Das Grab der Lüge. Ben Worthmann

Das Grab der Lüge - Ben Worthmann


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und langen Waldwanderungen zubringen. Mehr als ein Vierteljahr ging das nun schon so.

      Was er bisher von dem Städtchen gesehen hatte, war ja auch gar nicht so übel gewesen. Es lag in einer leichten Senke, umgeben von bewaldeten Hügeln und strahlte jene zeitlose, ein bisschen selbstzufrieden anmutende Ruhe aus, wie sie für bestimmte Orte in solchen Gegenden typisch war mit ihrem offenbar unverwüstlichen mittelständischen Wohlstand, der auf Holzwirtschaft, metallverarbeitende Kleinindustrie und im größeren Stil betriebene Landwirtschaft gründete. Kurz vor und nach der Ortseinfahrt waren ihm außer stattlichen Bauernhöfen auch einige ältere sowie neu erbaute Villen aufgefallen.

      Schmucke Fassaden säumten den langgestreckten Marktplatz mit einem Brunnen in der Mitte und der spätgotischen Kirche an der einen kurzen Seite und dem Rathaus aus der Gründerzeit an der anderen. Es gab außer den üblichen Geschäften und zwei Boutiquen etliche Kneipen und Restaurants, ein Café mit großen Sonnenschirmen vor der Tür, eine Buchhandlung, sogar ein kleines Kino sowie eine Disco und zwei ordentliche Hotels. In einem davon hatte er bei seinem ersten Besuch, als es um die Erledigung der Testamentsformalitäten ging, eine kurze, fast schlaflose Nacht verbracht, nach der er dann ohne längeres Nachdenken beschlossen hatte, einfach hierher zu ziehen.

      Ja, hier ließ sich durchaus leben, wie Meinecke gesagt hatte, in dieser „Kleinstadt mit Vollausstattung“, wie er es für sich selbst nannte. Dass er als überzeugter Großstadtmensch, der einst aus der Kleinstadt seiner Kindheit und Jugend regelrecht geflüchtet war, dies jetzt so sehen konnte, gehörte allerdings zu jenen Paradoxien, die seit einiger Zeit sein Dasein prägten.

      All das ging ihm durch den Kopf, als er an einem leicht verhangenen, aber sehr warmen Nachmittag Ende August durch die Straßen schlenderte. Hin und wieder blieb er vor Schaufenstern stehen und musterte die Auslagen. Nur schemenhaft und eher abstrakt kam ihm der Gedanke, was er alles hätte kaufen können. „Shoppen, bis der Arzt kommt“, wie man so sagte, das wäre gar kein Problem gewesen, wenn er es denn gewollt hätte. Aber bisher hatte er noch gar nicht versucht, sich ernsthaft mit der Tatsache zu beschäftigen, dass er sehr viel Geld zur Verfügung hatte. Richtig geheuer war ihm das alles immer noch nicht.

      Wenn es etwas gab, von dem er nichts verstand und auch nie hatte verstehen wollen, dann waren es Geldgeschäfte jeglicher Art. Alles, was Aktien, Wertpapieren, Investments und Börse betraf, war ihm nicht nur fremd, sondern tief suspekt. Dieses ganze Wirtschafts- und Finanzsystem war in seinen Augen falsch, weil es nur Ungerechtigkeit erzeugte. Anna hatte ihn oft mit liebevollem Spott einen „unverbesserlichen antikapitalistischen Altlinken“ genannt.

      Und jetzt war er selbst so etwas wie ein Kapitalist. Sein Großonkel Wilhelm Vanderhorst hatte sein Geld nicht nur krisensicher, sondern auch äußerst gewinnbringend angelegt. Mit ein bisschen Nachhilfe von Meinecke hatte Philipp überschlagen, dass es sich selbst dann noch weiter vermehren würde, wenn er auf ziemlich großem Fuße leben würde. Aber er wusste nicht mal, wie er das hätte anstellen sollen. Er hatte sich nie viel aus Materiellem gemacht. Wie hätte er beispielsweise jeden Monat sechs - oder siebentausend Euro ausgeben sollen, einfach so, nur für sich? Und das war noch sehr knapp gerechnet. Es hätte auch gut das Doppelte sein können, und trotzdem wäre sein Vermögen immer noch gewachsen. Von den rund hunderttausend Euro, die als Tagegeld jederzeit verfügbar waren, gar nicht zu reden. Und die fünfzigtausend von der Abfindung beim „Morgenkurier“ würden im nächsten Monat auch noch hinzukommen.

      Was Anna wohl gesagt hätte, wenn sie dies hier miterlebt hätte? Aber bestimmt wäre dann alles sowieso ganz anders gelaufen. Wohl kaum wäre sie mit ihm hierher gezogen, sondern hätte ihn ermuntert, das Waldhaus zu verkaufen. Auch wenn er nicht mehr unentwegt an sie und ihren schrecklichen, unerklärten Tod denken musste, gab es doch immer wieder Momente, in denen ihn die Erinnerung an sie übermannte. Etwa wenn er sich zu bestimmten Zeiten dabei ertappte, auf ihren Anruf zu warten, oder wenn er morgens im Halbschlaf die leere Bettseite neben sich ertastete. Vorhin erst, beim Einparken am Marktplatz, war er unwillkürlich zusammengezuckt, als er seinen Saab neben genau so einem kleinen Fiat abstellte, wie Anna ihn besessen hatte und in dem sie sich umgebracht hatte.

      Vor einem Herrenbekleidungsgeschäft blieb Philipp stehen, musterte etwas gedankenverloren das Angebot und dachte dann beim Anblick seines Spiegelbilds in der Schaufensterscheibe, dass er sich vielleicht doch mal ein paar neue Sachen kaufen sollte. In letzter Zeit hatte er kaum darauf geachtet, was er anzog. Es spielte ja auch keine Rolle, wenn er allein zu Hause beschäftigt war. Was er jetzt anhatte – beige Hose, schwarzes Polohemd, leichte Slipper -, war wohl noch vorzeigbar, doch mehr auch nicht. Mit der betagten Lederjacke, die er nur mitgenommen hatte, um Schlüssel und Brieftasche darin unterzubringen und die er über dem Arm trug, konnte er sich eigentlich gar nicht mehr sehen lassen, nicht nur bei solch viel zu warmem Wetter. Da gab es wirklich Schickeres, wie ihm der Blick in die Auslagen zeigte. Und zum Friseur sollte er auch mal wieder gehen. Seine Haare reichten ihm fast bis auf die Schultern, wenn er sie, wie jetzt, offen trug und nicht im Nacken verknotete. Er sah damit fast wie ein übriggebliebener Hippie aus, aber nicht wie ein wohlhabender Bürger eines biederen, gepflegten Städtchens. Unwillkürlich verzog er den Mund zu einem kleinen Grinsen.

      Als er gerade weitergehen wollte, tauchte neben ihm eine junge Frau auf. Er sah sie im Schaufenster, blickte kurz zur Seite, und da sprach sie ihn auch schon an.

      „Entschuldigung, dass ich Sie einfach so überfalle, Sie sind doch Herr Kamphausen, stimmt's?“

      „Ja, aber woher wissen Sie das?“, fragte Philipp verblüfft zurück und musterte die Frau. Sie war mittelgroß, mittelblond und nicht ganz schlank und trug knapp sitzende Jeans und ein buntes Shirt. Über der einen Schulter trug sie eine Business-Tasche, über die andere hatte sie ihre dünne Jacke geworfen. Ihr Gesicht war freundlich und offen, ohne dass man sie unbedingt als hübsch hätte bezeichnen können. Sie mochte gerade mal Mitte zwanzig sein.

      „Ich sah Sie vorhin aus Ihrem Wagen steigen, das reichte vollauf zur Identifikation. Die halbe Stadt redet sowieso schon von Ihnen“, erklärte sie ihm. „Oh, sorry, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Miriam Hegenau. Wir sind sozusagen Kollegen, auch wenn das wahrscheinlich ein bisschen anmaßend klingt. Ich arbeite hier für das Lokalblatt, von dem Sie sicherlich noch nie gehört haben.“

      „Aha“, sagte Philipp.

      „Ja, und da ich Sie hier gerade so zufällig treffe, kann ich Sie eigentlich auch gleich fragen, ob Sie Zeit für ein kleines Interview hätten. Ich hatte schon überlegt, wie ich am besten Kontakt zu Ihnen aufnehme. Hier in der Stadt sieht man Sie ja so gut wie nie, im Netz gibt es auch nichts Persönliches von Ihnen.“

      „Ein Interview? Mit mir? Wieso denn das?“

      „Na ja, wir haben da so eine Rubrik, in der besonders prominente oder sonst irgendwie interessante Mitbürger vorgestellt werden. Und wenn sie dann auch noch neu in der Stadt sind, was selten genug vorkommt, ist das natürlich erst recht ein Grund, sie vorzustellen. Sie drängen sich da als Kandidat ja förmlich auf, wenn man so sagen kann. Der bekannte Großstadt-Journalist, der jetzt als reicher Erbe das Waldhaus des legendären Wilhelm Vanderhorst bewohnt – damit erfüllen Sie gleich mehrere Kriterien auf einmal.“

      „Aha“, wiederholte Philipp. So auf Anhieb wusste er nicht recht, was er von der Sache halten sollte. Irgendwie erschien ihm das Ganze ein bisschen übertrieben. Aber letztlich war es auch wieder egal. Und weshalb sollte er der netten jungen Frau nicht einen Gefallen tun?

      „Okay“, sagte er nach kurzem Nachdenken. „Wir können uns ja morgen Nachmittag drüben im Café treffen.“

      „Hm ...noch lieber wäre mir, ehrlich gesagt, wenn ich zu Ihnen raus kommen dürfte. Dann könnte ich ein Foto von Ihnen vor dem Haus machen.“

      „Na gut, machen wir's so. Vielleicht bringen Sie ein bisschen Kuchen mit, ich koche uns dann einen Kaffee.“

      Sie verabschiedeten sich mit einem Händedruck. Philipp sah ihr kopfschüttelnd und leicht amüsiert nach.

      Anschließend kaufte er Garderobe ein. Es war ungewohnt, weil er das lange nicht getan hatte und schon gar nicht allein. Sonst war er immer zusammen mit Anna einkaufen gegangen, die ihn beraten hatte. Jetzt überließ er es


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