Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff
eine Frau getan hätte. Der Eremit trug die Kinder in
sein Haus, und jeden Tag kam die Ziege dorthin. Und
so nährte er die Kinder lange Zeit.
Da geschah es eines Tages, daß der Einsiedler in
den Wald gegangen war und eines der Kinder mit sich
genommen hatte. Der Förster Malquerre kam durch
Zufall in das Haus des Einsiedlers, fand die sechs
schönen Kinder und sah die Kettlein, die sie um den
Hals trugen. Er sagte zu sich, wenn es mit dem Willen
seiner Herrin geschehe, so wolle er ihnen die Kettlein
wegnehmen. Der Verräter begab sich also zu
einer Herrin und sprach: »Herrin, ich habe sechs wunderschöne
Kinder in jenem Walde gefunden, und sie
trugen sechs Kettlein um den Hals. Herrin, wenn Ihr
es mir erlaubt, so werde ich gehen und sie ihnen nehmen.
« Als die Alte solches vernahm, wurde sie sehr
bekümmert, denn sie merkte wohl, daß dies ihre
Enkel wären, die Marke in den Wald gebracht hatte.
Sie sprach zu Malquerre: »Geht wieder in die Einsiedelei
und nehmt ihnen die Ketten ab, und wenn sie
euch Widerstand leisten, so tötet sie!« Sogleich machte
sich Malquerre auf den Weg. Matabrune rief
Marke, sie wolle mit ihm reden; und er kam. Da führte
sie ihn in ein Gemach und beschwor ihn, daß er ihr
der Wahrheit gemäß erzähle, was er mit den sieben
Kindern gemacht habe, die sie ihm anvertraut hätte,
und wenn er lügen würde, so wolle sie ihn in Stücke
zerreißen. Da sagte der wackere Mann: »So wißt,
Herrin, daß ich sie lebendig im Walde zurückließ.«
Die Alte ließ ihn ergreifen und ihm die Augen ausreißen.
Malquerre wanderte so lange, bis er in die Einsiedelei
kam. Es traf sich, daß der Eremit in den Wald
gegangen war und eines der Kinder mit ihm. Als Malquerre
die sechs Kinder und ihre Ketten erblickte und
bemerkte, daß niemand zugegen war, da wurde er sehr
froh. Er nahm die Kinder und jagte sie aus dem
Hause, und jedesmal, wenn er eines ergriff, riß er ihm
seine Kette ab. Und jene wurden zu weißen Schwänen
und flogen auf einen Teich ihres Vaters, des Königs
Oriant von Illefort. Als der Verräter dieses sah, erschrak
er gewaltig. Darauf kehrte Malaquerre zu seiner
Herrin zurück und brachte ihr die Kettlein. Matabrune
ließ einen Goldschmied kommen und bat ihn, er
möge aus den sechs Ketten eine Trinkschale verfertigen.
Jener antwortete: »Gerne, Herrin!« Darauf nahm
er eine der Ketten und schmiedete sie und verfertigte
eine prächtige Schale daraus. Die übrigen fünf Ketten
aber brachte der Goldschmied in Sicherheit, denn er
merkte wohl, daß sie überaus kostbar waren. Als der
Einsiedler und das Kind aus dem Walde zurückkamen
und die übrigen Kinder nicht mehr zu Hause vorfanden,
da wurden sie gar betrübt und zornig und gebärdeten
sich ganz verzweifelt.
Kurz darauf ereignete es sich, daß Matabrune zum
König Oriant, ihrem Sohne, ging und sprach: »Lieber
Sohn, du bist zu sehr beschimpft; laß deine Frau verbrennen,
denn es ist ein gar zu todeswürdiges Verbrechen,
daß sie mit einem Hunde schlief.« Da wurde der
König sehr traurig; er berief alle seine Barone, damit
sie ein Urteil über seine Frau sprechen sollten. Diese
lag nun schon seit fünfzehn Jahren im Kerker und war
in dieser Zeit niemals satt geworden. Sie flehte inniglich
zu Gott, daß er sie aus diesem Elend erlösen
möge, denn der Hunger und die Not quälten sie gar
sehr. Als die Barone versammelt waren, wurde das
Urteil dahingehend gefällt, daß die Königin am folgenden
Tage verbrannt werden sollte, wenn sie keinen
Kämpfer fände, der sie verteidigen würde.
Da ereignete es sich, daß unser Herr Jesus Christus,
der nicht wollte, daß die Frau umkäme, einen
seiner Engel zum Einsiedler in den Wald sandte, welcher
zu ihm folgendermaßen sprach: »Eremit, Gott
befiehlt dir, daß du morgen frühe deinen Knaben in
die Stadt Illefort sendest, damit er seine Mutter, welche
die Gattin des Königs Oriant ist, vor dem Feuertode
rettet. Er und die sechs anderen Kinder sind
Söhne des Königs Oriant und der Königin Beatrix.
Matabrune hat sie verleumdet, sie habe sieben Hunde
geboren, und darum soll sie morgen verbrannt werden,
wenn ihr keine Hilfe kommt. Aber Ihr sollt nicht
zweifeln, daß ihr Gott helfen wird.« Fernerhin befahl
er, daß der Knabe getauft werde und den Namen Helias
erhalte. Darauf verschwand der Engel. Als der
Tag angebrochen war, weckte der Einsiedler den Knaben
und sprach zu ihm: »Lieber Sohn, erhebe dich; du
mußt nach Illefort gehen, deine Mutter vor dem Feu-
ertode retten und von dem Verbrechen, dessen sie Matabrune
beschuldigt hat, reinigen. Ferner mußt du dich
taufen lassen und ein Christ werden, und du sollst den
Namen Helias tragen.« Der Eremit machte ihm einen
Mantel aus Laub und bekleidete ihn damit; dann
nahm er eine Stange in die Hand, und der Einsiedler
begleitete ihn bis zum Waldesrande. Hier sprach er zu
ihm: »Lieber Sohn, sei tapfer und verständig! Wisse,
daß du der Sohn des Königs Oriant bist und sei versichert,
daß Gott dir helfen wird.« Darauf wies ihm der
Einsiedler den Weg und zeigte ihm Illefort, wohin er
gehen müsse. Dann trennte sich der Einsiedler von
ihm, und der Knabe ging, um seine Mutter von der
Schuld, deren sie Matabrune bezichtigt hatte, zu reinigen.
Matabrune hatte durch Zauber erfahren, daß die
Königin durch eines ihrer Kinder gerettet werden sollte,
und sie schickte ihm unverzüglich zwei Diener entgegen,
die ihn töten sollten. Der Knabe begegnete