Das Blut des Wolfes. Michael Schenk
„Der andere Grund?“
„Für die Untersuchung. Du sagtest…“
„Ach so, ja.“ Er legte den eingehüllten Kadaver auf die Ladefläche und zog die Handschuhe aus. „Offen gesagt, ich kann mir nicht erklären, wie ein kleiner Hund hierher gekommen sein könnte. Ich muss den Zaun nochmals vollständig überprüfen, ob es irgendwo einen Durchschlupf gibt.“ Er stieg ein und Svenja folgte seinem Beispiel. „Zudem“, murmelte er nachdenklich, während er den Motor startete, „bin ich mir nicht sicher, was das für ein Hund war.“
„Na ja, ein kleiner. Das konnte man doch sehen.“
Er sah sie an und biss sich auf die Unterlippe. „Falls es überhaupt ein Hund war.“
„Was meinst du damit? Was soll es denn sonst gewesen sein?“
„Keine Ahnung“, brummte er und zum ersten Mal spürte Svenja, das ihr farbiger Freund ihr etwas verschwieg. Svenja wusste, dass sie einen Fehler begangen hatte und sie konnte nur hoffen, dass dieser Fehler keine ernsthaften Konsequenzen haben würde.
Kapitel 9
Es war einer der Steine.
Naukoda konnte es ganz deutlich fühlen. Einer jener Steine, welche ihresgleichen schon seit langer Zeit riefen, wenn der alte Feind auftauchte. Naukoda zog unbewusst die Lefzen hoch und entblößte ihre Fänge. Es war schon lange her, dass ein Stein sie oder einen der anderen gerufen hatte. Einer der Gefährten war in Gefahr. Keiner der gewöhnlichen Wölfe. Nein, einer jener, welche wie sie schon seit unzähligen Generationen gegen den Feind kämpfte. Es gab nicht mehr viele von ihnen. Die Zahl von Naukodas Gefährten und Gefährtinnen hatte immer weiter abgenommen und der Feind war immer stärker und stärker geworden, denn er hatte inzwischen einen ahnungslosen Verbündeten, den Menschen.
Naukoda wusste, dass sie den Ruf nicht ignorieren konnte. Ihre Sinne tasteten ihr voraus, während sie durch den Wald lief, bis sie sich sicher war, aus welcher Richtung der Ruf kam. Sie lief im Kräfte sparenden Trab ihrer Art, ignorierte den Hunger, den sie verspürte. Erst musste sie den Stein erreichen und erfahren, welche Botschaft er ihr übermittelte.
Sie hatte Glück, denn er war nur einen halben Tageslauf entfernt und sie erreichte ihn, noch bevor sich die Dämmerung senkte. Als sie die drei aufragenden Zacken des Steins vor sich sah, witterte sie vorsichtig, doch kein Feind war in der Nähe. Langsam trabte sie näher. Der Stein war alt, mit Moos bewachsen und doch noch voller Kraft.
Naukoda legte ihre Schnauze auf die Steinscheibe inmitten des Gebildes. Wärme durchflutete sie. Bilder, Gerüche und Gefühle durchströmten ihren Leib. So intensiv und mächtig, dass Naukoda für einen Moment die Besinnung verlor. Als sie zu sich kam wusste sie, dass ihr eine lange Wanderung bevorstand. Der alte Feind war stark und der bedrohte Gefährte würde ihm nicht widerstehen können, wenn Naukoda ihm nicht zu Hilfe eilte. Doch zuvor musste sie jenes Ding loswerden, das man ihr um den Hals gelegt hatte.
Ihr Leib krümmte sich und begann sich zu verformen. Aus den Pfoten wuchsen Krallen hervor, verwandelten sich erneut und wurden zu feingliedrigen Fingern. Naukoda betastete den Ring, den man ihr angelegt hatte und fand seine Verriegelung. Mit einem leisen Schnappen löste sich der Gegenstand und Naukoda ließ ihn achtlos fallen.
Dann machte sie sich auf den langen Weg, dem Feind entgegen.
Einige Kilometer entfernt und etliche Stunden später, starrte Wazlav nachdenklich auf seinen Monitor. „Irgendetwas stimmt nicht, Andrej.“
Der Jäger lag mit verschränkten Armen auf seinem Bett und blickte gelangweilt herüber. „Und was stimmt nicht?“
„Das Signal von PL-925W verändert sich nicht.“
„Vielleicht schläft die Wölfin.“
„Nicht so lange, mein Freund.“
„Du machst dir Sorgen um sie?“
„Vielleicht ist sie verletzt oder krank.“
Andrej seufzte leise und schwang die Beine vom Bett. „Von mir aus. Sehen wir nach ihr.“
Wazlav nahm den tragbaren Empfänger mit und achtete auf das Signal des Senderhalsbandes. Doch es veränderte sich nicht und so fiel es den Männern leicht, die Stelle zu erreichen, an denen es lag.
Der Forscher drehte das Halsband ratlos in den Händen. „Sieh dir das an, Andrej. Der Verschluss wurde fachgerecht geöffnet. Du weißt, das ist nicht einfach. Jemand hat der Wölfin das Halsband abgenommen.“
„Vielleicht hat sie es abgestreift?“
„Nein, Andrej, das hätte sie nicht gekonnt.“
Andrej schob das Betäubungsgewehr neben seine tödliche Waffe und schnäuzte sich. „Vielleicht hat sie ein Jäger erlegt. Du weißt, Wolfsfelle sind noch immer sehr begehrt. Trotz des Verbotes, Freund Wazlav. Der Wilderer könnte den Sender abgemacht haben.“
„Hier ist kein Blut.“
„Nun, jedenfalls ist deine PL-925W weg.“ Andrej zuckte die Schultern. „Du wirst dich nach einer anderen Wölfin umsehen müssen, die du beobachten kannst.“
„Schade, sie war ein sehr schönes Exemplar.“ Wazlav steckte das Halsband mit dem Sender ein. „Ich hoffe nur, ihr ist nichts passiert.“
„Wird es schon nicht“, versuchte Andrej ihn zu trösten. „Glaub mir, diese PL-925W wird ihren Weg schon finden. Die ist ganz besonders zäh.“
Kapitel 10
Endlich Wochenende und Svenja wollte ihre Freundin Kim besuchen. Sie waren schon gemeinsam in den Kindergarten gegangen und seitdem bestand zwischen ihnen eine Bindung, wie sie nur bei besten Freundinnen entstehen konnte. Sie teilten nahezu alles und beide bedauerten, dass die gemeinsame Schulzeit vorüber war und jeder seinen eigenen beruflichen Weg ging. Während Svenja den Ehrgeiz hatte, als Werbegrafikerin Karriere zu machen, war Kim durchaus mit dem Job als Friseuse in Gemünd zufrieden. Sehr zum Leidwesen ihrer Eltern, die recht wohlhabend waren und sich bei ihrer Tochter mehr Ehrgeiz erhofft hatten.
Svenja erreichte das Haus der Webers, stellte ihr Mofa ab und klingelte an der Haustür.
Das Haus der Familie Weber lag in der Straße „Am Merrchen“ und gehörte mit seinem ausgedehnten Garten zu den größeren Häusern von Wolfgarten. Kims Vater arbeitete als Computerspezialist in Schleiden und war vom frühen Morgen bis zum späten Abend nicht zu Hause. Er verdiente sehr gut und das sah man dem Haus und seiner Einrichtung auch an. Große Glasflächen, eine Solaranlage und auch Innen herrschten Glas und Chrom vor. Es wäre vielleicht kalt und unpersönlich gewesen, wenn Kims Mutter nicht eine Leidenschaft für Pflanzen gehabt hätte, die überall in den Räumen verteilt waren.
Svenja klingelte erneut. Nach einer Weile hörte sie endlich Schritte und Kims Bruder Patrick öffnete.
Inzwischen konnte sie längst wieder unbefangen lächeln, wenn sie ihn vor sich sah. Vor zwei Jahren war das anders gewesen. Damals, unter der Lichterkette auf ihrem Bett. Es war eine schöne Zeit gewesen, die erste Liebe zu erleben und vielleicht hätte wirklich mehr daraus werden können, wenn ihre Interessen nicht so unterschiedlich wären. Leider konnte Patrick die Finger nicht von anderen Mädchen lassen. Kims Bruder hielt sich für absolut unwiderstehlich und war hinter jedem Rock her. Er konnte nur schwer akzeptieren, dass sein Charme inzwischen an Svenja abprallte. Ihre kurze und leidenschaftliche Beziehung war beendet, aber sie waren Freunde geblieben, was vielleicht auch an Kim lag. Für Patrick war es zu einem Ritus geworden, dass er jedes Mal, wenn er Svenja ein Begrüßungsküsschen auf die Wange drückte, mehr daraus machen wollte.
Auch diesmal zog er sie direkt an sich und versuchte es.
„He.“ Patrick wich hastig zurück und rieb sich den Fuß, auf den Svenja gerade getreten hatte, an der Wade. „Mann, was soll das? Du hast mich getreten.“