EQ-Training. Peter Schmidt
Bestimmungen gleich blieben, dann wären diese Gefühle so wenig in der Lage, unserer Erfahrung ein Wertprofil aufzuprägen (abgesehen von Werten als Mittel) wie beliebige andere Qualitäten.
An folgenden Wertbegriffen und Werterfahrungen lässt sich diese Auffassung noch weiter verdeutlichen:
Übelkeit, Gestank, Lärm, Sodbrennen, Ruhestörung, Qual, Strapaze, Mühsal, Argwohn, Schüchternheit, Arroganz, Verbitterung.
Auch hier finden wir neben der bloß inhaltlichen Bestimmung oder Bedeutung – z.B. »Argwohn« als jemandem nicht trauen – normalerweise immer ein negatives Gefühlsmoment. Und solche negativen »Gefühlsauszeichnungen« umfassen alle Arten von Sinneserfahrungen und Bewusstseinsobjekten: Gestank – Geruch; Lärm – Gehör; Sodbrennen – Körperempfindung; Missverständnis – Gedanke.
Betrachten wir jetzt eine positive Entsprechung:
Wohlklang, Schönheit, Wohlgefallen, Entzücken, Wohlgeschmack, Augenweide, Erleichterung, Ohrenschmaus.
Wir sehen hier wieder, dass sich alle diese Begriffe – neben ihrer jeweils unterschiedlichen Bedeutung – auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen: die positive Gefühlsauszeichnung. Eine einfache Gegenprobe wird uns vollends davon überzeugen, dass dieses Wertmoment tatsächlich der allgemeine Nenner aller (emotionalen, d.h., nicht nur kognitiv erfassten) Werterfahrungen ist. Versuchen Sie sich vorzustellen, dass dieselben Begriffe angenehm sind:
Ärger, Unbehagen, Nervosität, Beklemmung, Wut, Zorn, Trauer, Angst, Furcht, Schmerz, Entsetzen, Kummer, Eifersucht, Abscheu, Ekel, Panik, Unruhe, Sorge, Gereiztheit, Ungeduld, Frustration, Langeweile, Resignation, Verzweiflung, Unruhe, Monotonie.
Dass tatsächlich das Wertmoment dieser Begriffe nicht allein in ihrem sachlichen Gehalt, ihrer bloßen Bedeutung liegt, lässt sich auch an folgenden Beispielen zeigen:
Monotonie etwa ist nur dann Monotonie, also ein negativer Wertbegriff, wenn wir in der Aufeinanderfolge ein negatives Gefühlsmoment erleben. Völlig gleichförmige Wiederholung kann auch angenehm sein, wie zum Beispiel Wiederholungen in der Musik oder das Behagen des Säuglings zeigen, wenn er in der Wiege geschaukelt wird. Und Schüchternheit, die von einem selbst nicht als unangenehm erlebt wird, wäre lediglich Zurückhaltung oder Desinteresse.
Umgekehrt gilt dasselbe für die folgende Liste. Wir können keinem der Begriffe das Prädikat unangenehm zuordnen:
Freude, Behagen, Lust, Liebe, Glück, Zufriedenheit, Orgasmus, Genuss, Euphorie, Begeisterung, Vergnügen, Entzücken, Fröhlichkeit, Wohlbefinden, Erleichterung.
Auch hier wird wieder deutlich, dass diese Erfahrungen statt des Negativen ein Gemeinsames haben: ihre Positivität, und diese wird nicht einfach nur gedanklich erfasst. Werterfahrungen werden hier durch Gefühle konstituiert.
Dies gilt auch für jene Werte, die wir als »Sinn des Lebens« bezeichnen.
Sinn ist eine besondere Form des Wertes. Sinn ist ein Wert, der für uns besonders große Bedeutung hat. Was heißt hier letztlich groß und bedeutend?
Versuchen Sie sich vorzustellen, was Sie in Ihrem Leben als sinnvoll ansehen, hätte keinerlei Bezug zu Ihren Gefühlen. Die aufopfernde Arbeit einer Mutter etwa sei einzig und allein darauf ausgerichtet, ihre Kinder zu fördern. Dann würde sie ihr eigenes Glück für das ihrer Kinder opfern.
In einem fairen System, das allen Seiten gerecht wird, sollte vollständiger Verzicht zugunsten anderer aber eher eine Ausnahme sein. Es sei denn, wir erfahren gerade in diesem Verzicht eine emotionale Dimension, die unser Leben bereichert. Auch der Mutter steht ein Recht auf ein erfülltes Leben zu.
Unser Lebenssinn ist hängt also vom Maß der emotionalen Erfüllung ab, die durch die Sinnhaftigkeit des Lebens erfahren wird.
Und opfern wir uns überhaupt wirklich für bloße Ideen? Das mag zwar prinzipiell möglich sein, spielt aber in der Praxis offenbar keine große Rolle. Vor allem erhöht es nicht zwangsläufig den Wert einer Handlung. Es muss eher als fehlender Einklang mit unseren eigenen Interessen angesehen werden. Ideen sind abstrakt, und wenn sie nicht wiederum innerhalb des emotionalen Systems, in dem wir uns alle gemeinsam bewegen, mehr Positivität des Gefühls und weniger Negativität, also Leiden, hervorbringen, dann handelt es sich um bloße Prinzipienreiterei, um fixe Ideen, um »blutleere Ansichten« ohne Rücksicht auf unsere Gefühle.
Das Kriterium eines nützlichen Wertes, also auch einer Idee, für die man stirbt, kann letztlich immer nur die Qualität unserer Gefühle sein.
Dass sich Werte, die für uns einen Sinn repräsentieren, oft in Schwerpunkten zeigen, in bestimmten »großen Aufgaben«, wie ein Kunstwerk zu schaffen oder eine wissenschaftliche Aufgabe zu lösen, und dass sie deswegen »Sinn« genannt werden, ändert nichts an der Begründung solcher Werte durch Gefühle.
Nicht die Größe oder Außerordentlichkeit der Aufgabe, die wir als Lebenssinn empfinden, entscheidet über seine Qualität als Sinn, sondern die positive Gefühlsauszeichnung – also die durchgehende und tiefgreifende emotionale Erfüllung oder Befriedigung, die wir dabei im Leben empfinden. Ein Kind großzuziehen oder als Handwerker ein Meister seines Fachs zu werden, kann durchaus ein vergleichbares Maß an Sinnerfüllung verschaffen, wie Europa als Politiker zur Einheit zu führen, die Relativitätstheorie zu entwickeln oder eine Oper zu komponieren.
Ein Bewusstsein, dem eine Fülle von Werten durch Gefühle zugänglich ist, stellt niemals den Sinn des Lebens in Frage.
10 Bewusste und unbewusste Motivationen
Die These, Wert und Sinn des Lebens seien durch Gefühle bedingt, führt leicht zu einem naheliegenden Missverständnis: nämlich, wir handelten immer bewusst um der Gefühle willen. Aber dann wäre unsere Suche nach dem, was das Wertvollsein begründet, überflüssig gewesen, denn wir wüssten längst, welche mentale Rolle unsere Gefühle spielen. Das Gefühl ist zwar, neben der Einsicht in Mittel, Antrieb unseres Handelns.
Doch das Ziel unserer Motivation ist in den weitaus meisten Fällen der wertvolle Gegenstand, der das Gefühl hervorruft oder der es mit sich trägt.
»Der Mensch strebt zunächst nach Gütern, und nicht nach der Lust an den Gütern«, argumentiert denn auch der Philosoph und Psychologe Max Scheler. Die Lust, wie auch alle anderen positiven Gefühle, erscheint oft nur als Nebeneffekt. Es erfordert einige intellektuelle Anstrengung, diesen eher nebensächlich wirkenden Faktor als den eigentlich bestimmenden im Leben zu entdecken.
Der Grund dafür liegt, wie Sie im Verlaufe des EQ-Trainings erkennen werden, in unserer mangelnden inneren Unterscheidungsfähigkeit. Der geübte Blick auf Ihre inneren Gegebenheiten wird es Ihnen daher schon bald ermöglichen, völlig neue Mittel zur inneren Veränderung einzusetzen.
Deshalb weisen sowohl die traditionellen östlichen Weisheitssysteme und Meditationslehren wie auch alle neueren westlichen Therapien immer wieder auf den bewusstseinsverändernden Effekt der Selbsterkenntnis hin.
Nur muss diese Selbsterkenntnis das wirklich Wesentliche im Leben erfassen – und das ist die Rolle unserer Gefühle. Auch die Psychoanalyse ist ja nach ihrem eigenen Selbstverständnis ein Aufdeckungsprozess unbewusster Motivationen, d.h. eben auch jener unbewussten Aspekte, die im Gefühl liegen. Sigmund Freud ging sogar so weit, zu glauben, die Lust sei das eigentlich beherrschende Moment unseres Lebens.
Doch diese Auffassung ist sicher nicht ganz zutreffend – unter anderem, weil Lust nur eine Form innerhalb der großen Palette positiver Gefühle in ihren vielfältigen Gegebenheitsweisen als Wahrnehmung und Gedanke, als Sinn und Wert darstellt.
In einzelnen Fällen wissen wir allerdings doch um unsere Motivation durch das Gefühl, was sich in solchen Äußerungen zeigt wie: »Ich habe keine Lust, (… das und das) zu tun«, »Meine Arbeit macht mir keinen Spaß«, »Der Film war langweilig«, »Ich kann der Versuchung einfach nicht widerstehen!« Oder wenn wir ein Schmerzmittel nehmen.