Das Blut des Wolfes. Michael Schenk
hoffte vergebens, dass die Fremde ihr Eintreten nicht bemerkt und das Rauschen der Brause die Geräusche überdeckt hatte. Die Gestalt in der Duschkabine bewegte sich und eine schwarzhaarige Frau schob den Plastikvorhang ein Stück zur Seite und lächelte sie an. „Schon in Ordnung, ich habe das Klopfen sicher nicht gehört.“ Die Frau deutete mit dem Kopf zur Toilette. „Ich sehe auch nicht hin, falls du…?“
Svenjas hätte es sich liebend gerne verkniffen, denn die Situation war ihr doch ein wenig unangenehm. Aber ihre Blase konnte nicht länger warten.
Errötend nickte sie. „Tut mir leid. Ist mir jetzt echt peinlich.“
„Kein Problem.“
Der Duschvorhang wurde wieder geschlossen und Svenja beeilte sich, auf die Toilette zu kommen. Im Stillen verfluchte sie ihren Vater Jochen. Zum Einen, weil er keine Gästetoilette eingebaut und zum Anderen, er ihr nicht gesagt hatte, dass er Besuch erwartete. Vielleicht war sie aber auch zu sehr mit ihrem Telefonat beschäftigt gewesen und hatte nicht darauf geachtet, wie ihr Vater ihn ankündigte. Sie erinnerte sich, dass er kurz in ihrem Zimmer gewesen war, aber Kim hatte Stress mit ihren Eltern und das nahm Svenjas Aufmerksamkeit stärker in Anspruch, als der übliche Kontrollblick ihres Vaters.
Svenja blickte auf die Dusche. Durch den milchigen Vorhang war die schlanke Gestalt zu sehen. Manchmal presste sich der Körper gegen das Plastik, so dass die Details hervor traten. Die Frau war ihr keine Unbekannte. Svenja hatte sie schon gelegentlich gesehen, denn als Polizeibeamter arbeitete ihr Vater eng mit der Ortsverwaltung von zusammen. Im Fall des winzigen Wolfgartens bestand diese Verwaltung aus der Ortsvorsteherin Vanessa Schneider. Dass ausgerechnet diese Frau so unvermutet unter der Dusche stand, verblüffte und verärgerte Svenja.
In den vergangenen Jahren waren sie und ihr Vater zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen und sie hatte ihre Mutter in vielen Dingen ersetzen müssen. Svenja lernte die Wäsche zu machen und den Haushalt zu führen, konnte längst weit mehr als nur Spaghetti zubereiten und schaffte es auch, einen Knopf anzunähen, ohne sich die Finger zu zerstechen. Fertigkeiten, die ihr Vater wohl niemals erwerben würde. Der Beruf nahm ihn zu sehr in Anspruch. Das Leben in Wolfgarten und an der Seite ihres alleinerziehenden Vaters hatte Svenja früh erwachsen werden lassen. Jetzt schien zum ersten Mal wieder eine andere Frau in das Leben ihres Vaters zu treten und das gefiel Svenja überhaupt nicht.
Sie säuberte sich und betätigte die Spülung. „Bin fertig“, rief sie Vanessa zu.
„Alles cool“, kam die Erwiderung.
Svenja verzog das Gesicht und verließ das Bad.
Alles cool… Versuchte die Schneider etwa, sich bei ihr anzubiedern, indem sie betonen wollte, wie jugendlich sie doch war? Svenja stieß ein verächtliches Schnauben aus und beeilte sich, in ihr Zimmer zu kommen.
Das alte Schlafzimmer ihrer Eltern lag im Erdgeschoss, Svenjas Reich befand sich unter dem Dach. Das Zimmer war recht groß, wurde aber durch die Dachschräge eingeengt, die sich an einer Längswand entlang zog. Die Einrichtung stammte überwiegend von einem großen Möbelhaus. Svenja und ihre Mutter hatten sie damals selbst zusammengebaut, da Jochen zu einem Lehrgang gewesen war. Sie waren der Aufbauanleitung gefolgt und hatten im Verlauf der Montage in ihrer Verzweiflung auch zu Hammer und Nägeln gegriffen. Jochen sah damals großzügig darüber hinweg.
Gegenüber dem Fenster stand das Bett, auf dem einige Kuscheltiere an die Mutter erinnerten. Fünfzehn Stofftiere. Zu jedem gemeinsamen Geburtstag hatte Karin Kircher ihrer Svenja ein Besonderes geschenkt. Svenja wollte keines davon missen. Eigentlich war sie aus dem Alter ja heraus und doch gaben ihr die weichen Gestalten etwas Trost, wenn sie ihre Mutter wieder einmal vermisste.
Regale und Schrank waren abgenutzt und nur das Bett und der Schreibtisch waren neueren Datums. Svenja hätte sich längst andere Möbel kaufen können, denn sie verdiente immerhin schon ihr eigenes Geld, aber die alten Sachen genügten ihr und sie wollte lieber für die Zeit sparen, an der sie aus Wolfgarten fort zog. Früher oder später würde dies der Fall sein, schon aus beruflichen Gründen, doch es drängte sie nicht, den Ort zu verlassen.
Die Puppen und die Poster aus Kindheitstagen waren längst verschwunden und durch Aufnahmen verschiedener Musikgruppen und Schauspieler ersetzt. Über dem Bett hing die Lichterkette eines Weihnachtsbaums, die durch halbtransparente Tücher verdeckt wurde. In ihrem gedämpften Licht hatte sie zum ersten Mal die Freuden der Liebe erlebt, ein sorgfältig gehütetes Geheimnis, welches sie vor ihrem Vater verbarg. So vertraut sie einander auch waren, so führte doch jeder auch sein eigenes Leben. Ein Stück neben dem Fenster, unterhalb der Dachschräge, stand der Schreibtisch. Er war der Beleg dafür, dass aus Svenja längst eine junge Frau geworden war.
Neben einem stationären Computer lag ein geöffneter Laptop auf der Schreibplatte. Grafische Skizzen und Notizen türmten sich in der Ablage und auf dem Bildschirm war der halbfertige Entwurf eines Werbeflyers zu sehen. Svenja hatte das Glück gehabt, nach ihrer Schule sofort eine Ausbildungsstelle gefunden zu haben. Der Beruf der Werbegrafikerin gefiel ihr, denn er war vielseitig, erlaubte ihr das Ausschöpfen eigener Ideen und den Kontakt zu Kunden. Sie hatte Talent, das richtige Gespür für die Inhalte und setzte diese mit Ideenreichtum um. Ihre Chefin war mehr als nur zufrieden und erlaubte Svenja ein paar Freiheiten, welche diese gerne annahm. Dazu gehörte es, dass sie gelegentlich zu Hause arbeiten konnte, was ihr die Möglichkeit gab, sich zusätzlich um den Haushalt zu bemühen.
Der Sitz der kleinen Firma befand sich in Schleiden und Svenja fuhr mit ihrem Mofa zur Bushaltestelle der Linie 231 an der Landstraße, von dort mit dem Bus nach Gemünd und wechselte in die Linie 829, um mit dem öffentlichen Verkehrsmittel ins Büro zu gelangen. Es war ein wenig umständlich, zumal zwischen den Abfahrtzeiten der Linie 231 eine volle Stunde lag. Gelegentlich hatte sie überlegt, ob sie nicht nach Schleiden ziehen sollte, aber sie wusste nicht mit Bestimmtheit, ob die Firma sie übernehmen würde. Für eine andere Stelle nochmals umzuziehen, empfand sie jedoch als ausgesprochen unpraktisch. Zudem sagte sie sich immer wieder, dass sie ihren Vater nicht im Stich lassen konnte.
Offensichtlich war ihre Sorge um ihn unbegründet, wie die Anwesenheit von Vanessa Schneider bewies. Warum die hübsche Frau nackt unter der Dusche stand, konnte Svenja sich denken, aber warum war es ausgerechnet die schwarzhaarige Ortsvorsteherin? Es gab nur wenige Menschen, gegen die Svenja eine instinktive Abneigung empfand, doch ausgerechnet Vanessa Schneider gehörte zu dieser Gruppe. Die Gewissheit, dass sich diese Frau nun im Haus aufhielt, trübte Svenjas Stimmung und sie ging zu ihrem Laptop, rief das Musikprogramm auf und warf sich auf das Bett. Nachdenklich verschränkte sie die Arme hinter dem Kopf und blickte zur Seite.
Dort hing das Poster ihrer Mutter an der Wand. Es war die vergrößerte Aufnahme eines alten Passfotos und daher von eher mäßiger Qualität. Dennoch war zu sehen, dass Karin Kircher eine sehr hübsche Frau gewesen war. Die blauen Augen strahlten Warmherzigkeit und Freundlichkeit aus.
Angeblich verfügte Svenja über große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Dasselbe schmale Gesicht mit den großen dominierenden Augen, dieselben blonden Locken, die gelegentlich ein wenig kraus wirkten und eine schlanke Figur, an der sie lediglich die Schenkel einen Hauch zu kräftig fand.
Svenja konnte sich noch gut an ihre Mutter erinnern und hätte das Poster dafür nicht benötigt. Für ihren Vater war das Bild eher ein Ärgernis. Er versuchte, den Verlust der geliebten Frau zu vergessen. Einmal hatte er das Poster von der Wand gerissen, aber Svenja hatte es sorgfältig wieder zusammengeklebt. Sie wollte die Mutter und deren Tod nicht verdrängen und kam inzwischen, so wie sie glaubte, auch ganz gut damit zurecht. Jedenfalls besser als ihr Vater, der seitdem viel zu oft zum Bier griff und jetzt wohl bei Vanessa Schneider nach Trost suchte.
Eher unbewusst tastete Svenja nach ihrem Mobiltelefon und gab die Kurzwahl ihrer Freundin Kim ein. „Weißt du, was hier abgeht? Die Schneider hängt hier ab. Mann, ich kriege echt die Krise.“
„Die Schneider? Dieses hippe Perlhuhn?“ Kim klang sichtlich überrascht. „Dein Dad ist doch bei den Mützen. Was hat der mit der Schneider zu schaffen?“
„He, ich weiß selbst, dass mein Dad bei den Bullen ist.“
„Na ja, wahrscheinlich will er