Marattha König Zweier Welten Gesamtausgabe. Peter Urban

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dem Ball zufrieden?«

      Arthur legte den Kopf schief und blickte Miss Hall lange in die blauen Augen. »Nicht nur mit dieser Abendgesellschaft ... Sie wissen viel über Indien, kleine Lady, und Sie verstehen es, Ihre Zuhörer zu fesseln.«

      Charlotte nahm ihre runde Brille von der Nase und begann verlegen mit dem ungeliebten Objekt zu spielen. »Indien existiert nicht, Oberst Wesley. Ich kenne mich lediglich hier in Bengalen ziemlich gut aus, weil ich in Kalkutta zur Welt gekommen bin und viel mit meinem Vater herumreisen durfte – Digha, Bakkhali, Sagar, Vishnupur, Shantiniketan, Doars. In den heißen Monaten des Jahres, kurz vor Beginn des Monsuns, habe ich dann mit meiner Mutter in den Bergen gelebt. Wir besitzen ein Haus in Kishangani. Dort ist es angenehm kühl, und die Landschaft ist wunderbar grün, wenn hier in der Stadt alles in braunem Staub versinkt. Man kann sogar die weißen, schneebedeckten Gipfel des Himalaja sehen. Manchmal male ich mir aus, was sich auf der anderen Seite der Berge befindet: Dorje Ling, Sikkim, Bhutan, Xigaze Shan – Welten, die noch kein Europäer betreten hat. Nicht einmal die Soldaten des Königs wagen sich hinauf in den Schnee und das ewige Eis. Die Gipfel des Kanchenjunga kann man niemals sehen. Sie liegen in einem Meer von Wolken verborgen. Man sagt, es gibt dort oben Schneemenschen und Ungeheuer, und wenn ein Unwetter über die Berge hinwegfegt, gibt es sogar Tage, an denen ich diese Ammenmärchen glaube.«

      »Zu Hause in Irland gab es auch ein paar Ammenmärchen, an die ich als Kind immer glauben wollte. Erzählen Sie mir mehr von Ihren Schneemenschen und Ungeheuern und von diesen sagenhaften Welten hoch oben in den Bergen, Miss Charlotte.«

      »Kommen Sie am Sonntagnachmittag zum Tee zu uns, und ich zeige Ihnen meine Zeichnungen, Oberst. Warum interessiert Sie das alles eigentlich? Die anderen Herren Offiziere ... ihnen ist dieses Land gleichgültig, solange sie nur ein paar gute Ponys finden, um Polo zu spielen oder eine Offiziersmesse mit einem Backgammonbrett, Karten und reichlich Brandy zu besuchen ...«

      Neugierig fixierte Charlotte Arthurs blaugraue Augen, als versuchte sie darin den tieferen Grund für seine Fragen zu lesen. Ihre kleine Brille kreiste zwischen Mittel- und Zeigefinger durch die Luft. »Vielleicht, weil ich Polo für einen dummen Sport halte und nicht genug Geld habe, um mich in der Offiziersmesse beim Backgammon zu ruinieren. Vielleicht, weil ich Brandy für ein abscheuliches Getränk halte, mit dem man sich in diesem Klima in kürzester Zeit umbringt, ohne dabei die Hilfe eines ehrenvollen Gegners in Anspruch zu nehmen ...«, antwortete Wesley der jungen Dame amüsiert. »Ich nehme Ihre Einladung zum Tee gerne an, Miss Hall. Wenn Ihre Eltern es erlauben ...«

      Kapitel 5 Das Rad des Lebens

      Arthur hatte Sir John Shore seinen Plan für eine Offensive gegen Spanisch-Manila und ein langes, detailliertes Papier über die Organisation eines militärischen Nachrichtendienstes übergeben. Er hatte geheimnisvolle nächtliche Ausflüge nach Hoara unternommen, um mit Lutuf Ullah zu diskutieren, dem Pferdehändler aus Kabul. Er war mehrmals mit William Hickey zusammengetroffen, und schließlich auch mit dem für Kartographie verantwortlichen Offizier der Ostindischen Kompanie. Er hatte einen herrlichen Sonntag im Haus von Sir Edwin Hall verbracht und dabei die Zeichnungen und Aquarelle von Charlotte betrachten dürfen, in denen das junge Mädchen ihr Bengalen darstellte, und er hatte sich mit Eochaid angefreundet, seinem neuen vierbeinigen Gefährten. Und seit er für sein 33. Regiment neue, strenge Verhaltensmaßregeln festgeschrieben hatte, verkürzte sich die Krankenliste mit traumhafter Geschwindigkeit.

      Wesley war mit seinem Leben zufrieden und glücklich, den Weg nach Indien gewählt zu haben. Das Klima, mit dem John Sherbrooke noch immer zu kämpfen hatte, machte ihm nicht im geringsten zu schaffen, und der märchenhafte Orient, den er nun tagtäglich mit eigenen Augen zu sehen bekam, schien ihm noch um ein Vielfaches reizvoller und interessanter als die Geschichten in seinen Büchern.

      Alles ging ihm leicht von der Hand. Er stand um vier Uhr morgens auf und befasste sich mit seinen Männern, mit dem Studium des Kriegsschauplatzes und mit den unerwarteten, aber aufregenden Aufgaben, die Sir John Shore ihm übertrug. Trotz der vielen Aufgaben und der zusätzlichen Arbeit, die er sich selbst auferlegte, blieb ihm noch reichlich Zeit, die Gegend zu erkunden, neue Bekanntschaften zu schließen und alte aufzufrischen. Sein Körper schien überhaupt keiner Ruhepause zu bedürfen, und je mehr er sich aufbürdete, umso ausgeglichener wurde er.

      Manchmal stieg er auf sein Pferd und verschwand aus dem Umkreis der Stadt, ohne jemandem zu sagen, warum und wohin er unterwegs war. Meist trieb es ihn hinaus zum Dakshinewar-Tempel, einem hinduistischen Gotteshaus, das Kali geweiht war. Dort stand er dann abseits der indischen Pilger auf einem Hügel und betrachtete das bunte, fremde Treiben mit Kinderaugen. Manchmal zog es ihn ans linke Ufer des Hoogley und in den Botanischen Garten, den gelehrte Männer aus England für die Ostindische Kompanie angelegt hatten, um die Pflanzenvielfalt Bengalens auf engem Raum zu sammeln und zu katalogisieren. Von Zeit zu Zeit wagte er sich sogar bis nach Diamond Harbour hinunter, an die Mündung des Hoogley. Oft ritt er alleine; ab und an erlaubte er John Sherbrooke, ihn zu begleiten.

      Doch mit Sherbrooke durch die Gegend zu streifen war nicht unproblematisch. Der Oberstleutnant maß Indien an europäischen Maßstäben. Er hatte Angst davor, mit den Einheimischen in zu engen

      Kontakt zu kommen. Er traute sich nicht, bei irgendeinem Straßenhändler seinen Magen mit einem »curry« zu füllen, oder für ein paar Annas heißen Tee mit Milch, Zucker, Kardamom und Kaneel zu trinken. Er fürchtete sich vor Krankheiten, vor der Dunkelheit und davor, sich in diesem weiten, fremden Land zu verirren.

      In Indien schien sich fast alles zu ändern. Zu Hause in England – und während das 33. Regiment in Dublin stationiert gewesen war – war John Sherbrooke stets der unternehmungslustigere, selbstbewusstere und forschere Offizier gewesen. Arthur dagegen war ein Arbeitstier gewesen: Er hatte die Soldaten gedrillt, hatte sich mit den Lieferanten und den Horse Guards herumgeschlagen und sich nicht getraut, in seiner abgetragenen Uniform bei irgendwelchen gesellschaftlichen Anlässen zu erscheinen, während Sherbrooke dank seiner einflussreichen Familie und seinem prallen Geldbeutel die politischen Aktivitäten übernahm. Jetzt war es Arthur, der antichambrierte, lavierte und Kontakte knüpfte, der einlud und eingeladen wurde und von Tag zu Tag sicherer und selbstbewusster wurde.

      In Indien schien es niemanden zu stören, dass er nur ein einfacher junger Oberst war, und im Unterschied zu all jenen, die sich schon längere Zeit in den drei britischen Besitzungen Westbengalen, Madras und Bombay aufhielten, konnte er neben einer gründlichen militärischen Ausbildung und Fronterfahrung während des Krieges gegen Frankreich überdies mit aktuellem Wissen aufwarten, was die politischen Verhältnisse in England und ganz Europa betraf. Während man ihn in Dublin nicht einmal nach der Uhrzeit gefragt hatte, erkundigte man sich in Kalkutta nach seiner Meinung zu hochexplosiven Themen, bei denen der Einsatz nicht mehr und nicht weniger war als die Vorherrschaft Albions im asiatischen Teil der Welt.

      Er ging in Fort William ein und aus, als würde er zu Sir Johns Familie zählen. Der Generalgouverneur hatte sich nach ihrem ersten Treffen die Zeit genommen, den jungen Mann aus der Reserve zu locken, indem er ihn immer stärker in politische Fragen einband, die die Regierung der drei britischen Stützpunkte im allgemeinen und Bengalens im besonderen betrafen. Um so mehr Aufgaben er Wesley auf die Schultern lud, um so besser schienen dessen soldatische Leistungen zu werden, und um so offener und umgänglicher wurde er. Selbst der Resident der Ostindischen Kompanie, William Hickey, verlangte täglich mit Wesley zu sprechen. Er war nicht so ehrgeizig wie die meisten anderen jungen Offiziere, die es nach Indien zog, aber er war ein kluger Kopf und benützte seinen gesunden Menschenverstand und die gründliche Allgemeinbildung, die er sich in langen, einsamen Nächten angeeignet hatte. Wenngleich er einem Gegenüber stets mit Respekt begegnete, konnte er seine Meinung überzeugt vorbringen und furchtlos vertreten.

      Arthur war nun seit drei Monaten mit seinem Regiment in dieser neuen Welt und fühlte sich ihr bereits tief verbunden. Irland, seine lieblose Familie und seine unglücklichen Jugendjahre hatte er bereits verdrängt und vergessen. An dem Tag, an dem die Caroline den Hafen von Portsmouth verlassen hatte, hatte er den heiligen Schwur geleistet, nie mehr zurückzublicken. Während seine Offiziere sehnsüchtig nach Hause schrieben, sinnierte Arthur über den Vorteil, Zugochsen vor Geschütze zu spannen. Und wenn


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