Das Blut des Wolfes. Michael Schenk
lachte auf. „Ach, hab dich nicht so. Für deinen Dad ist die Auswahl in unserem Kaff ja nicht gerade groß, oder?“
„Nein, sicher nicht“, murmelte Svenja. Kims eher gleichgültige Reaktion ärgerte sie.
„He, komm runter.“ Die Freundin spürte die Verstimmung. „Er kann es ja schließlich nicht runterwürgen, oder? Gönn ihm doch den Spaß.“ Kim zögerte einen Moment. „Oder hast du Schiss, dass er das ernst meint?“
Svenja leckte sich unbewusst über die Lippen. Vielleicht war das genau der Punkt, warum sie eine instinktive Abneigung gegen Vanessa Schneider empfand. Sie hatte nichts dagegen, wenn ihr Vater ein bisschen Spaß hatte, doch die Vorstellung, zwischen Vanessa und Jochen könnte eine tiefere Beziehung entstehen, erfüllte sie mit Unbehagen.
„Ich weiß nicht“, gab sie widerwillig zu.
„Mach dir jetzt echt keinen Stress“, riet Kim. „Ist doch nicht gesagt, dass zwischen den beiden wirklich was abgeht.“
„Ach, Scheiße.“
„Du, ich muss Schluss machen, meine Erzeuger rufen zum Essen. Wir können morgen quatschen, okay?“
„Ja, okay.“
Svenja schaltete das Gerät aus und fluchte leise. Sie dachte an ihren Vater Jochen und an Vanessa Schneider und die Vorstellung, dass die beiden Intimitäten austauschten, gefiel ihr immer weniger. Erneut sah sie auf das Poster ihrer Mutter. Vielleicht lag es an den Augen? Die ihrer Mutter blickten freundlich und offen. Die von Vanessa waren… anders. Svenja konnte nicht einmal sagen, was sie an den Augen der Frau störte.
Sie erhob sich wieder von ihrem Bett und trat unter die Dachschräge, in die das große Fenster eingebaut war. Seufzend blickte sie hinaus, legte die Hände auf den Fensterrahmen und stützte ihr Kinn auf die Finger. Eher gelangweilt glitt ihr Blick über Wolfgarten.
Das kleine Haus der Kirchers lag am Ende der Straße „Pützbenden“. Svenjas Fenster wies nach Süden und vom Dachfenster aus hatte sie einen guten Ausblick auf die kleine Gemeinde. Rechts konnte sie den Hof von Bauer Wolicek sehen. Gelegentlich verirrte sich eine von seinen Kühen bis zum Haus der Kirchers. Wenn sie sich weit aus dem Fenster beugte, geriet sogar die Rangerstation am Waldrand in ihr Blickfeld. Links von sich sah sie dann gerade noch ein kleines Stück der Schänke an der Kermeter Straße.
Direkt vor ihr breitete sich Wolfgarten aus.
Mit rund zweihundert Einwohnern war es eine kleine Gemeinde, aber sie wirkte ein wenig weitläufiger, da die Häuser in sehr aufgelockerter Bauweise angeordnet waren. Einfamilienhäuser und ein paar Zweifamilienhäuser dominierten das Bild. Das größte Gebäude war das neue Dorfgemeinschaftshaus an der Kreuzung im Dorfzentrum, gefolgt von der neuen Feuerwache und dem Hof des Bauern Wolicek.
Svenja seufzte leise.
Wolfgarten war ein malerischer, ein beschaulicher Ort oder, wie Svenjas Freundin Kim es formulierte, stinklangweilig. Bei den meisten anderen Dörfern gab es eine Straße, die durch sie hindurch führte. Da war immer ein gewisses Verkehrsaufkommen, oft sogar eine direkte Busverbindung. Doch an Wolfgarten glitt das Leben auf der nahen Landstraße vorbei. Wenn man einmal von den Wanderern und Touristen absah, die wegen des Naturparks und der nahen Sehenswürdigkeiten kamen. Aber die fuhren gleich zu den Parkplätzen und nahmen sich kaum die Zeit, sich das Dorf selbst anzusehen.
Aber viel hätte es wohl nicht zu sehen gegeben. Kermeter Schänke, alter Feuerwachtturm und Rangerstation lagen jeweils am Ortsrand und im Dorf selbst waren das Gemeinschaftshaus und die Feuerwache sicher keine Besucherattraktionen. Allenfalls der kleine Laden der Westphals, gegenüber dem Gemeinschaftshaus, zog gelegentlich Wanderer an, die sich dort versorgten. Oft saßen die dann am kleinen Teich im Ortszentrum, erfrischten sich mit kalten Getränken und sahen den Enten zu. Die Entenpopulation schien der von Wolfgarten ernsthafte Konkurrenz zu machen, zumindest während der Zeit, an der die Dorfbewohner ihren Arbeiten in den umliegenden Städten nachgingen. Jetzt, im Sommer, wenn das Wasser gelegentlich knapp wurde, diente der Ententeich notfalls auch als Wasserentnahmestelle für die Feuerwehr, was die Enten wenig begeisterte.
Das Wolfgarten überhaupt über eine eigene Feuerwehr verfügte, hing mit der einzigartigen Lage auf dem Kermeter Höhenzug und dem abgesperrten Bereich des Naturparks zusammen. Direkt am Dorf begann eines jener Waldareale, die man sich selbst überließ, um den Wald in seinen Urzustand zurückzuführen. So positiv dies auch für die Natur sein mochte, so gefährlich war dies im Falle eines Waldbrandes. In dem viele Hektar großen „Rückzugsgebiet“ gab es keine Feuerschneisen und keine Wege, welche man zur Brandbekämpfung nutzen konnte. Jede Verzögerung der Brandbekämpfung konnte jedoch katastrophale Folgen haben. Aus diesem Grund war die Wolfgartener Feuerwache ausgebaut worden. Sie verfügte über ein Rüstfahrzeug und ein Löschfahrzeug, deren Besatzungen von den Frauen des Ortes gestellt wurden. Da die Männer tagsüber außerhalb des Dorfes arbeiteten und lange Strecken zurücklegen mussten, besaß Wolfgarten somit eine der wenigen reinen Frauenfeuerwehren.
Die Feuerwache lag an der Haagstraße und wenn man dieser nach Norden folgte, erreichte man die kleine Burg Wolfgarten, die in alten Urkunden als „Wulffgart“ Erwähnung fand. Niemand konnte noch sagen, wer wohl einst so verrückt gewesen war, hier eine Burg zu errichten. Möglicherweise hatte die hervorragende Sicht vom Höhenzug aus den Grund geliefert. Die kleine Befestigung war noch überraschend intakt und befand sich in Privatbesitz. Der Eigentümer war ein vermögender Japaner, der keine Öffentlichkeit zuließ, die Gebäude aber gelegentlich Forschern oder Privatgruppen zur Verfügung stellte, da der alte Burgfried eine gute Aussicht auf den abgesperrten Bereich des Naturparks ermöglichte. Die Bachmanns, welche die Kermeter Schänke betrieben, betreuten diese Leute aufgrund einer Vereinbarung, die sie mit Herrn Yamahata getroffen hatten. Für die Bachmanns bot das ein Zusatzgeschäft und für Herrn Yamahata die Gewissheit, dass man auf seine kleine Burg achtete.
Die kleine Polizeiwache lag an der Straße „Wolfgarten“, dort, wo „Pützbenden“ an der Hauptstraße des Ortes endete. Ihre Besatzung bestand aus zwei Polizeibeamten, die hauptsächlich dann beschäftigt waren, wenn im Sommer Touristen den Naturpark besuchten und die Motorradfahrer verstärkt auf der L 249 unterwegs waren. Die Landstraße hatte sich zu einer Art Rennstrecke entwickelt und es kam immer wieder zu schweren Unfällen. Die kleine Polizeiwache und ihr Blitzgerät sollten daher eine gewisse „Verkehrsberuhigende“ Wirkung erzielen.
Nein, man konnte nicht sagen, dass Wolfgarten einer jungen Frau viel zu bieten hatte. Neben ihrer Freundin Kim und deren Bruder Patrick gab es keinen, der Svenjas Alter entsprochen hätte. Die meisten Freunde kannte sie noch von der Schule und diese lebten in den verschiedenen Dörfern der Umgebung und in Gemünd. Die Entfernungen schränkten ihre Möglichkeit sichtlich ein, sich mit Freunden auszutauschen oder etwas zu erleben. Meist musste sie sich auf den Heimweg machen, wenn es gerade anfing, interessanter zu werden. Daran änderte auch ihr Mofa nur wenig und Svenja überlegte gelegentlich ernsthaft, ob sie sich nicht doch einen kleinen Gebrauchtwagen zulegen sollte. Wenn sie dann allerdings die Kosten gegeneinander aufrechnete, gewann stets der Bus. Aber früher oder später, das wusste sie, würde ihr die Unabhängigkeit, die ein eigener Wagen bedeutete, die Ausgaben wert sein.
Ohne ihr Mobiltelefon und das Internet hätte sich Svenja manchmal isoliert gefühlt. Eigentlich sollte sie öfter ausgehen und niemand hätte ihr einen Vorwurf machen können, wenn sie über Nacht nicht nach Hause kam. Aber dann dachte sie immer wieder an ihren Vater und wie kurz der Weg zum Kühlschrank für ihn war. Wenn er sich zu einsam fühlte, dann griff er zum Bier und wenn er betrunken war, dann fühlte er sich noch weitaus einsamer. Nein, auch wenn er hin und wieder zu sehr über ihr Leben bestimmen wollte, so liebte sie ihn doch und konnte ihn nicht sich selbst überlassen.
Eine neue Frau, die in sein Leben trat, konnte die Lösung sein.
Aber Vanessa Schneider…?
Svenja hörte das vernehmliche Klappen der Badezimmertür aus dem Erdgeschoss.
Die Schwarzhaarige hatte sich Zeit gelassen.
Svenja ging ins Badezimmer hinunter, um in Ruhe ihr Haar zu bürsten. Sie war stolz auf ihre langen und