Die Baumeisterin. Barbara Goldstein

Die Baumeisterin - Barbara Goldstein


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geschmückt worden waren.

      Prinz Nefermaat, der die Baustelle vor über einem Jahr zuletzt besucht hatte, zeigte König Seneferu die Steinbrüche, die Werkstätten der Steinmetze, die Baurampe sowie die Grabkammer unterhalb der Pyramide. Zum Schluss ließ sich der König mit einer Sänfte auf die oberste Plattform hinauftragen, von wo aus er bis zu seiner Hauptstadt hinübersehen konnte. Die Eskorte des Königs und seines Wesirs bestand aus hundert Würdenträgern, die ihre Zeit damit zu verbringen schienen, vor dem Göttlichen auf Knien zu rutschen und den Staub zu seinen Füßen zu küssen. Aperire kniete in angemessener Entfernung zum Herrscher.

      Obwohl die Arbeiter die strenge Anweisung hatten, die Bauarbeiten durch die Anwesenheit des Königs nicht zu verzögern, kamen die Schlitten auf der Rampe zum Stehen und sogar teilweise ins Rutschen, weil die Arbeiter sich ihrem Herrscher zu Füßen warfen und auf eine kurze Segnung durch Seine Göttlichkeit hofften. Mein Vater und die anderen Aufseher hatten alle Hände voll zu tun, nach dem Abstieg des Königs von der obersten Plattform die Arbeiter wieder zum Steintransport anzutreiben. Die bereits gebrochenen Steine sollten an diesem Tag noch verlegt werden, um ein Chaos auf der Baustelle zu vermeiden, und so wurde die Arbeit bis in die späten Abendstunden angeordnet. Nach der Abendmahlzeit ging sie im Schein von Fackeln weiter.

      In der Stunde des Sonnenuntergangs hatte sich der König vom Wesir die Pläne für sein Grabmal zeigen lassen. In einigen der Pläne hatte der Göttliche mit roter Tinte Änderungen vorgenommen.

      Aperire fand mich nach Einbruch der Dunkelheit. Ich saß vor dem Zelt des Bauleiters und sah die Fackelzüge der Steinschlepper die unbeleuchtete Baurampe hinaufkriechen. Es war ein fantastischer Anblick! Tausende von Glühwürmchen bewegten sich von den Steinmetzwerkstätten hinüber zur Rampe, von dort hinauf auf die oberste Plattform, die ganz mit Fackeln ausgeleuchtet war.

      »Glaubst du, dass Seneferu diesen außergewöhnlichen Anblick auch nur eines Blickes würdigen wird?«, fragte ich den Sonnenpriester.

      »Ich glaube nicht, Nefrit. Der Göttliche speist mit seinem Bruder zu Abend. Morgen Früh wird er in die Residenz aufbrechen. Die Familie des Königs ist schon in den Palast zurückgekehrt.«

      »Hast du die geänderten Pläne?«

      »Ein königlicher Sekretär hat sie mir eben überreicht. Übertrage die Veränderungen in die Pläne der Bauleitung! Die neuen Bauzeichnungen müssen morgen Früh fertig sein!«

      Mit einem feinen Pinsel zeichnete ich am Schreibtisch des Bauleiters das Fundament der Pyramide auf den Papyrus. Den korrekten Neigungswinkel maß ich mit einem Winkelmesser nach. Dann trug ich mit einem Lineal die neuen Maße ein.

      Ganz in meine Arbeit versunken, schreckte ich auf, als jemand das Zelt betrat.

      »Du darfst hier nicht hereinkommen!«, rief ich und konzentrierte mich wieder auf meine Arbeit.

      Der Mann am Eingang rührte sich nicht. Im flackernden Schein der Öllampe konnte ich sein Gesicht nicht erkennen.

      »Bitte geh!«, bat ich ihn. »Sonst bekomme ich Ärger!«

      Vom Zelteingang hörte ich ein leises Lachen. »Du wirst keinen Ärger bekommen.« Mit einem Weinbecher in der Hand kam er näher und sah sich die Pläne der Pyramide an.

      »Diese Pläne darf niemand außer dem Königlichen Bauleiter sehen!«, wies ich ihn zurecht. »Sie sind geheim!«

      »Ich darf sie sehen.«

      »Wer bist du? Der neue Bauleiter?«

      Er trat in den Lichtschein meiner Öllampe. Er trug einen weißen, vielfach gefältelten Leinenschurz, einen breiten Halsschmuck aus Lapislazuli und Silber und an den Füßen weiße Sandalen. Seine langen Haare, die ihm bis auf die breiten Schultern fielen, trug er offen. Den Kinnbart aus Türkis hatte er abgenommen.

      »Ich bin Seneferu«, stellte er sich mit einem leisen Lächeln vor. Er sagte nicht: Ich bin der Herr der Weltordnung, dein König und Gott.

      Erschrocken ließ ich meinen Pinsel fallen, der auf dem Papyrus einen schwarzen Tintenfleck hinterließ. Ich starrte Seneferu an, bis ich mir der unverzeihlichen Lästerung Seiner Majestät bewusst wurde. Dann warf ich mich auf den Boden und drückte die Nase in den Sand zu seinen Füßen. »Ich bitte Eure Majestät um Vergebung!«, murmelte ich in den Sand.

      »Gewährt! Du kannst dich erheben.«

      Den Blick zu Boden gewendet, richtete ich mich kniend auf.

      Seneferu ging im Zelt auf und ab und betrachtete die Pläne der Pyramide, die ich in den letzten Wochen gezeichnet hatte. »Wo sind die Pläne, die ich heute geändert habe?«

      »Auf dem Schreibtisch«, sagte ich und wollte mich erheben.

      »Zeig sie mir!«, befahl er.

      Ich erhob mich, und er folgte mir. Ich setzte mich in Schreiberposition vor den Schreibtisch und zeigte ihm den Plan, an dem ich gearbeitet hatte, als er eintrat. Oberhalb der Skizze der Grabkammer hatte sich eine Lache aus Tinte gebildet. Doch die neue Form der äußeren Pyramide war noch deutlich zu erkennen.

      Er beugte sich über den Plan. Dann setzte er sich in Schreiberposition neben mich. »Pinsel und Tinte!«, befahl er.

      Ich reichte ihm meinen zu Boden gefallenen Pinsel und die Tintenschale, und er begann den Plan zu ändern. Ich saß neben ihm auf dem Boden und betrachtete fasziniert, wie seine Hände geschickt den Pinsel führten. Er verbreiterte die Pyramidenbasis um weitere fünfzig Schritte und erhöhte so den Neigungswinkel bis zur Pyramidenspitze, die nun Djosers Pyramide um vierzig königliche Ellen überragen sollte.

      Dann zeigte er mir den Plan. »Bist du einverstanden?«

      »Euer Majestät, ich …«

      »Wie heißt du?«, unterbrach er mich.

      »Nefrit, Euer Majestät.«

      »Du solltest lernen, deine Meinung offen zu sagen, Nefrit. Auch gegenüber dem König. Wenn ich etwas hasse, dann ist es ungerechtfertigte Schmeichelei meiner Person.«

      »Ja, Euer Majestät. Die Linien sind nicht gerade. Und der Winkel ist zu steil.«

      Seneferu sah mich erst ungläubig an, doch dann begann er herzlich zu lachen. »So spricht nicht einmal mein Bruder Nefermaat mit mir! Und er ist der höchste Beamte in meinem Staat.«

      »Ich bitte um Vergebung«, murmelte ich, ohne ihn anzusehen.

      »Wie heißt dein Vater, Nefrit?«

      »Kamose, Euer Majestät.«

      »Dann sag dem Bauleiter Kamose, der König wünscht die Pyramide größer als besprochen. Er soll die neuen Neigungswinkel und Ellenmaße in seine Berechnungen mit einbeziehen.«

      Bevor ich das Missverständnis aufklären konnte, dass ich nicht die Tochter des neuen Bauleiters war, hatte sich der Lebendige Gott erhoben und ich meine Nase in den Sand gedrückt. Dann war er verschwunden.

      Mein Versäumnis verursachte am nächsten Morgen eine große Verwirrung. Der König wollte vor seiner Abreise in die Residenz die neuen Pläne sehen und genehmigen. Aber von einem Bauleiter namens Kamose hatte sein Stab noch nie gehört. Ich hörte den Wutausbruch des Herrschers im Zelt des Bauleiters: »Was heißt das: Es gibt keinen Kamose?«

      Das Wort des Lebendigen Gottes war Gesetz, und so machte man sich auf die Suche nach einem Mann namens Kamose, den man dem König vorführen konnte.

      Ich rannte zu Aperire, der zunächst keine Zeit für mich hatte. Aber ich redete so lange auf ihn ein, bis er mir mit wachsender Aufmerksamkeit zuhörte. »Beim Sonnengott Re! Bist du von deinem Ka verlassen, Nefrit? Königlicher Bauleiter Kamose!«

      Ohne lange zu überlegen, befahl er mir, meinen Vater von der Baustelle zu holen. Ich stürmte los und lief die steile Rampe hinauf. Irgendwo dort oben überwachte mein Vater die Schleppdienste und die Positionierung der Steinquader an der stromabwärts gelegenen Seite der Pyramide. Er half gerade zehn Arbeitern beim Abladen eines besonders großen Steinquaders von


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