Tod du Fröhliche. Martin Cordemann
Ich nickte. Das war genau die Arbeitsweise, die ich angestrebt hatte. „Weiß bleibt hier und macht Telefondienst. Ich gehe und rede mit dem Alten.“ Horstmann sah mich an. „Reichen Ihnen 24 Stunden?“
„Woher soll ich das wissen, ich hab noch nicht mal ne Idee, wo ich anfangen soll!“
„Dann müssen sie wohl reichen! Gehen Sie los, versuchen Sie Ihr Bestes, lügen und betrügen Sie, wenn es sein muss, das können Sie doch ganz gut!“ Er seufzte. „Die Mordkommission wird schon ganz kribbelig, weil sie Leichen wittern.“
„Werd mir Mühe geben!“ Ich erhob mich, nahm meine Jacke und war schon fast zur Tür raus, als Horstmanns Stimme mich bremste.
„Sie haben Ihre Kanone vergessen!“
„Nein, habe ich nicht!“ Ich hatte sie nicht vergessen, ich hatte sie genau da, wo ich sie brauchte – in meinem Schreibtisch!
Ich nahm einen Dienstwagen und fuhr in die kleine Ansiedlung hinaus, in der sich die Entführungen ereignet hatten. An sich eine hübsche Gegend, nur die Nachbarn schienen keine Ehrfurcht vor den Kindern der anderen zu haben. Ich parkte den Wagen da, wo der Entführer wahrscheinlich beim ersten Mal geparkt hatte, neben dem kleinen Weg zwischen den Hecken. Von hier aus konnte man nicht in den Garten der Ueters sehen.
Ich ging langsam in den Weg hinein und es dauerte eine ganze Reihe von Schritten, bis ich endlich Einblick hatte. Und es gab keine Möglichkeit, dabei nicht gesehen zu werden. Warum also sollte ich dieses Risiko eingehen? Vielleicht... jemand, der nur seine Blase erleichtern wollte und dann sieht er den Kleinen auf dem Präsentierteller? Aber warum dann auch die anderen Entführungen? Zeugen vielleicht, die ihn dabei beobachtet hatten?
Ich ging zurück zur Straße und fuhr zum Haus des nächsten Opfers. Zwei Querstraßen entfernt. Und warum dieser enorme Altersunterschied? Nach und nach fuhr ich alle Häuser der entführten Kinder ab, sah mir den Schulweg an; nichts! Ich sprach mit den Eltern. Auch nichts, kein Anhaltspunkt! Es war aussichtslos. Ich wollte mich gerade auf den Weg nach Hause machen, als mein Autotelefon zu piepen begann.
„Ja, Rhode?“
„Wir haben die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden!“
Tatsächlich handelte es sich um eins der gesuchten Kinder. Kronzucker, der Chef der Mordkommission, befand sich am Fundort, eine abgelegene Sackgasse. Eine alte Mülldeponie lag hier. Kronzucker sagte, dass man die Leiche aus einem fahrenden Wagen geworfen hatte. Im Moment wurde die Umgebung nach weiteren Leichen abgesucht.
„Wo ist sie?“ fragte ich.
„Ich glaube nicht, dass Sie sie sehen wollen!“
„Doch, das will ich!“
„Ich hoffe, Sie können einiges vertragen!“ Er gab einem Sanitäter ein Zeichen; der schlug eine Plane zurück. Mein Herz setzte ein paar Schläge aus, ich wandte mich ab. Wer so mit einem Kind umging verdiente härtere Strafen, als sie der Gesetzgeber hierzulande dafür vorsah.
„Was hat man mit ihr gemacht?“ hauchte ich.
„Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten. Sie muss irgendwo verblutet sein. Scheint schon länger tot zu sein. Dann hat ihr Mörder sie hier rausgefahren und aus dem Auto geworfen und ist wieder abgehauen.“
„Ist sie... Hat man sie...?“
Kronzucker schüttelte den Kopf. „Er hat sie ermordet, aber er hat sich nicht an ihr vergangen!“
Irgendwie hatte ich nicht das Gefühl, dass das die Sache besser machte.
Ich versuchte zu überlegen. „Wo ist der Sinn?“
„Wer sagt, dass es sinnvoll ist, ein kleines Mädchen zu ermorden?“
„Das ist wahr.“ Ich versuchte mich zu konzentrieren. „Also, er vergeht sich nicht an den Kindern, er bringt sie nur um? Und das nicht mal auf eine langwierige sadistische Art, sondern relativ schnell. Das heißt, genießt er es, sie zu töten? Was... was soll das? Ich bin ja kein Psychologe, aber wenn er sich nicht an den Kindern vergeht und wenn er es nicht genießt, sie zu töten, was... was soll das ganze dann?“
„Vielleicht ist es einfach nur krank!“
„Das ist es so oder so! Gibt es irgendwelche Spuren?“
Kronzucker schüttelte den Kopf.
„Wissen Sie was?“ murmelte ich. „Ich hasse diesen Beruf!“
„Vielleicht... vielleicht hat er die anderen Kinder ja nur entführt, weil sie Zeugen der ersten Entführung waren?“
Horstmann schien nicht überzeugt und ich war es ebensowenig.
„Ich meine, wenn es wirklich so war, können wir nur hoffen, dass er bei jeder weiteren Tat vorsichtiger war, was Augenzeugen angeht, sonst potenziert sich die Zahl der Zeugen und er legt nach und nach die ganze Bevölkerung dieses Landes um!“
„Wirklich witzig, Rhode! Ihrer Meinung nach werden also noch zwei Leichen auftauchen?“
„Keine Ahnung, ich... ich versteh das einfach nicht!“
Ich ließ mich hinter meinen Schreibtisch sinken und dachte nach. Wenn die drei also nur Zeugen waren, die ausgeschaltet werden mussten, also Zeugen der ersten Entführung... Blieb die Frage: Warum wurde der Kleine entführt? Eine spontane Aktion? Verlief nicht alles nach Plan und der Kleine starb? So etwas war in ähnlicher Form schon vorgekommen. In Kalk, einem Stadtteil von Köln hatte eine Babysitterin das Baby getötet, weil es ihr auf die Nerven ging und dann versucht, die Sache mit einer vorgetäuschten Entführung zu vertuschen. Musste jemand nach seinem Fehler seine Spuren verwischen, indem er die Zeugen ausschaltete?
Aber auch das machte keinen Sinn, weil Kinder ja bekanntlich sehr mitteilsam sind. Warum also das Risiko eingehen, dass die Kinder zu Hause etwas erzählen könnten? Spätestens bei der zweiten Entführung hätte doch eins der Zeugenkinder seinen Eltern gegenüber mit einer Geschichte, was es da neulich gesehen hätte, herausrücken müssen! Ich seufzte: „Das einzige, was wir jetzt noch machen können, ist die anderen drei Leichen zu finden!“
Es fanden sich noch zwei andere Leichen. Beide Kinder waren auf die gleiche Weise ermordet und beseitigt worden wie das Mädchen. Der kleine Sohn der Ueters war nicht dabei. Einen Tag, nachdem die dritte Leiche gefunden wurde, riefen sie im Präsidium an. Was sie uns mitteilten war... bemerkenswert: ihr Sohn habe sich wieder eingefunden. Horstmann und ich fuhren sofort hin.
In seinem Bettchen lag der Kleine und schlief friedlich vor sich hin. Dass seinetwegen möglicherweise drei andere Kinder hatten sterben müssen, störte ihn nicht. Es schellte und Kronzucker erschien. Auch ihn schien die Rückkehr des verlorenen Sohnes zu interessieren.
„Wann und wie ist er zurückgekommen?“ fragte Horstmann die Eltern.
„Irgendwann am Nachmittag. Er krabbelte hinten auf dem Weg zwischen den Hecken herum – wahrscheinlich hat man ihn dort ausgesetzt.“
„Ja, wahrscheinlich!“ murmelte ich. „Können Sie sich denken warum?“
„Wahr... wahrscheinlich hat sich der Entführer doch noch ein Herz gefasst und ihn uns zurückgebracht. Es gibt schon genug schlimme Taten!“ Da hatte Frau Ueter ziemlich Recht.
„Vielleicht wollte er nicht mit den Morden an den Kindern in Verbindung gebracht werden, die hier in der Gegend begangen worden sind.“
„Was dann bedeuten würde, dass die beiden Fälle nicht zusammenhängen!“ meinte ich. „Trotzdem schon ein Zufall, ich meine, beide Entführungen in der selben Gegend zur selben Zeit. Hm!“ Ich hob die Schultern und wir verließen das Haus.
„Was halten Sie davon?“ fragte Kronzucker.
„Mist!“ sagte Horstmann. „Aber die beiden haben unglaubliches Glück gehabt.“
„Was meinen Sie, Harry?“
Ich lächelte müde. „Ich weiß einfach nicht. Zwei Fälle, zwei Zufälle,