.
Lelle war fertig. Sie reinigte ihre Hände und das Messer mit weichem Moos und reichte Bantak das Messer und den ausgenommenen Hasen, dessen Leib sie sorgsam zugeklappt und in grünen Farn gewickelt hatte. Sie übergab ihm auch die Innereien, die man essen konnte, ein kleines Paket aus Blättern, frisch und sauber. Das Herz. Den Magen. Die Leber. Eigentlich aßen diese Leute alles. Fast alles. Was unbrauchbar war, hatte sie im weichen Waldboden vergraben. Stumm steckte Bantak die Beute in seine speckige Ledertasche. Das Messer schob er in seinen Gürtel zurück. Er versuchte das junge, harte Gesicht unter der Kapuze zu lesen, doch das blättrig grüne Dämmerlicht verwischte jeden Ausdruck. „Danke“, knurrte er und sie stapften weiter. Bantak erwischte noch zwei Hasen, eine Bisamratte und zwei Eichhörnchen, die Lelle alle ausnahm, das Gesicht glänzend vor mühsam verhohlener Freude. Schließlich kamen sie heim.
Wieder war da das Feuer, das durch die Bäume schien. Das schimmernde Wasser. Das Lachen. Die Musik. Mit einem Mal begann Lelle nach Atem zu ringen, weil hartes Schluchzen ihr die Kehle zuschnürte. Statt weiter Bantaks federndem Schritt zu folgen, sank sie hilflos auf das Wurzelwerk nieder und ballte die Fäuste. Auf einmal war alles wieder da. Alles. Alles, was dort in der Kathedrale geschehen war. Kein Bilsenkraut hatte das auslöschen können. Alles tanzte jetzt in ihrem Kopf, die bunten Kirchenfenster, die Orgelklänge, der Pastor im feuchten Mantel, der regennasse Habit, das Kreuz, das Fläschchen. Eine Lederkapsel. Ein afrikanisches Lied. Eine Wunde ohne Blut. Tränen in Augen, in denen sich die ihren spiegelten. Lelle schlug die Hände vors Gesicht und weinte, bitterlich und lange.
Endlich