Das Blut des Wolfes. Michael Schenk

Das Blut des Wolfes - Michael Schenk


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wenige hatten sich darum gekümmert. Hunger und Krankheit forderten ihren Tribut, Kriege überzogen die winzigen Ländereien und die Menschen fürchteten Bären und Wölfe, welche die Wälder beherrschten. Niemand ahnte, welch schrecklicher Tod mitten unter ihnen lebte und sich gelegentlich an ihrem Blut labte.

      Nun war es schwieriger geworden, die Beute zu reißen. Die Menschen hatten sich entwickelt und verfügten über wirksamere Waffen. Sie schreckten auf, wenn einer von ihnen verschwand und ihre Technik erlaubte es ihnen, Nachrichten schnell zu verbreiten. Es war noch immer leicht, sie zu töten, doch nun mussten das Wandelwesen und seine Art mit Bedacht vorgehen, damit sie weiter im Verborgenen leben konnte.

      Das Wandelwesen spürte die Wärme des Asphalts unter den Pfoten. Es mochte die Härte des Bodens nicht, dennoch lief es inmitten der Straße durch das Dorf. Es brauchte sich nicht zu verbergen. Selbst wenn man es entdeckt hätte, so wäre es nicht beachtet worden. So blieb es auf der Straße, die ihm gute Übersicht bot und beobachtete dabei die dunklen Häuser.

      Dieser Ort war ideal für die Zwecke des Rudels. Obwohl das Land in den Jahrhunderten immer dichter besiedelt worden war, bot der steile Höhenzug, auf dem Wolfgarten lag, hervorragende Voraussetzungen. Die Wälder waren wie eine Mauer, die das Dorf umgab und es war leicht, sich darin zu verbergen. Die wenigen Wege, die aus dem Ort hinaus führten, waren für das Rudel leicht zu überwachen und zu versperren.

      Früher hatte seine Art jederzeit und überall leichte Beute schlagen können. Beute, um den Jagdinstinkt zu befriedigen und Beute, um sich zu vermehren. Das Wandelwesen wusste nicht, wann seine Art entstanden war und welche Laune der Natur dazu geführt hatte. Aber seine Art musste sich gelegentlich mit den Menschen paaren, um ihre Wandlungsfähigkeit zu erhalten. Es gab nur wenige, die dafür geeignet waren und hier, in Wolfgarten, hatte das Rudel gleich mehrere Zweibeiner gefunden, deren Samen und Blut das Rudel erstarken lassen würde.

      Der richtige Zeitpunkt war noch nicht gekommen, aber er war nahe, sehr nahe.

      Das Wandelwesen leckte sich missmutig über die Schnauze. Es durfte keinen Fehler machen, wenn der Plan des Rudels nicht gefährdet werden sollte. Dennoch hatte es die beiden Wanderer getötet, hatte es der Verlockung nicht widerstehen können. Jetzt waren die Menschen durch das Verschwinden des Paares aufgeschreckt. Das war nicht gut für das Rudel. Ängstliche Menschen neigten zu größerer Vorsicht. Aber es hatte dafür gesorgt, dass niemand die Überreste der Toten fand und die anderen Menschen würden rasch wieder zu ihrem normalen Alltag zurückkehren, so, wie es ihrer Art entsprach.

      Ja, sie sollten sich sicher fühlen in ihrem beschaulichen Wolfgarten. Nichts sollte sie vor ihrem Schicksal warnen.

      Die Hunde… Diese Wächter der Menschen mussten zuerst verschwinden.

      Das Wandelwesen verspürte eine instinktive Abscheu vor Hunden. Diese waren den Wölfen so ähnlich, da sie einst vom selben Rudel abstammten. Wölfe waren gefährlich, denn sie standen oft mit „den Gefährten“ im Bunde. Das Wandelwesen bleckte die Fänge. Aber das war kein Grund zu großer Sorge. Der Kampf zwischen den Wandelwesen war lange entschieden. Die Rudel hatten überlebt und die Wölfe und „die Gefährten“ waren besiegt und vertrieben worden. Sie waren keine Gefahr mehr.

      Das Wandelwesen verließ die Straße und trabte über den weichen Boden eines Rasens. Wie angenehm sich das unter den Pfoten anfühlte… Es genoss die Empfindung, wie sich seine Krallen in den Untergrund gruben und stellte sich vor, es sei das Fleisch eines Menschen.

      Nicht mehr lange, nein, nicht mehr lange.

      Wolfgarten war ein idealer Ort.

      Erst würden die Hunde sterben.

      Dann die Menschen.

      Wenn das Wandelwesen Wolfgarten wieder verließ, würde es nichts Lebendes hinter sich zurücklassen.

      Kapitel 5

      Ondra war ein winziges Nest in der Nähe der polnischen Stadt Walbrzych. Es war nur wenige Kilometer von der Grenze zur tschechischen Republik entfernt und die Zivilisation schien den Ort, wenigstens auf den ersten Blick, erfolgreich umgangen zu haben. Die Häuser waren einfach, die beiden Straßen nicht einmal asphaltiert und im Winter war Ondra regelmäßig eingeschneit und abgeschnitten. Die Bewohner hatten sich daran gewöhnt und waren darauf eingerichtet. Ihre Wintervorräte ergänzten sie immer wieder durch die Jagd.

      Auf den zweiten Blick erkannte man Antennen und Satellitenschüsseln sowie den Sendemast für ein Mobilfunknetz. Letzterer war erst vor kurzem erreichtet worden. Der Grund hierfür war nicht in den Bedürfnissen der Bewohner Ondras zu sehen, sondern in einer kleinen Hütte, die noch ein Stück außerhalb des Ortes lag.

      Diese Hütte war aus massiven Stämmen errichtet worden und verriet sofort, dass sie das Heim eines Jägers war. Ihr Besitzer, Andrej, hatte lange Zeit von der Jagd gelebt, doch inzwischen tauschte er seine tödliche Flinte meist gegen ein Betäubungsgewehr. Vor wenigen Minuten hatte Andrej den Abzug dieser Waffe betätigt und nun folgten er und sein Freund Wazlav den Spuren des getroffenen Tieres.

      „Das ist ein besonders starkes Exemplar“, sinnierte Andrej. „Bei einem durchschnittlichen Wolf hätte das Betäubungsmittel längst gewirkt.“

      Wazlav nickte. „Das kommt mir auch so vor. Ein besonders großes und sehr starkes Weibchen. Ich hoffe nur, sie findet einen passenden Rüden. Wäre schön, wenn wir hier noch ein Rudel bekämen.“

      Andrej grinste. „Die Leute im Dorf würde das nicht besonders glücklich machen. Die fürchten um ihre Schafe. Früher bin ich gelegentlich los und habe einen Wolf jagen müssen. Na ja“, er zuckte die Schultern, „das ist jetzt vorbei.“ Er schlug leicht gegen das Betäubungsgewehr. „Das Jagdgefühl ist nicht mehr ganz so wie früher, du verstehst?“

      „Sei nicht so blutgierig. Wölfe sind nicht die Bestien, als die man sie immer hinstellt. Mir ist ein gerissenes Schaf lieber, als ein toter Wolf.“

      Andrej lachte auf. „Ja, das weiß ich.“ Er zuckte mit der Schulter, über der das andere Gewehr hing. „Trotzdem habe ich meine Jana dabei. Nur für den Fall…“

      Andrej hatte noch immer das Blut eines Jägers in sich. Wazlav hingegen war Mitarbeiter des Säugetier-Instituts der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Ihm lagen der Schutz und die Ansiedlung der Wölfe am Herzen. Das ganze Jahr über wurden Trittsiegel, gerissene Beutetiere und Sichtbeobachtungen registriert, um die Reviere und Ruheplätze von Einzeltieren oder Rudeln zu bestimmen. Seitdem die seltenen Tiere streng geschützt waren, hatte sich ihre Population in Polen wieder auf fast Achthundert erhöht. Wazlav war froh, dass es endlich auch einzelne Rudel im westlichen Teil Polens gab. Zwar hatte es schon des Öfteren Einzeltiere gegeben, die über Polen nach Tschechien und bis nach Deutschland gewandert waren, doch die wenigsten Tiere hatten sich im Westen Polens angesiedelt. Wazlav hoffte wirklich, dass die Wölfin, der sie nun nachstellten, hier ein neues Rudel gründen würde.

      „Da vorne“, raunte Andrej. Instinktiv wollte er nach seiner tödlichen Waffe greifen, doch Wazlav legte ihm die Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf. Der Jäger stieß einen leisen Seufzer aus. „Wir müssen vorsichtig sein. Falls das Mittel nicht richtig gewirkt hat, kann sie noch übel zuschnappen.“

      „Es hat gewirkt“, meinte Wazlav beruhigend. „Sie hat noch versucht, sich dort in die Büsche zu schleppen, ist aber davor zusammengebrochen. Beeilen wir uns, damit alles erledigt ist, bevor sie wieder zu sich kommt.“

      Sie traten zu der am Boden liegenden Wölfin.

      „Ein sehr schönes Exemplar“, meinte Andrej. „Sehr groß, sehr stark und ein tadelloses Fell.“

      „Das du jedenfalls nicht zu einem Pelz verarbeiten wirst“, sagte Wazlav mit einem gutmütigen Lächeln. „Komm, hilf mir, dann geht es schneller.“

      Die Wölfin war ein außergewöhnlich großes Exemplar. Ein durchschnittlicher Wolf brachte um die fünfzig Kilogramm auf die Waage, diese Wölfin wohl eher siebzig. Ihr Fell war sehr gleichmäßig grauschwarz gezeichnet, die Läufe und die Schnauze hingegen waren fast weiß.


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