Der wandernde Aramäer. Karsten Decker
obwohl er nach dem Gesetz alles mit ihnen tun durfte, aber eben nur, wenn seine Frau keine Einwände hat. Nun war Kentaja wieder an diesem Ort, denn sie wusste, dass von hier kaum Schreie zu hören waren. Sie hatte ein paar saubere Leinentücher ausgebreitet, und war froh, dass sie selber bei anderen Geburten geholfen hatte. Tränen standen in ihren Augen und rollten über ihr von der Anstrengung rot angelaufenes Gesicht. Sie dachte an Prekären, den einzigen Jungen, den sie je geliebt hatte, wo mochte er sein? Ob er eine Frau, eine Familie hatte? Würde sie ihn je wiedersehen? Als sie diese Gedanken noch wälzte, war die kurze Pause zwischen den Wehen auch schon wieder vorbei. Nun kam eine so heftige Wehe, dass sie die Luft anhalten musste und ganz unwillkürlich zu pressen anfing. Und mit der ganzen Kraft Ihres Leibes drückte sie dieses neue, winzige, und ach so verletzliche Wesen hinein in diese feindliche, ach so grausame Welt: ein neues Leben, ein neues Wesen, eine neue Geschichte begann. Sie hob das kleine Mädchen vorsichtig auf, und obwohl der Schmerz schier unerträglich schien, strömte eine Woge des Glücks durch ihren massigen, bebenden Körper, als sie sie auf ihren entblößten Busen legte.
»Iris! So will ich dich nennen, du Lichtschein in dieser Finsternis. Egal, wie du einmal heißen wirst, für mich bist du die Sonne selbst, Hoffnung, die in die Finsternis scheint und sie erhellt. Durch dich soll neue Hoffnung in die Welt kommen. Und ich werde dafür sorgen, dass dich niemand missbraucht und versklavt, dass du zumindest eine Chance hast zu leben. Es bricht mir das Herz, dass ich es nicht selber sehen und erleben werde, aber wir werden verbunden sein, auch wenn ich diese Schnur durchtrenne.« Und während sie dies sprach, zog sie die Klinge in ihrer Rechten mit einem Ruck. Sie wunderte sich, dass sie den Schnitt nicht gespürt hatte, noch schien Iris etwas davon gemerkt zu haben. Aber Blut schoss aus der Schnur, so dass sie nun schnell das Messer zur Seite legte und einen Knoten knüpfte, zuerst an dem kurzen Ende, dass aus Iris’ Bauchdecke trat. Dann wandte sie sich nach unten zu ihrem Unterleib. Aber als sie die Schnur auch dort verknoten wollte, brach die Nachgeburt auch schon aus ihr heraus. Ein Knoten war nicht mehr notwendig, und die Geburt war vorbei. Kentaja war müde, unbeschreiblich müde, doch sie konnte nun nicht einschlafen. Auf keinen Fall einschlafen! Das Kind sog an ihren Brüsten, als wisse es, was zu tun war. Kentaja selber ging in Gedanken die Liste durch, die sie vorbereitet und immer wieder ergänzt hatte. Nichts durfte schiefgehen. Sobald Iris schlafen würde, wäre es Zeit, die Spuren zu beseitigen. Sie hatte in einer Ecke drei große Krüge mit Wasser bereitgestellt, um das Blut fort zu spülen, so dass es im gestampften Boden versickern konnte. Die Nachgeburt würde sie vergraben. Sie hatte im Garten bereits ein Loch dafür ausgehoben. Es war Pflanzzeit, und sie würde eines der Olivenbäumchen darüber pflanzen. Der Baum würde ihr kleiner Schrein sein, hatte sie sich überlegt. Das Kind, das nun vom Trinken und der Anstrengung der Geburt eingeschlafen war, wickelte sie in die Tücher. Sie selber wusch sich mit Kamillentee, den sie bereitet hatte. So hatten es die Frauen in Ägypten getan, um die Wunden zu heilen. Sie hielt nichts von Öl, das man hier benutzte. Sie hatte zu viele Frauen gekannt, die sich für Wochen in Schmerzen gewunden hatten, und viele waren gestorben. Obwohl sie müde und erschöpft war, verlor sie keine Zeit. Als alles zu ihrer Zufriedenheit sauber war, nahm die das Bündel mit Iris und machte sich auf den Weg. Mittlerweile war gnädig Dunkelheit auf die sich zu Bett begebende Stadt gefallen. Die lustig flackernden Ölfeuer brannten rußig an den Straßenecken und gaben genügend Licht, um den Weg durch die verwinkelten Gassen zu finden. Kentaja musste vorsichtig sein. Obwohl Sklaven nachts oft durch die Straßen strichen, war es unüblich, dass sie dabei irgendetwas trugen. Daher hatte sie Iris in einem langen Leinentuch wie in einer Hängematte umgehängt. Doch wenn man sie kontrollieren würde, wäre es sicher nicht leicht, das Neugeborene zu verbergen. Einige Hunde liefen ihr nach und schnupperten an ihren Beinen. Kein Zweifel, sie konnten riechen, dass sie gerade ein Kind geboren hatte, doch sie waren ihr nicht gefährlich. Es sind die Menschen, vor denen sie sich in Acht nehmen musste. Etwas später sah man im fahlen Licht des ersten Frühlingsvollmondes ihren Schatten vom Tor des Hauses Terachs fliehen. Doch es war nicht der einzige Schatten in dieser Nacht bei Terachs Haus.
Während Terach mit seinen Söhnen und Freunden unter den gespannten Zeltplanen auf den Kissenlagern saßen und beim jungen, spritzigen Wein der letzten Lese die Ereignisse des Tages wieder und wieder erzählten, mal mit ernsten Mienen, dann wieder verzerrt vom schallenden Lachen, erklomm jemand die Mauer von außen, und ein unsichtbarer Schatten beobachtete von einem dunklen Eck auf dem Dach aus die Familie mit den Freunden bei ihrer Feier. Die Knechte brachten immer neue Krüge mit Wein, Platten mit Obst, Käse und geräuchertem oder gepökeltem Fisch und Fleisch. Auch der neu erworbene Prentaj brachte Platten zur Feier. Er lächelte Abram zu, als er die Platte mit Obst vor Terach, seinem neuen Herrn, ablegte.
›Da ist ja auch dieser nichtsnutzige, dreckige Prentaj‹ ging es Ischkatar durch den Kopf. ›Nein, Terach soll keine Freude an seinem neuen Sklaven haben.‹ Durch die vielen Lampen war die Sicht gut. Ischkatar, unsichtbar auf einem der Dächer im Schatten verschanzt, zog einen Pfeil aus dem Köcher und zielte. Als Kind hatte er Bogenschießen gelernt, und beim letzten Feldzug, als er eingezogen war, hatte man seine Begabung entdeckt und ihm die ganze Kunst der Scharfschützen beigebracht. Dennoch zitterte seine Hand etwas vor Aufregung, und sofort ließ er die Spannung etwas nach, wie er es gelernt hatte. »Wenn du Zeit hast, nimm sie dir«, hatte sein Ausbilder immer wieder betont: »Lieber ein später Schuss ins Ziel, als ein früher Schuss ins Leere.« Er ließ den Atem aus den Lungen, um dann beim erneuten Anspannen die Luft langsam wieder einzuziehen. Als seine Lungen die volle Kapazität erlangt hatten, war der Bogen bis zum äußersten gespannt, und seine Hände so ruhig, dass er genau zielen konnte. Der Pfeil surrte fast lautlos durch die klare Luft auf sein Ziel, auf Prentaj, zu. Doch gerade in diesem Moment erhob sich Haran, der sich vom Wein erleichtern wollte, und geriet so in die Schusslinie. Der Pfeil drang in seinen Nacken ein und trat an der Kehle wieder hervor. Das Blut spritzte, Krüge zerschmetterten, die Platten wurden umgestoßen, und alle waren sofort nüchtern und sprangen auf. Nahor und einige der Knechte jagten in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen sein musste. Und nun sahen sie den Schatten Ischkatars, der sich über die Mauer schwang. Zur gleichen Zeit war Terach mit einem kleinen Trupp zum Tor geeilt und hatte es entriegelt. Abram war mitgelaufen, und als das Tor geöffnet war, sah man auf der Schwelle etwas Fremdes liegen, ein kleines Bündel aus Tüchern, und vom Lärm geweckt, schrie Iris aus den Tüchern. Terach hob es auf, und reichte es Abram: »Halt das!« rief er, »und bleib hier!«
Bereits nach wenigen Minuten war die Jagd vorbei. Ischkatar, oder was von ihm geblieben war, wurde hinterher gezogen. Terach stand über seinem Leichnam. Nachbarn waren erwacht und kamen aus ihren Häusern.
»Du dummer Tor! Du dummer Tor! Nun bist du tot! Mein Sohn ist tot! Und wem ist damit geholfen? Deine Familie wird mir als Sklaven gegeben, dein Besitz wird der meine sein. Doch wem ist damit geholfen? Mein Sohn ist tot. Der Vater meines Enkels ermordet. Wer bist Du, dass du über Tod und Leben entscheiden wolltest. Dein Stolz war dein Verhängnis. Habe ich dir nicht 10 Silberlinge gegeben? Du wolltest nicht gottlos genannt werden, und hast dich selber gottlos gemacht.«
Abram war zu ihm getreten, sein Gesicht von Tränen, Blut und Staub verschmiert. Im Hof standen die Frauen um Harans leblosen Körper, heulten und jaulten in einem polyphonen Chor, die Hände immer wieder zum Himmel werfend. Terach achtete kaum auf Abram und machte seinen Weg Richtung der Frauen, als Abram ihn am Gewand fasste und zurückzog. Erst jetzt wurde Terach gewahr, dass Abram noch immer das Bündel in den Armen hielt. Was war das eigentlich? Iris schaute ihn mit großen Augen an. Abram hatte sie längst beruhigt, und Terach nahm sie auf den Arm. Ihre kleinen Äuglein blickten ihn erwartungsvoll an.
Mit lauter Stimme rief Terach: »Mein Sohn ist mir genommen, aber Gott hat mir eine Tochter geschenkt! Ihr Name sei Sarai, das heißt: Streitsüchtig. Denn diese Welt ist streitsüchtig. Und im Streit ist sie mir eine Tochter geworden. Ich adoptiere dieses Findelkind vor aller Augen und Gott sei mein Zeuge. Sie soll mir eine Tochter sein, und Nahor und Abram haben eine Schwester. Sie soll mir ein Trost sein in meinem Schmerz und meiner Trauer, sie soll mich besänftigen, wenn die Welt streitsüchtig ist. Gott tue mir dies und das, wenn ich nicht dem Streit wo immer möglich ausweiche, denn wir Menschen haben immer nur eine beschränkte Sicht der Dinge, und verkennen unsere Einsicht als Wahrheit, und ist doch nicht die ganze Wahrheit. Dieser Tor, der hier tot vor uns liegt, hat mich verflucht im Markt, und hat nur seine Wahrheit gesehen, die ihn geblendet hat. Doch er hat zugleich