Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff
sich neben sie.
Darauf schaute er ihr ins Gesicht und bemerkte, daß
die Natur nie ein schöneres Weib gebildet hatte. Als
er aber von ihr ging, war der Funke sündiger Liebe in
seiner Brust entzündet. Eines Tages ließ er seine
Tochter vor sich kommen und sprach zu ihr: »Liebe
Tochter, erzürne dich nicht über das, was ich dir jetzt
sagen werde!« »Vater,« entgegnete diese, »Euer Wille
ist mir nie mißfällig.« »Liebe Tochter,« hub der
König wieder an, »ich habe deiner Mutter auf ihrem
Totenbette versprochen, daß ich nach ihr keine andere
Frau heiraten wolle als eine solche, die ihr gliche.
Aber nur du allein kommst ihr auf der weiten Erde
gleich. Sieh, meine Barone wollen nicht, daß das ungarische
Reich ohne männlichen Erben bleibe, deshalb
hat die Geistlichkeit mir die Erlaubnis erteilt,
mich mit dir zu vermählen: du sollst gekrönte Königin
von Ungarn sein!« »Vater,« antwortete die Jungfrau,
»laßt diese Worte! Ich würde lieber den Tod erleiden,
als meiner Seele Seligkeit verlieren.« »Töricht
hast du mir geantwortet,« rief der Vater voll Zorn,
»wenn du dich meinem Willen nicht fügen willst, so
werde ich dich zwingen!« Ohne Abschied ging er hinaus
und die Jungfrau kehrte auf den Tod betrübt in
ihre Kammer zurück.
Lichtmeß kam und Barone, Ritter und Geistliche
versammelten sich wieder am Hofe. Der König sagte
ihnen, daß er ihrem Willen, ein anderes Weib zu nehmen,
willfahren wolle, und alle waren sehr froh darüber.
Joie aber hatte durch eine Späherin erfahren,
daß die Großen des Landes kommen würden, sie vor
den König zu holen. Als sie dieses hörte, geriet sie in
große Furcht und wußte nicht, was sie tun sollte. Sie
trennte sich von ihren Gefährtinnen, ohne daß diese es
merkten, und eilte von Saal zu Saal. Endlich gelangte
sie in einen Küchenraum, welcher mit der Hinterwand
an einen Fluß grenzte. Alle die Küchenknechte waren
ins Schloß gegangen, um dem Hoftag zuzuschauen,
so daß Joie ganz allein war. Auf dem Anrichtetisch
lag ein großes scharfes Küchenmesser, das ergriff sie
und bat die Gottesmutter, daß sie ihr Kraft verleihe.
Schon hörte sie, wie die Menge vor ihrer Kammer
lärmte, wie man kam, um sie vor den König zu holen,
da faßte sie das Messer fester und mit einem kräftigen
Schlag trennte sie ihre linke Hand vom Arme und
warf sie in den Fluß, dann schwanden ihr vor
Schmerz die Sinne. Als sie wieder zu sich kam, wikkelte
sie den Stumpf in ein Tuch und trat mit totenblassem
Antlitz in ihre Kammer, wo vier Grafen ihrer
warteten. »Eine gute Nachricht bringen wir Euch,
Jungfrau,« redeten sie diese an, »freuet Euch, Ihr sollt
Königin von Ungarn werden. Der König erwartet
Euch im Schloß und trägt Euch durch uns auf, unverzüglich
vor ihm zu erscheinen.« Schweigend und
bleich folgte die Jungfrau den vier Grafen vor den
König, eine Schar Mägde begleitete sie. Der König
nahm Joie bei der Hand und umarmte sie, dann bemerkte
er das Blut an ihrem Arm. »Tochter,« sprach
er, »was ist Euch geschehen?« »Herr,« erwiderte sie,
»wohl weiß ich, was Ihr von mir verlangen wollt, aber
Königin werde ich nicht. Seht, mir fehlt die linke
Hand, und nach unserem Gesetz darf ein König keine
Frau ehelichen, der eines ihrer Glieder fehlt.« Als der
König und die Barone den Stumpf sahen, da wurde
ihre Freude in Leid verwandelt. Der König merkte
wohl, daß sie solches aus freien Stücken getan hatte,
um sich seinem Willen zu entziehen, und er befahl
voll Zorn seinem Seneschall, daß er die Jungfrau
heute über drei Tage zum Feuertode führe. Die Barone
erschraken sehr, aber sie wagten nicht, ihren Kummer
zu zeigen. Da ging der Hoftag in Trauer und Klagen
auseinander, und der König zog sich auf ein fernes
Schloß zurück. Der Seneschall blieb zurück, um
Joie, die im Gefängnis schmachtete, zum Scheiterhaufen
zu bringen. Die Nachricht, daß Joie verbrannt
werden sollte, verbreitete sich im ganzen Lande, und
besonders die Armen, denen sie oft Brot und Kleider
gegeben hatte, waren von Zorn und Gram erfüllt. Der
Seneschall beschloß, die Jungfrau zu retten; er ließ
ein Fahrzeug mit Fleisch und Wein füllen, dann ließ
er drei Rosse satteln, Joie mußte das eine besteigen
und der Seneschall und der Kerkermeister ritten zu
ihren Seiten. So verließen sie im Dunkel der Nacht
die Stadt und ritten so lange, bis sie ans Ufer des
Meeres kamen. Da sprach der Seneschall zu der Jungfrau:
»Ihr wißt, Herrin, daß mir der König bei meinem
Leben befahl, Euch ins Feuer zu werfen. Aber
das Mitleid, das ich für Euch empfinde, läßt nicht zu,
daß ich Euch unter solchen Qualen sterben sehe. Ich
will Euch in einem segel- und mastlosen Boot aussetzen
und Euch dem Schutze Gottes anheimstellen, er
möge Euch geleiten und bewahren.« »Ich bin Euch
dankbar,« versetzte die Jungfrau, »daß Ihr meinen
Leib vor dem Feuer gerettet habt, denn lieber will ich
ertrinken, wenn es Gott gefällt, als verbrennen. Ferner
bitte ich den wahren Gott von Herzen, daß er meinem
Vater die Sünde, die er an mir tat, vergeben möge,
und daß er ihm mehr Freuden verleihen möge, als mir
beschieden sind.« Der Seneschall führte sie weinend
in das Schiff, dann befahl er sie Gott und der heiligen
Jungfrau und stieß den Nachen ins Meer.
Am neunten Tage landete die Jungfrau mit Gottes
Hilfe an der Küste Schottlands. Es war gerade Funkensonntag,
und die Einwohner des Landes trieben