Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff

Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten - Ernst Tegethoff


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vermochte,

       wegen der Leibesfrucht, die sie trug. Endlich gebar

       sie den schönsten Knaben, den die Natur jemals ge-

       bildet hat. Überall im Lande verbreitete sich die

       Kunde, daß die Königin entbunden habe und der Seneschall

       berief seine zwei Gefährten zu sich: »Ihr

       Herren,« sagte er, »wir müssen unverzüglich einen

       Boten an den König nach Frankreich schicken, der

       ihm die erfreuliche Nachricht überbringe.« Darauf

       nahm er ein Pergament, denn er verstand Romanisch

       und Latein, und begann zu schreiben, wie folgt: »Dem

       Könige von Schottland, seinem Herrn, dem Gott

       Freude und Ehre gebe, entbietet Gruß und Freundschaft

       der Seneschall, den er zurückließ, sein Land

       und sein Weib zu schirmen. Ich tue Euch zu wissen,

       daß meine Herrin mit einem Knaben niederkam, wie

       ihn schöner kein Mensch je ersah, und Eure Liebste

       ist bei guter Gesundheit. Das Kindlein aber heißt Johannes.

       Solches tun wir Euch zu wissen. Aber kehrt

       um Gottes willen, wenn es Euch gefällt, schleunigst

       zurück, denn meine Herrin hat große Sehnsucht nach

       Euch und vergeht schier vor Gram.« Darauf versiegelte

       er den Brief und übergab ihn einem Boten. Dieser

       machte sich auf den Weg und gelangte am zweiten

       Tage nach Evoluic, wo die Mutter des Königs sich

       aufhielt. Der Bote trat in ihr Haus, denn er wußte

       nichts von dem Hasse, den sie gegen die junge Königin

       trug. Die Alte begrüßte den Boten und fragte ihn,

       wohin er gehe. Als sie den Zweck seiner Reise erfahren

       hatte, ließ sie ihm einen starken Wein reichen,

       und er trank so lange, bis er seiner Sinne nicht mehr

       mächtig war. Da lachte die böse Alte, und während

       der Trunkene schlief, durchsuchte sie seine Taschen,

       bis sie die Kapsel mit dem Briefe fand, dann rief sie

       ihren Schreiber und ließ sich den Brief vorlesen. Der

       Inhalt mißfiel ihr und sie ließ einen anderen anfertigen,

       in welchem zu lesen war, daß der Seneschall seinem

       Herrn Gruß entbiete und daß er ihm voll Zorn

       und Schmerz unfrohe Nachricht zu wissen tue: »Herr,

       Eure Gattin hat entbunden, aber nie im Leben sah

       man ein so scheußliches Geschöpf wie das, welches

       sie unter ihrem Herzen trug. Es hat vier Füße, ist ganz

       behaart und seine Augen liegen tief im dicken Kopf.

       Sobald es geboren war, entschlüpfte es wie eine

       Schlange seinen Wärterinnen, und diese wagten

       kaum, es wieder zu ergreifen. Alle Eure Untertanen

       sind in Schrecken und Verwunderung. Nun tut uns

       Euren Willen kund, was mit einem solchen Erben geschehen

       soll.« Darauf versiegelte sie den Brief wieder,

       legte ihn in die Kapsel und trug diese wieder dahin,

       wo sie sie gefunden hatte. Als der Bote ausgeschlafen

       hatte, machte er sich wieder auf den Weg, und die

       böse Alte befahl ihm, auf dem Rückwege wieder bei

       ihr vorzusprechen.

       Der Bote gelangte nach Frankreich, suchte seinen

       Herrn auf und übergab ihm den Brief. Der König

       brach das Siegel auf und fast schwanden ihm die

       Sinne, als er den Inhalt des Schreibens las. Damit die

       Leute seine Verwirrung nicht bemerken sollten, zog er

       sich in sein Gemach zurück und las den Brief immer

       wieder von neuem. Er raufte seine Haare, zerriß sein

       Gewand, und Tränen entströmten seinen Augen. Als

       er sich ein wenig beruhigt und mit seinen Begleitern

       Rats gepflogen hatte, nahm er Pergament und Tinte

       und schrieb: »Der König von Schottland gebietet den

       dreien, denen er seine Geliebte in Hut gab, daß diese

       in ihrem Wochenbette gut gepflegt werde. Wenn

       ihnen ihr Leben lieb ist, sollen sie seine teure Gattin

       und das, was sie geboren hat, so wert halten wie ihren

       eignen Leib. Zu Fasten wird der König zurückkehren

       und dann seinen weiteren Willen kundtun.« Darauf

       versiegelte er den Brief und übergab ihn dem Boten,

       welcher sogleich den Rückweg antrat.

       Als die böse Alte ihn kommen sah, war sie sehr

       froh; sie erwiderte freundlich seinen Gruß und fragte

       ihn nach dem Wohlergehen des Königs. Darauf ließ

       sie ihm wieder starken Wein auftragen, und er trank

       so lange, bis er vor Trunkenheit in Schlaf verfiel. Als

       die dunkle Nacht gekommen war, schlich sich die

       Alte in die Kammer des Boten, nahm ihm den Brief

       und ließ ihn sich von ihrem Schreiber vorlesen. Als

       sie hörte, daß der König seine Heimkehr zu Fasten in

       Aussicht stellte und daß bis dahin die Manekine gut

       gepflegt, bedient und geehrt werden sollte und ihre

       Leibesfrucht mit ihr, da wurde sie mißmutig und ließ

       sogleich ein anderes Schreiben aufsetzen. Der Schreiber

       mußte antworten, daß der König seinem Seneschall

       gebiete, er solle unverzüglich die Königin zum

       Feuertode führen, sobald sie ihr Wochenbett verlassen

       habe, und mit ihr das, was sie geboren habe. Denn er

       habe wenig erfreuliche Neuigkeiten über die Manekine

       erfahren, wohl wisse er, warum sie nur eine Hand

       habe und nicht umsonst sei sie so verstümmelt. »Verbrennt

       sie ohne Zaudern, wenn Euch Euer Leben lieb

       ist!« so schloß das Schreiben. Als es vollendet war,

       legte der Schreiber das Wachs wieder auf, ohne daß

       das Siegel verletzt wurde und verschloß den Brief in

       die Kapsel des schlafenden Boten.

       Nach dreimonatlicher Abwesenheit kehrte der Bote

       nach Dondieu zurück und überreichte dem Seneschall

       das Schreiben. Die drei Beschützer erkannten das Siegel

       des Königs und erbrachen den Brief, als sie ihn

       aber gelesen hatten, da verwunderten sie sich sehr und

       weinten und seufzten. Dann berieten sich die drei Getreuen

       untereinander und sprachen: »Den Willen unseres

       Herrn müssen wir


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