Das Grab der Lüge. Ben Worthmann

Das Grab der Lüge - Ben Worthmann


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nur eine Sammlung guten Rotweins gebe, sondern auch ein beachtliches Sortiment feinen Whiskeys. Das sei ihm durchaus bekannt, sagte der Anwalt, schließlich sei er ja früher häufiger bei dem alten Herrn zu Gast gewesen. Und nicht selten habe er anschließend sein Auto stehen lassen und sich ein Taxi für die Heimfahrt bestellen müssen.

      Diesmal kam er gleich zu Fuß. Wie immer trug er einen tadellos sitzenden Anzug, aber jetzt ohne Krawatte und mit offenem Kragen, und als er beim Haus angelangt war, zog er sein Jackett aus und krempelte sich die Hemdsärmel ein Stück auf.

      „Puh, solch eine Wanderung zu Ihnen hinaus kann einen alten Mann dann doch ganz schön ins Schwitzen bringen“, meinte er und wischte sich mit einem Taschentuch über die hohe Stirn. Es war ein sehr milder, fast zu warmer Abend. Sie beschlossen, es sich draußen auf der überdachten, schmalen Terrasse bequem zu machen, wo eine hübsch geschnitzte Bank und ein kleiner Tisch standen. Sie ging nach vorn heraus, mit einem Durchgang zum Wohnzimmer, und da das Fundament des Hauses nicht ebenerdig abschloss, sondern ein Stück aus dem Boden herausragte, hatte sie vom Garten aus einen Aufgang mit fünf Stufen, genau, wie zur Haustür ein entsprechender Treppenaufgang führte.

      Philipp brachte eine Flasche Glenfiddich, Wasser und Eis sowie ein bisschen Knabberzeug. Zu Abend gegessen hatten sie beide schon vorher. Philipp dachte nicht daran, sich zu betrinken, auf gar keinen Fall wollte er das, aber er hielt es doch für vertretbar, sich jetzt mal einen Schluck zu gönnen.

      „Und? Schon ein bisschen heimisch geworden inzwischen? Jedenfalls scheinen Sie ja eifrig dabei, Ihren neuen Besitz so richtig in Beschlag zu nehmen“, meinte Meinecke und schaute sich anerkennend um. Er war ein ziemlich kleiner, fast zierlicher Mann von Ende fünfzig mit Halbglatze und Brille. Er redete ziemlich schnell und benutzte oft die schmalen Hände, um seinen Worten mit lebhaften Gesten Nachdruck zu verleihen. Und er hatte einen angenehmen, etwas spröden Humor. Philipp hatte ihn zu schätzen gelernt, auch wenn ihre Gespräche bis dahin kaum je privater oder persönlicher Natur gewesen waren.

      „Nun ja, es ist schon eine ganze Menge Arbeit, aber ich habe ja Zeit und zum Glück nichts anderes zu tun. Ich merke, dass mir die körperliche Arbeit guttut. Und außerdem gibt es ja hier immer noch viel zu entdecken.“

      Sie stießen an und tranken. Der Anwalt machte eine lobende Bemerkung. Philipp verstand nicht viel von Whiskey, aber dass dies hier ein guter war, merkte auch er und genoss die wohlig weiche wärmende Wirkung. Er brachte die Sprache auf die Abfindung. Meinecke musste ein bisschen schmunzeln, weil Philipp ihn als Finanzberater bezeichnet hatte und meinte, im Grunde sei er das ja auch, „genau wie für Ihren, nun ja, Vorgänger, wenn man so sagen will.“

      „Zum Glück“, sagte Philipp. „Allein wäre ich sonst ziemlich aufgeschmissen.“

      „Diese Sache mit Ihrem früheren Arbeitgeber werde ich natürlich regeln, kein Problem. Um wie viel geht’s denn bei der Abfindung?“

      „Fünfzigtausend.“

      „Na, immerhin, das ist kein Pappenstiel, wenn auch nicht gerade die Welt für jemanden in Ihren Verhältnissen. Andere würden sich da jedenfalls nicht lange bitten lassen und umgehend noch mal bei ihrem früheren Chef vorbeischauen. Aber Sie scheinen ja mit all dem endgültig abgeschlossen und nur noch ihre Ruhe haben zu wollen.“

      „Stimmt, ja, da haben Sie recht.“

      „Täusche ich mich oder haben Sie sich bisher regelrecht so ein bisschen verkrochen? Das ist ja fast ein Einsiedlerleben, das Sie hier führen. Nicht gerade das, was eigentlich von einem jungen, attraktiven und obendrein wohlhabenden Mann zu erwarten wäre. Ich sage Ihnen, im Ort wird schon ganz schön getuschelt und geredet über Sie. Vielleicht sollten Sie doch so allmählich mal ein bisschen Kontakt zu den Eingeborenen hier aufnehmen. Immerhin gehören Sie ja hier nun zu den oberen Zehntausend. Wobei das vielleicht etwas übertrieben ist. Obere Hundert wäre wohl passender bei gerade mal gut zwanzigtausend Einwohnern“, korrigierte er sich sogleich. „Fünfzig würden es zur Not auch tun.“

      „Alles zu seiner Zeit“, antwortete Philipp. „Dieses Einsiedlerleben hier bekommt mir bisher ganz gut. Ich brauche noch ein Weilchen ganz für mich.“

      Das Haus lag ungefähr eineinhalb Kilometer außerhalb der kleinen Stadt, völlig abgeschieden, ohne Nachbarn. Das letzte Stück der schmalen asphaltierten Straße, die größtenteils durch den Wald dorthin führte, war als Privatweg ausgewiesen. Er endete vor einem großen, zweiflügeligen Tor aus verschnörkeltem Schmiedeeisen, an dem sich eine Klingel und der Briefkasten befanden. Es bildete den Durchlass, auch für Fahrzeuge, in der gut halbhohen, teils mit efeubewachsenen Mauer aus Bruchsteinen, die das eigentliche Hausgrundstück mit einer Fläche von rund anderthalbtausend Quadratmetern umgab. Vom Tor führten ein plattierter Weg zur Haustür an der linken Seite und ein weiterer, breiterer aus Pflastersteinen zu der Remise, die ein Stück abseits an der rechten Grundstückseite stand. Die Fläche davor nutzte Philipp als Stellplatz für seinen Wagen.

      Nur einige Male war er bisher in den Ort gefahren, um sich mit Lebensmitteln einzudecken, Anmeldeformalitäten im Rathaus zu erledigen und bei der Bank vorbeizuschauen, um ein neues Konto einzurichten. Dass man ihm dort mit besonderer Freundlichkeit begegnete, überraschte ihn zwar nicht, vermittelte ihm aber doch ein sehr ungewohntes Gefühl.

      Meinecke betrachtete ihn mit schräg gelegtem Kopf und lächelte.

      „Na ja, so ein gewisser Hang zum Eremitendasein hängt wohl hier im Mauerwerk. Aber im Ernst, ein bisschen gewundert hat es mich schon, wie schnell Sie bereit waren, Ihre Zelte in der Großstadt so gründlich abzubrechen und hierher aufs Land zu ziehen, in dieses biedere Nest. Das hatte ja fast etwas von einer Flucht. Ich hätte gedacht, dass Sie etwas mehr Bedenkzeit benötigen würden, egal, was Sie hier an Besitz erwartet. Lassen Sie mich raten. Eine Frauengeschichte? Stress im Job? “

      Philipp zögerte einen Moment. Dann füllte er die Gläser nach, sie stießen erneut an und er begann zu erzählen, was ihm widerfahren war - die ganze schreckliche, verrückte Geschichte. Als er geendet hatte, atmete sein Besucher tief durch und sagte nur: „Du lieber Himmel, das ist ja kaum zu glauben. Manchmal passieren wirklich Dinge im Leben ...“

      2.

      In letzter Zeit hatte Philipp viel über sich und sein Leben nachgedacht und darüber, wie es knapp dreiundvierzig Jahre lang verlaufen war, bis es dann plötzlich und ganz unverhofft eine solch abrupte, verrückte Wende genommen hatte. Aber gesprochen hatte er darüber bisher mit niemandem. Der Boden war ihm unter den Füßen weggerissen worden, er hatte in den Abgrund geschaut und nicht mehr ein noch aus gewusst. Und jetzt war er ein wohlhabender Mann, mit Grundbesitz und dickem Bankkonto, wohnte wieder in einer Kleinstadt ähnlich jener, aus der er damals nach dem Abitur förmlich geflohen war, um ihrer Enge zu entkommen, und mindestens einmal pro Tag ertappte er sich bei dem Gedanken, dass das alles doch nur ein großer Irrtum sein konnte. Über kurz oder lang würde gewiss jemand kommen und ihn bei der Schulter packen und wachrütteln und sagen: „Hey, alter Junge, sorry, du bist hier leider im falschen Film gelandet.“ Doch genau das geschah eben nicht.

      Begonnen hatte es damit, dass er praktisch wie aus heiterem Himmel seinen Job verloren hatte. Aber im Nachhinein besehen war das noch wahrlich das Geringste. Er war nie ein Karrierist gewesen. Anna, seine Freundin, hatte sogar manchmal gemeint, etwas mehr beruflicher Ehrgeiz könne bei ihm nicht schaden. Doch er selbst fand das nicht, er war überzeugt, dass er es eigentlich ganz gut getroffen hatte. Schon früh hatte für ihn festgestanden, dass er sein Geld mit einer geistigen Arbeit verdienen wollte, am besten mit Schreiben oder zumindest durch irgendeine Art von Beschäftigung mit Texten – nicht gerade das Übliche in dem Städtchen, aus dem er stammte und auch nicht das, was man wohl eher von ihm erwartet hatte, wenn er denn schon die nicht unbedingt selbstverständliche Chance bekam zu studieren. Seine Eltern, ein Lehrerehepaar, hatte er schon als ganz kleiner Junge durch einen Unfall verloren, ohne sie je wirklich kennengelernt zu haben, und war dann bei den Großeltern aufgewachsen, die inzwischen auch längst tot waren.

      Sein Großvater hatte einen kleinen Tischlereibetrieb gehabt, ein hart arbeitender Mann mit wenig Sinn für das, was Philipp interessierte. Von der Großmutter war


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