Das Grab der Lüge. Ben Worthmann
wird wegen dieses ganzen bürokratischen Krams noch auf dich zukommen.“
So also läuft das heutzutage, wenn du plötzlich seinen Job los wirst, schoss es ihm durch den Kopf. Ihm war, als würden seine Gedanken irgendwo außerhalb seines eigenen Hirns gedacht. Was war denn dies nur für ein schrecklicher Tag! Als wäre die zutiefst beunruhigende Sache mit Anna nicht schon schlimm genug. Philipp war sonst so leicht nicht aus der Ruhe zu bringen. „Ein bisschen Phlegma ist ja ganz angenehm, aber du übertreibst es damit gelegentlich“, hatte Anna schon mal etwas spöttisch konstatiert. Aber jetzt vermengten sich seine verschiedenen Empfindungen plötzlich zu einer ihm selbst bis dahin unbekannten explosiven Mischung.
Er sprang auf, stieß seinen Stuhl so heftig gegen den Schreibtisch, dass Weidenfeld zusammenzuckte und zischte ihn an: „Du schmeißt mich also raus, ja? Warum sagst du das nicht einfach und klaust mir meine Zeit?“
„Philipp, bitte, beruhige dich, es tut mir wirklich leid, aber ich stehe nun mal unter gewissen Sachzwängen.“
„Ach ja? Und das ist dir gerade eben heute Morgen eingefallen? Wie stillos ist das denn!“
„Bitte, nein, ja“, stotterte Weidenfeld und wurde rot, „irgendwie ist das alles ein bisschen unglücklich gelaufen. Du bist übrigens nicht der Einzige, falls dich das tröstet.“
„Na toll, Ihr schmeißt die Leute gleich reihenweise raus. Das ist ja sehr beruhigend. Kann ich jetzt gehen? Ich hole kurz meine Sachen aus dem Büro, dann bin ich weg.“
„Mein Gott, was ist denn mit dir los, so kenne ich dich ja gar nicht“, sagte Weidenfeld musterte ihn mit besorgtem Blick. „Zunächst mal bist du nur freigestellt, dein Gehalt läuft drei Monate weiter. Und selbstverständlich bekommst du eine Abfindung. Glaub mir, es ist besser so für dich, du hättest dir hier sonst nur die Nerven ruiniert. So kannst du dich jetzt in aller Ruhe nach was Neuem umsehen.“
Der Chefredakteur des „Morgenkurier“ stieß einen Seufzer aus, stemmte sich aus seinem Sessel hoch und streckte ihm die Hand hin. Philipp wandte sich wortlos ab, eilte zur Tür und knallte sie hinter sich zu.
Als er zu Hause sein Rad abstellte, fuhr gerade ein dunkelgrauer Wagen vor. Ein älterer Mann und eine Frau stiegen aus und fragten ihn, ob hier ein Philipp Kamphausen wohne. Ihm wurde flau, als sie ihre Dienstausweise hervorholten und ihn baten, mit ihm hinaufkommen zu dürfen.
4.
Fragen, Fragen, Fragen. Einige dröhnten ihm in den Ohren nach, obwohl sie ruhig und höflich ausgesprochen worden waren. Andere bohrten sich wie mit Widerhaken in seinen Schädel. Doch letztlich lief es immer wieder auf nur eine einzige Frage hinaus: Warum?
Warum hatte Anna Bertram beschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen? Ein Leben, das eben erst dabei gewesen war, richtig zu beginnen? Das Leben einer jungen, attraktiven Frau am Beginn einer vielversprechenden Karriere als Psychotherapeutin, in einer harmonischen Beziehung lebend und ohne erkennbare Probleme? Warum war sie mitten in der Nacht aus dem Bett gestiegen, war in ein entlegenes Parkhaus in einem Vorort gefahren, hatte dort einen von der Videoüberwachung nicht erfassten Winkel aufgesucht und dann mit einem Gummischlauch die Abgase vom Auspuff in den Innenraum des Wagens geleitet?
Die beiden Polizeibeamten, die ihre Fragen an ihn, den Lebensgefährten der Toten, richteten, gingen behutsam und rücksichtsvoll vor und erklärten ihm, sie täten nur ihre Pflicht; bei derartigen nicht natürlichen Todesfällen seien nun einmal Ermittlungen routinemäßig vorgeschrieben, schon um jedes Fremdverschulden ausschließen zu können. Eine reine Formalie. Die Situation selbst ließ sich vergleichsweise leicht und letztlich auch plausibel rekonstruieren. Nein, er hatte nichts davon mitbekommen, wie sie die Wohnung verließ, da sein Schlaf fest und sie immer darauf bedacht gewesen war, ihn nicht zu wecken, wenn sie vor ihm aufstand. Die Beamten sahen keinen Grund, seine Angaben anzuzweifeln, zumal die Kamerabilder zeigten, dass sie allein im Wagen gesessen hatte, als sie morgens um 4.57 Uhr in das Parkhaus fuhr.
Philipp war mit weichen Knien in seinen Sessel gesackt. Seine Kehle war wie zugeschnürt, das Sprechen fiel ihm schwer, und wenn er sprach, klang ihm die eigene Stimme fremd in den Ohren. Die Beamten zeigten ihm ein Foto, er nickte nur. Ob er die Tote noch sehen wolle? Wegen der Identifizierung sei das nicht unbedingt notwendig, da bereits „jemand von der Familie“ unterwegs sei. Philipp schüttelte den Kopf. Nein, das wollte er nicht, er wusste, dass ihm der Anblick der toten Anna unerträglich gewesen wäre. Er wollte sie lebend in Erinnerung behalten, so viel war ihm trotz des Durcheinanders in seinem Kopf klar.
Sie fragten ihn, ob sie sich – natürlich nur mit seinem ausdrücklichen Einverständnis – ein wenig in der Wohnung umsehen dürften. Er nickte wieder und murmelte: „Ja, ja, machen nur.“ Es gab keinen Abschiedsbrief oder sonst irgendeinen Hinweis. Auch die Überprüfung ihres Handys hatte nichts erbracht. Sie wollten wissen, ob er denn in letzter Zeit irgendwelche Veränderungen an Anna bemerkt habe, ob sie anders gewesen sei als sonst. Philipp überlegte, ob er ihnen sagen solle, dass sie bisweilen in sich gekehrt gewirkt hatte, behielt es jedoch für sich. Er wusste ja selbst nicht einmal, ob seine Wahrnehmung richtig gewesen war oder ob er gewisse hormonell bedingte Stimmungsschwankungen womöglich überinterpretiert hatte.
Vor allem wollte er einfach, dass diese schreckliche, dienstlich-bürokratische Fragerei endlich aufhörte. Wenn jemand wirklich berechtigt war, Fragen an ihn zu richten, dann höchstens er selbst, wobei die Kernfrage immer wieder lautete, wie gut er sie eigentlich gekannt hatte. Wie gut konnte man überhaupt einen Menschen kennenlernen, auch wenn man jahrelang – in diesem Fall fast vier Jahre – mit ihm zusammenlebte? Es war ja schon schwierig genug, sich selbst zu kennen.
Aber sie fragten natürlich weiter, an ihrem Arbeitsplatz, bei ihren Kollegen und den relativ wenigen Freunden und Bekannten, deren Namen er ihnen genannt hatte, mit stets demselben Ergebnis tiefer Ratlosigkeit. Später würde man ihm noch schriftlich mitteilen, dass die Ermittlungen angesichts des eindeutigen Befundes „Selbsttötung“ eingestellt worden seien.
Wenn er im Nachhinein an diesen Tag und die folgenden Tage dachte, kam es ihm vor, als hafte ihnen etwas Unwirkliches an. Und einiges schien wie aus seinem Gedächtnis gelöscht. Er befand sich zunächst in einem Zustand der Betäubung. Vor allem die erste Nacht war schlimm. Annas Bettseite sah noch aus wie am Morgen, das Laken nur leicht geknittert, das Oberbett halb zur Seite geworfen. Er konnte nicht schlafen, auf keinen Fall. Aber er spürte auch keinerlei Bedürfnis, jemanden anzurufen, mit jemandem zu reden, was um diese Zeit ohnehin schwierig gewesen wäre. Auch sich zu betrinken war keine Option. Es hatte Zeiten gegeben, in denen es eine gewesen wäre, schon bei weit geringfügigerem Anlass. Aber diese Zeiten lagen weit zurück und es hatte ihn zu viel Kraft gekostet, sie hinter sich zu lassen, als dass er jetzt ernsthaft in Erwägung gezogen hätte, an sie anzuknüpfen.
Unentwegt rotierte das Gedankenkarussell. Er zermarterte sich das Hirn, ob es etwas in ihrer beider Leben gegeben, ob er sich etwas hatte zu Schulden kommen lassen, das Anna so unglücklich gemacht hatte, dass sie nur noch den Tod als Ausweg gesehen hatte. Immer wieder sah er die Bilder der lebenden Anna vor sich - die Bilder einer schlanken jungen Frau mit feingeschnittenen, mädchenhaften Gesichtszügen, mittellangem blondem Haar und heller, von ein paar Sommersprossen gesprenkelter Haut, die immer frisch roch, so als komme sie gerade aus dem Bad. Ihre Stimme hatte überraschend sonor geklungen mit ihrer nie ganz abgelegten kleinen süddeutschen Spracheinfärbung.
Eine Phase jenes emotionalen und erotischen Überschwangs, wie sie nach landläufiger Überzeugung den Zustand der Verliebtheit kennzeichnet, hatte es zwischen ihnen nie gegeben, auch wenn sie rasch übereingekommen waren, dass es ein vernünftiges Arrangement war, dass sie zu ihm zog in seine große Wohnung. Sie hatten beide einige mehr oder minder bedeutende Beziehungen hinter sich, sporadisches Zusammenwohnen eingeschlossen, führten aber seit längerer Zeit ein Single-Leben – sie knapp zwei Jahre, er bereits an die vier. Sie hatten ziemlich oft miteinander geschlafen, in der knapp bemessenen Freizeit vieles unternommen, was ihren gemeinsamen Interessen entsprach, waren ins Theater, in Konzerte, in Ausstellungen gegangen, hatten viel miteinander diskutiert, und das längst nicht immer nur über Themen, die Konfliktstoff bargen. Und doch war da immer eine letzte Distanz