Das Blut des Wolfes. Michael Schenk

Das Blut des Wolfes - Michael Schenk


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die Stangen leer, doch an diesem Tag hatte man dort die Landesfahne, die der Bundesrepublik und die Europafahne aufgezogen. Das war sonst nur der Fall, wenn Wahlen abgehalten wurden.

      „Beeindruckend, was?“

      Svenja fuhr herum und sah Patrick und Kim, die mit ihren Eltern gekommen waren. „Ja“, meinte sie lakonisch, „die Schneider macht großen Bahnhof.“

      „Hallo, Svenja“, grüßte Kims Vater freundlich. Er hatte ihre Worte gehört und deutete auf die fremden Fahrzeuge. „Immerhin, es sind ein Landrat und ein Professor in Wolfgarten.“ Er zwinkerte ihr zu. „Das ist selten hoher Besuch für uns.“

      „Ja, die Schneider wird sich mächtig in Szene setzen“, flüsterte Svenja ihrer Freundin zu.

      „Lass uns rein gehen“, meinte die und zog Svenja mit sich. „Sonst sitzen wir wieder ganz hinten und kriegen nichts mit.“

      Der Saal war nahezu voll und die beiden Freundinnen und Patrick trennten sich von Kims Eltern und suchten sich ein paar zusammenhängende Sitzplätze. Svenja sah nun ihren Vater, der in der ersten Reihe neben Vanessa Schneider saß. Dort war auch die übrige Prominenz versammelt. Die Leiterin der Feuerwehr, der zuständige Förster und Ranger Turner, die sich angeregt mit einem Fremden unterhielten, während vorne an der Bühne die letzten Vorbereitungen liefen.

      „Von der Schneider ist nichts zu sehen“, flüsterte Svenja.

      Kim lachte auf. „Die kommt schon noch. Den Rummel lässt sie sich doch nicht entgehen. Außerdem ist sie ja unser Gemeindevorstand.“

      „Ich hab sie jedenfalls nicht gewählt.“

      Von der Holzdecke war die große Leinwand herunter gefahren worden und Svenja sah sich um, wo wohl der Projektor stand. Patrick deutete auf einen fest montierten Beamer unter der Decke und bei dieser Gelegenheit sah sie auch Wolicek. Der Bauer saß mit seiner Frau am äußersten Ende einer Reihe und sparte nicht mit finsteren Blicken.

      „Ich glaube, jetzt geht es los“, raunte Kim. „Da ist die Schneider und sie hat sich mal wieder richtig rausgeputzt.“

      Svenja wandte den Kopf und erkannte nun die Ortsvorsteherin, die aus einer Seitentür trat und zur Bühne hinüber ging. Als Vanessa Schneider an das Rednerpult trat und sich den Anwesenden zuwandte, erkannte Svenja das Schmuckstück, welches ihr in der Dusche aufgefallen war. Es hing an seiner goldenen Kette auf der Bluse der Frau und schimmerte im Licht eines der Scheinwerfer in sanftem Grün.

      „So auffälliger Modeschmuck passt nicht zu ihr“, raunte Kim. „So Edel, wie die sich immer aufmotzt. Du solltest sie Mal erleben, wenn sie zu uns ins in den Laden kommt. Bedienung nur durch die Chefin. Haare, Maniküre… Das volle Programm und nur vom Feinsten, versteht sich.“

      „Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger“, begann Vanessa Schneider, „ich habe Sie alle zu dieser Versammlung eingeladen, weil der Landrat und Professor Kahnke, die ich beide hiermit herzlich willkommen heiße, darum gebeten haben.“ Es gab höflichen Applaus, als die Genannten sich kurz erhoben und den Anwesenden zunickten. Dann fuhr die Gemeindevorsteherin fort. „Das Land plant, mit Unterstützung des Bundes und der Europäischen Union, ein Forschungsprojekt, welches man hier in unserem schönen Wolfgarten durchführen möchte.“ Sie deutete auf den Professor. „Ich darf zunächst Herrn Professor Kahnke vom European Wolflife Project, kurz EWoP, bitten, uns dieses Projekt vorzustellen.“

      „Der sieht aber nicht wie ein Professor aus“, raunte Patrick. „Schon eher wie Indiana Jones.“

      Da musste Svenja ihm Recht geben. Der Mann war schlank, durchtrainiert und von der Sonne gebräunt. Wind und Wetter hatten ein paar Falten in sein Gesicht gegraben, doch das machte den Mann durchaus interessant, wie Kim fand. „Ich finde, der sieht ziemlich scharf aus“, gestand sie ein. „Ist mir jedenfalls lieber, als wenn er so eine zerknitterte Brillenschlange wäre.“

      „Ruhe“, zischte ein vor ihnen sitzender Mann und sah sie mahnend an.

      Kim hob entschuldigend die Hände und lehnte sich zurück.

      Professor Kahnke begann seinen Vortrag und er schaffte es, die Zuhörer sofort in seinen Bann zu ziehen. „Bei dem, was ich Ihnen vorstellen werde, meine Damen und Herren, geht es um ein ganz besonderes Tier.“ Der Professor betätigte eine Taste und der Beamer projizierte das Bild eines Wolfes. „Canis lupus oder, wie der Volksmund sagt, der Wolf.“

      Erregtes Raunen erfüllte den Gemeinschaftssaal.

      Professor Kahnke deutete unvermittelt auf Vanessa Schneider. „Nun, was denken Sie? Ganz spontan?“

      Vanessa runzelte die Stirn. „Er wirkt ziemlich groß.“

      „Nein, nein, Ihren ersten Gedanken meine ich.“ Professor Kahnke lachte auf. „Ich wette, Sie haben zunächst einmal gedacht, Wow, das Biest sieht gefährlich aus. Stimmt´s?“

      Vanessa Schneider schürzte die Lippen und nickte dann zögernd. „Stimmt.“

      „Danke für Ihre Offenheit.“ Kahnke sah die anderen Anwesenden an. „Ich denke, die meisten von Ihnen haben zunächst ein unangenehmes Gefühl, wenn sie das Bild eines Wolfes sehen. Obwohl dieser hier“, er lachte erneut, „nicht einmal die Fänge fletscht.“

      „Er sieht trotzdem beeindruckend aus“, sagte Ranger Turner.

      Kahnke nickte. „Ja, ein ungewöhnlich großes und schönes Exemplar. Nun, auch wenn ich hier für die Sache der Wölfe eintrete, so kann ich eines nicht abstreiten – Der Wolf ist und bleibt ein Raubtier. Der Mensch gehört allerdings nicht in das Beutespektrum des Wolfes. Das Tier scheut uns und das aus gutem Grund. Immerhin haben wir es nahezu ausgerottet. Aber obwohl er der Urahn unseres Haushundes ist, fürchten wir den Wolf und verbinden seinen Namen mit Furcht und Schrecken. Selbst die Mythologie greift dieses Tier in Form des Werwolfes auf. In den Märchen ist es der böse Wolf, der Großmütter frisst und Jagd auf kleine Mädchen macht, die rote Käppchen tragen.“

      Die Gesichter entspannten sich und hier und da erschien ein leichtes Lächeln. Professor Kahnke projizierte das nächste Bild, welches einen zierlichen Yorkshire-Terrier mit Haarschleife und einen Wolf nebeneinander zeigte. „Kaum zu glauben, dass sie denselben Ursprung haben, nicht wahr? Der Wolf gehört zu den größten Vertretern der so genannten Hundeartigen. Die in Europa am weitesten verbreitete Form ist der canis lupus lupus. In seiner größten, der nordischen Form, kann er eine Schulterhöhe von bis zu achtzig Zentimetern und mehr erreichen, und wiegt bis zu achtzig Kilogramm.“

      „Ziemlicher Brocken“, warf Kims Vater ein. „Er wird sich wohl kaum mit ein bisschen Hundefutter begnügen.“

      „Nein, bestimmt nicht.“ Professor Kahnke deutete mit dem Laserpointer auf den Wolf. „Pro Tag benötigt ein ausgewachsener Wolf bis zu fünfzehn Kilogramm Fleisch.“

      „Fünfzehn… Mann, das ist eine Menge.“

      „Ist es. Daher sind ihre Familienverbände, die Rudel, auch eher klein und bestreifen ein großes Revier. Ihre Beute spüren sie mit ihrem ausgeprägten Geruchssinn auf. Normalerweise fallen sie kranke oder verendende Tiere an. In gewisser Weise ist das eine Selbstschutzmaßnahme. Ein wehrhaftes Tier könnte den Angreifer verletzen, so dass dieser nicht mehr jagen kann. Der verletzte Wolf wäre dann auf die Pflege des Rudels angewiesen oder müsste verenden. Ich sage Ihnen das mit aller Eindringlichkeit, um aufzuzeigen, dass diese Raubtiere lieber den bequemen Weg gehen.“ Er lächelte freundlich. „Wir Menschen wären ihm als Beute zu anstrengend.“

      Erneut waren Lacher zu hören und Kahnke wählte das nächste Bild.

      Svenja hörte den Ausführungen zu und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Worauf wollte Professor Kahnke hinaus? Eine ungute Ahnung beschlich sie. Die nachfolgenden Worte des Mannes bestätigten ihre Befürchtungen.

      „Es gibt eine Reihe von Bemühungen im Bereich des Artenschutzes. Dazu gehören auch Pläne, den Wolf wieder in Deutschland heimisch zu machen. Dazu haben wir ein Projekt ausgearbeitet, welches die Akzeptanz für freilebende Wölfe erhöhen soll. Dieses Projekt ist Bestandteil des European


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