Das Blut des Wolfes. Michael Schenk
Vanessa Schneider stimmte in sein Lächeln ein. „Vergessen wir doch bitte eines nicht – Wölfe sind nahezu mystische Tiere. Jeder denkt doch mit einem wohligen Schauder an gefährliche Bestien. Wir Menschen lieben die Gefahr, wenn wir sie in Sicherheit erleben können. Das heißt, wenn wir einem gefährlichen Tier begegnen, ohne dass es uns wirklich zu nahe kommt. Das nennt man Nervenkitzel und Abenteuerlust. Die Arztpraxis dient natürlich der Sicherheit. Sie wissen doch alle, wie häufig es bei Besuchern des Naturparks zu kleineren Blessuren kommt und wenn hier ein Themenpark eröffnet wird, dann werden sehr viel mehr Gäste kommen, als es bislang der Fall war.“
Beim Wort Themenpark zuckten Professor Kahnke und Ranger Turner gleichermaßen zusammen. Schließlich sollte in Wolfgarten kein Vergnügungspark entstehen. Letztlich sollte den Parkbesuchern die Möglichkeit geboten werden, die Wölfe vielleicht in freier Natur zu beobachten, so sich die Tiere überhaupt beobachten ließen.
Es gab noch eine Vielzahl von Fragen, die sich hauptsächlich mit der Sicherheit der Einwohner befassten und das Hin und Her von Fragen und Antworten zog sich beachtlich hin.
Schließlich trat Vanessa Schneider abermals an das Pult und bat um Ruhe. „Wir sollten zunächst einmal darüber entscheiden, ob wir dem Projekt überhaupt zustimmen. Die EWoP, das Land, der Kreis, sie alle sind dafür, dass das Projekt nach Wolfgarten kommt. Aber letztlich geht es nicht ohne unsere Zustimmung.“
„Wäre ja noch schöner“, rief einer der Dorfbewohner.
Vanessa ignorierte den Zwischenruf. „Und wenn wir zustimmen, dann wird es noch eine Weile dauern, bevor tatsächlich der erste Wolf bei uns sein wird.“
Patrick beugte sich zu Kim und Svenja. „Ich denke, der blöde Gockel von Bauer Wolicek wird bald Konkurrenz bekommen. Statt seinem Gekrächze hören wir jetzt morgens bestimmt bald Wolfsgeheul.“
„Die heulen eher nachts, du Blödmann“, flachste Kim.
Svenja war für das Akzeptanzprojekt. Alleine schon aus dem Grund, weil sie die Wölfe interessant fand. Ihre Gedanken überschlugen sich. Der weniger öffentliche Teil des Akzeptanzprojekts sollte über mehrere Jahre gehen, wie Kahnke gesagt hatte. Danach würde man die Ergebnisse vermarkten und wenn hier im Anschluss ein Themenpark „Wölfe“ eingerichtet wurde, dann gab es sicher eine riesige Werbekampagne. Für eine Werbegrafikerin sicher eine hochinteressante Sache, wenn man es richtig einfädelte. Und falls die Wolfgartener dem Projekt zustimmten.
Sie stimmten tatsächlich zu.
Mit Ausnahme von Bauer Wolicek und einer Handvoll anderer Bewohner, entschied sich die Mehrheit für die Durchführung des Projektes.
Die Wölfe würden nach Wolfgarten kommen.
Kapitel 13
Die Wölfe würden kommen.
Ausgerechnet Wölfe.
Das Wandelwesen stand am Fenster und blickte hinaus auf das Dorfgemeinschaftshaus. Verfluchte Wölfe.
Einst waren die Wölfe die Verbündeten der Menschen gewesen. Ihre Instinkte hatten sie vor den Wandelwesen gewarnt und sie waren im Kampf an die Seite der Menschen getreten. Unter den Wölfen gab es einige, die sich ebenfalls verwandeln konnten und die dann zu furchtbaren Kämpfern wurden. Die Rudel der Wandelwesen hatten lange gegen die Wölfe und die Menschen gekämpft und die Entscheidung war erst gefallen, nachdem die Wandelwesen Zwietracht zwischen den Wölfen und ihren Verbündeten gesät hatten. Ja, die Rudel hatten es geschafft, die Menschen glauben zu lassen, dass die Wölfe für viele Morde verantwortlich gewesen waren. So hatten sich Wölfe und Menschen getrennt, vielmehr noch, sie waren zu Feinden geworden. Das hatte den Rudeln der Wandelwesen den Sieg gebracht. Nun gab es kaum noch Wölfe und auch nicht deren mächtige Gefährten, welche die Menschen gewarnt und geschützt hätten. Nur noch die Rudel der Wandelwesen und ihre Opfer.
Und jetzt, da sich sein eigenes Rudel auf den größten Triumph vorbereitete, brachten die Menschen die Wölfe zurück. Hierher, nach Wolfgarten.
Niemand hatte damit rechnen können und es konnte den Zeitplan des Rudels in Gefahr bringen. Aber es gab kein zurück. Das Rudel brauchte frisches Blut und die ersten Hunde starben bereits. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie alle zu töten und die Menschen zu schlachten, aber das durfte noch nicht sein. Das Wandelwesen brauchte den Samen eines Menschen, damit die Wandelfähigkeit fortbestand hatte. Sicher, ein geeignetes Männchen ließ sich auch an einem anderen Ort finden, aber das würde viel Zeit und Vorbereitung erfordern. Vielleicht zuviel Zeit, denn die Stärkung der Wandelbarkeit musste bald erfolgen.
Nein, die Erstarkung des Rudels musste hier, in Wolfgarten, erfolgen.
Zunächst mussten die Hunde sterben. Einer nach dem anderen. Wenn nur die Hunde starben und die Menschen noch am Leben blieben, dann würde man die Tat einem Hundehasser zuordnen. Einem Menschen.
Das Wandelwesen leckte sich nachdenklich über die Lippen. Es musste bedenken, dass sich die Zeiten geändert hatten. Auch wenn Wolfgarten scheinbar einsam auf dem Höhenrücken lag und von Wäldern umgeben war, die nächsten Siedlungen waren nicht fern. Die Menschen waren nicht mehr auf Boten und Signalfeuer angewiesen, um Hilfe zu holen. Die moderne Technik machte es ihnen leicht, sie schnell zu erlangen.
Nein, es war weit besser, die bewährte alte Taktik anzuwenden. Die Menschen durften nicht an einen Feind in ihren eigenen Reihen glauben. Das würde die anderen Dorfbewohner misstrauisch und vorsichtig machen. Sie würden einander beobachten und das konnte es schwieriger machen, sich unerkannt unter ihnen zu bewegen.
Das Wandelwesen lächelte sanft. Der umgebende Wald, die Tiere des Naturparks… Ja, es musste sich auf die Erfahrungen aus alten Zeiten besinnen und den Verdacht zunächst auf ein Raubtier lenken. Es würde einige Wildtiere töten und die Spuren in eine bestimmte Richtung lenken. Wenn es geschickt vorging, konnte es dadurch sogar dafür sorgen, dass man den Wölfen mit Feindschaft begegnete. Es musste nur geschickt genug vorgehen.
Das Wandelwesen wandte sich zur Seite und blickte dabei in die Sonne. Für einen flüchtigen Augenblicken wurden aus den runden Pupillen senkrechte Schlitze, bevor die Augen wieder vollkommen menschlich wirkten.
Vielleicht kamen die Wölfe auch zu spät, um den Menschen beizustehen. Dennoch, es würde gut sein, wenn sich das Rudel auf den alten Feind vorbereitete.
Das Wandelwesen hob die Hand und beschattete die Augen gegen das grelle Sonnenlicht.
Es würde ein sehr heißer Sommer werden.
Ein blutiger Sommer.
Kapitel 14
Natürlich nahmen die Vorbereitungen für das Akzeptanzprojekt der EWoP einige Zeit in Anspruch und doch verliefen sie verhältnismäßig schnell, wenn man bedachte, wie viele Verwaltungsvorgänge dabei zu berücksichtigen waren. In den ersten Wochen merkte man in Wolfgarten überhaupt nichts von diesen Aktivitäten. Es schien fast, als wollten die Ereignisse der Welt einen weiten Bogen um den Kermeter Höhenzug machen.
Die weitere Suche nach den vermissten Proschkes war Ergebnislos und merkwürdigerweise blieb der erwartete Rummel aus. Zu viele Ereignisse zogen die Aufmerksamkeit der Medien auf sich und das vermisste Paar ging darin nahezu unter. Es gab nicht einmal Verwandte oder Freunde, welche die Nachforschungen verfolgt hätten. Es schien, als habe das Ehepaar gar nicht existiert. Die Kriminalpolizei in Schleiden ermittelte zwar weiterhin, aber der scheinbar unlösbare Fall trat hinter andere zurück.
Jochen und sein Kollege Peter versuchten vergeblich, den Tierquäler ausfindig zu machen, der den armen Rudi des Bauern Wolicek getötet hatte. Da es keinen Hinweis auf den Täter gab, hatte Bauer Wolicek nun fast jeden Dorfbewohner in Verdacht und wachte mit finsterer Miene über seine Herde. Wer sich an seinem armen Rudi vergriffen hatte, der mochte es auch auf seine braven Kühe abgesehen haben. Inzwischen schlief der Bauer sogar auf der Weide und drohte jedem mit einer leicht verbogenen Mistgabel, der seinen gescheckten Kühen angeblich zu nahe kam.
Dann,