Das Grab der Lüge. Ben Worthmann

Das Grab der Lüge - Ben Worthmann


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      Vielleicht hatte diese Einschätzung auch damit zu tun, dass sie so viel neugieriger gewesen war, neugierig auf alles, das Leben, die Menschen und vor allem natürlich auf ihn. In diesem Punkt waren sie sehr unterschiedlich gewesen. Manchmal hatte sie ihn damit aufgezogen und gemeint, er müsse als Journalist doch eigentlich immer alles wissen wollen, was ihn zu der Entgegnung veranlasste, er sei nun mal nur indirekt mit Menschen beschäftigt, mehr mit ihren Ideen und ihren Produkten als Künstler und Schriftsteller und Theaterschaffende.

      Er wusste, dass ihre Eltern relativ alt waren, schon über siebzig, dass ihr Vater ein höherer Verwaltungsbeamter gewesen war und dass sie noch diesen älteren Bruder hatte, aber sonst wusste er über Annas Herkunft, Kindheit und Jugend ziemlich wenig. Allerdings war ihr Kontakt zur ihrer Familie auch nicht besonders eng gewesen. Nur sehr selten war sie zu Besuch nach Hause gefahren. Es gab mehr oder minder regelmäßig Anrufe, ab und zu mal einen Brief. Kennengelernt hatte er nie jemanden von ihren Leuten. Dazu würde es voraussichtlich erst jetzt, nach ihrem Tode, kommen. Der Gedanke daran war ihm nicht angenehm und verunsicherte ihn.

      5.

      Er musste dann doch eingeschlafen sein. Als er die Augen wieder aufschlug, war es halb zehn. Es war hell im Zimmer, da er vergessen hatte, die Rollläden herunterzulassen. Aber es war immer noch eine graue Helligkeit ohne sichtbaren Sonnenanteil, die durch die beiden hohen Fenster hereinkam. Er fühlte sich müde und zerschlagen, wie früher nach einer durchzechten Nacht. Auf schweren Beinen stakste er ins Bad und schälte sich aus seinen vom Nachtschweiß feuchten Kleidern. Bevor er unter die Dusche stieg, stand er lange vor dem großen Spiegel.

      Er sah einen gut mittelgroßen Mann mit einer Figur, die sich wohl immer noch als vorzeigbar bezeichnen ließ, auch wenn er seit Jahren so gut wie nichts für seine Fitness tat, abgesehen höchstens davon, dass er meist das Rad statt des Autos benutzte und hin und wieder ein bisschen schwamm oder lief. Mit zwanzig hatte er in der Sportgruppe der Uni zu boxen begonnen und auch eine ganze Weile durchgehalten, zumal er zu seinem eigenen Erstaunen bald Gefallen an der Schinderei des harten Trainings gefunden hatte. Doch nach dem Ende des Studiums war sein Interesse irgendwann geschwunden.

      Viele seiner Kollegen bei der Zeitung gingen ins Fitnessstudio; schließlich zählte die umfassende Selbstoptimierung zu den prägenden Paradigmen der Zeit, über die er sich gern mokierte. Wenn die Rede darauf kam, mochten die meisten nicht glauben, dass seine sportliche Statur keiner regelmäßigen Bearbeitung mit Hanteln und anderen Geräten bedurfte, sondern sich im Wesentlichen der Natur verdankte. Er hatte offenbar ganz gute Gene geerbt aus der Linie seines Großvaters, der ein drahtiger Typ gewesen war, mit sichtbaren Muskeln an den Armen noch weit über siebzig.

      Ansonsten hatte er aber keine Ähnlichkeit mit ihm, sondern sah in sich eher das Ebenbild seines Vaters, den er nur von Fotos kannte und der das gleiche schmale Gesicht gehabt hatte, dominiert von einer ausgeprägten geraden Nase und mit einem Grübchen im Kinn. Das dunkelblonde, volle Haar trug er lang im Nacken und bis über die Ohren, sodass es sich auch zu einem kleinen Zopf knoten ließ, was Anna besonders gefallen hatte, ihm selbst indes weniger – ein mittlerweile allzu geschmäcklerisches modisches Statement, wie er fand. Das Auffälligste an seinem Gesicht war der etwas melancholische Blick der tiefliegenden blaugrauen Augen, unter denen sich jetzt deutlich dunkle Schatten zeigten.

      Das also bist du, Philipp Kamphausen, sagte er leise zu seinem Spiegelbild und war sofort irritiert davon, dass er die Worte tatsächlich aussprach, statt sie lediglich zu denken.

      Nach dem Duschen und Rasieren wurde er sich des ähnlich irritierenden Umstandes bewusst, dass er seit ungefähr zweiunddreißig Stunden nichts mehr gegessen hatte, aber dennoch keinen Hunger verspürte. Gerade als er in die Küche gehen wollte, um sich etwas zum Frühstück zuzubereiten, klingelte das Festnetztelefon. Es meldete sich ein Mann mit süddeutschem Akzent, der ihm erklärte, er sei Reinhold Bertram, „der Bruder von der Anna“. Man sei von der Polizei über „dieses schreckliche Unglück“ informiert worden. Und jemand müsse sich ja nun „um die Regelung dieser ganzen traurigen Angelegenheiten kümmern“, die Überführung des Leichnams und „all diese Regularien“, und nach Lage der Dinge obliege dies den nächsten Angehörigen, der Familie, „denn schließlich seid ihr zwei ja nicht richtig verheiratet gewesen“. Da den betagten Eltern all dies kaum zuzumuten sei, werde er sich darum kümmern. Er hoffe, das sei ihm recht. Und ob er bei ihm vorbeikommen dürfe, vielleicht heute noch oder, wenn nicht, dann morgen.

      Philipp wusste nicht, ob er das wollte. Am liebsten wäre er davongelaufen, weggefahren, irgendwohin, wenigstens für ein paar Tage, um erst einmal Abstand zu gewinnen. Aber er brachte es auch nicht über sich, den Mann, der Annas Bruder war, einfach abzuwimmeln. Seine Stimme klang so traurig und außerdem nicht unsympathisch.

      „Ja, kommen Sie her“, sagte er nach einer kurzen Pause. „Kommen Sie am besten morgen so gegen Mittag.“

      Er aß ein paar Bissen Brot, trank eine Tasse Kaffee und verließ dann die Wohnung, ohne sein Handy mitzunehmen. Seinen dunkelgrünen Saab 900, den er selten fuhr, hatte er, wie meistens, ein paar Straßen weiter um die Ecke geparkt. Es war ein älteres, aber gut erhaltenes Modell, „fast schon etwas retro“, wie Anna es genannt hatte. Während er einstieg, musste er kurz daran denken, was jetzt wohl mit ihrem Wagen geschehen würde; auch darum würde sich ihr Bruder kümmern müssen. Er fuhr hinaus aus der Stadt, stellte den Wagen ab und wanderte stundenlang, bis es Abend war und ihm die Füße wehtaten.

      Wieder zu Hause, fand er auf seiner Mailbox mehrere Anrufe von Kollegen vor, auch zwei von Weidenfeld. Und dann gab es noch einen von einem Horst Meinecke, der sich als Anwalt und Notar vorstellte und um baldigen Rückruf bat. Der Name sagte Philipp nichts. Für den Anruf war es jetzt ohnehin zu spät. Außerdem war er sehr müde.

      6.

      „Mein Gott, was für eine Geschichte“, sagte Meinecke noch einmal und trank sein Glas aus. „Da kam für Sie ja wirklich alles auf einmal. Es gibt hier so eine Redewendung, dass der Herrgott manchmal den Knüppel in beide Hände nimmt. In Ihrem Fall hat er dann aber prompt ein bisschen Verbandszeug nachgeliefert, wenn man so sagen kann. Auch wenn sich natürlich mit Geld längst nicht alle Wunden heilen lassen.“

      Philipp sagte nichts.

      „Aber ich kann Ihnen das irgendwie nachfühlen“, fuhr Meinecke fort. „Ich stamme ja auch nicht von hier, sondern bin damals aus Hamburg zugezogen, nachdem meine Frau gestorben war. Das ist aber nun schon zwanzig Jahre her. Ich wollte einfach nur weg, alles Frühere hinter mir lassen. Bereut habe ich es nicht. Man kann hier ganz gut leben, Sie werden sehen.“

      Philipp musste daran denken, wie er an jenem Tag vor nunmehr gut drei Monaten mit dem Anwalt telefonierte, kaum, dass Annas Bruder wieder gegangen war. Es war ein kurzer Besuch gewesen, voller Befangenheit auf beiden Seiten. Die Frage des „Warum?“ blieb mehr oder minder unausgesprochen im Raum hängen. Reinhold Bertram war ein großer, kräftiger Mann etwa seines Alters, bei dessen Anblick es ihm schwergefallen war, irgendwelche Ähnlichkeiten mit seiner Schwester zu entdecken, abgesehen von der Partie um die graublauen Augen. Einander zu duzen hatten sie nicht über sich gebracht. Sie hatten überlegt, was mit Annas Sachen geschehen solle. Viel hatte sie ja bei ihrem Einzug ohnehin nicht mitgebracht, vor allem keine eigenen Möbel. Das meiste nahm Reinhold Bertram mit und verstaute es in seinem großen SUV. Philipp behielt nur ein paar Erinnerungsstücke, in erster Linie Bücher.

      „Ach Herr Kamphausen, gut, dass Sie sich melden“, hatte kurz danach Meinecke das Telefongespräch begonnen. „Es war gar nicht so ganz leicht, Sie ausfindig zu machen. Da war richtig ein bisschen Detektivarbeit notwendig. Und etwas Ahnenforschung auch. Sie wissen, um was es geht?“

      Philipp verneinte.

      „Wilhelm Vanderhorst – der Name sagt Ihnen also nichts?“

      „Nein“, erwiderte Philipp, während er krampfhaft überlegte, ob er ihm nicht vielleicht doch etwas sagte.

      „Nun, es handelte sich um einen Vetter Ihrer Großmutter. Und er hat Sie zu seinem Alleinerben bestimmt.“


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