Der wandernde Aramäer. Karsten Decker
Maduck und so. Weißt du, wie jede dieser Geschichten endet? Seid fruchtbar und mehret Euch und füllet die Erde. Nun, die Menschen haben eher die Tendenz beieinander zu bleiben. Städte werden immer größer. Und mit der äußeren Ordnung der Stadt kommt die innere Unordnung. Wenn alles von außen für uns geordnet wird, dann verlieren wir die Fähigkeit, ja das Verlangen, selber zu entscheiden. Aber wir sind verantwortlich. Jeder für sich. Jeder von uns muss all seine Handlungen verantworten, vor den Menschen, aber auch vor Gott. Und glaube mir, ich versuche es, aber ich merke, dass ich trotz aller guten Vorsätze immer wieder fehle, nicht dem Ziel genüge, dass ich mir selber setze, und schon gar nicht der Bestimmung, die Gott für uns hat, und die wir im Herzen spüren. Und hier in Ur, sicher wir haben die neuen Gesetze, wir haben unsere Gerichte, aber wir handeln nicht nach dem, was unser Herz uns sagt, sondern allein, um mit dem Gesetz konform zu gehen. Für viele zählt nur, ob sie erwischt werden. Sieh Ischkatar! Er glaubte, tun zu dürfen, was er tat, wenn er nur ungesehen blieb. Das ist es, was ich meine. Ich will meine Kinder nicht so erziehen, meine Knechte nicht versklaven. Es kann nur ein Gesetz geben, das, das Gott uns ins Herz schreibt, und da werden wir nie ungesehen bleiben. Gott erschafft kein Wesen, um es dann sich selbst zu überlassen. Und Gott hat einen Plan für mich und für mein Haus. Wenn ich hierbleibe, wird dieser Plan untergehen in der Unruhe der Stadt. Schon jetzt ist mein Haus groß, wie du sagst. Und es wird größer werden, ja Völker werden aus ihm hervorgehen, so wie nun Vertreter von Völkern in ihm sind. Siehst du Abram dort drüben, durch ihn wird Segen fließen zu all den Völkern, von denen er nun lernt, denn er wird sie voranbringen. Er wird ihr Wissen und ihre Weisheit vereinen und abgleichen. Und er wird Gott finden, wenn er sich von Gott finden lässt. Er wird wie ein Stern vor den Völkern leuchten, ein Licht sein auf ihrem Weg zu ihrer Bestimmung. Und wenn nicht? Na und, alles ist besser als Ur und die Erinnerung, die nun damit verbunden ist.«
»Ich werde dich vermissen, Dich, Milka, Nahor, Abram und Lot. Hast du schon an einen Preis für dein Haus gedacht?« fragte der Tuchhändler. Ein Lächeln huschte über die Gesichter der Freunde.
»Sind wir schon beim Feilschen?« fragte Terach. Dann setzte er hinzu: »Was sind schon 150 Talente Silber zwischen dir und mir? Doch lass uns darüber nach der Bestattung reden. Nun ist nicht die Zeit für Geschäfte und Transaktionen.«
Der Tuchhändler schluckte, 150 Talente, das war eine Menge Silber, 450000 babylonische Schekel, also 900000 Silbermünzen, dachte er bei sich. Nun, das Gehöft mit all den Feldern war sicher sogar mehr wert, aber Einhundertfünfzig muss man erst mal haben. Er selber brauchte auch nicht so viel Land, würde es selber verpachten oder weiterverkaufen. Wenn er ihn runter handeln könnte. Zusammen mit den Kornverkäufen der letzten Ernte und den Tüchern, die die Karawane gebracht hat, ja, das könnte reichen. Er rieb sich mit der Hand das Kinn, dann zwang er sich das Geschäft hintanzustellen. Dies war eine Trauerfeier. Und bald würden alle aufbrechen, um den Leichnam beizusetzen. Mittlerweile hatten die Mägde und Knechte die Grabbeigaben zusammengestellt und die Gaben für die Bestattungspriester gerichtet. Es war üblich, Korn, Brot, Wein und Bier für die Priester zu bringen. Eine gewaltige Prozession setzte sich in Gang. Die Klageweiber flankierten den Leichnam, der mitsamt geschmücktem Gestell vorangetragen wurde. Wo immer der Leichenzug vorbeikam, stockte der Alltag für eine Weile. Das Ziel war ein Acker dicht am Flussufer. Hier standen gewaltige Altäre für die Opfer- und Priestergaben. Der Leichnam wurde in der Erde vergraben, wie es in Ur üblich war. Als die Menge zum Haus Terachs zurückkehrte, standen schon überall kleine Tische mit Festessen. Die Klageweiber, die am Grab geblieben waren, bis alle ihren Respekt gezollt hatten, kamen als letzte. Doch keiner rührte etwas an, bevor sie da waren. Mit der letzten lauten Klage, begann die Musik aufzuspielen. Und nun wurde aus der Trauerfeier ein Fest. Alle aßen und tranken, erzählten Anekdoten aus dem Leben des Verstorbenen, oder aber besprachen andere Geschäfte, für die die Gelegenheit gut war. Da wurde nun bald über Äcker und Sklaven gehandelt, Tipps ausgetauscht, und immer wieder getrunken. Ja, das Leben ging wieder weiter, oder war es das schlechte Gewissen derer, die noch einmal davongekommen waren, die noch eine kleine Spanne vor sich hatten. Terach betrachtete das Treiben zusammen mit Abram. Mit einem Mal sagte Abram: »Ist es nicht merkwürdig, wie der Tod das Leben beflügelt?«
»Ja«, sprach Terach, »merk-würdig.«
In den folgenden Wochen normalisierte sich das Leben zusehends für die Familie. Nur Terach schien wie unter einer großen, düsteren, ja erdrückenden Wolke zu wandeln. Er redete wenig, und lachte nicht einmal. Sein Gesicht wollte nicht aufhellen. Dabei war er voll emsiger Betriebsamkeit. Allein, es schien, als bliebe unendlich viel unerledigt und ungetan. So hatte Terach das Wort gestreut, dass all seine unbeweglichen Güter zum Verkauf stünden, doch, wenn Bürger Sklaven mit Angeboten sandten, reagierte Terach nicht darauf, ließ sie unbeantwortet und die Zeit verstreichen. Mittlerweile war der Frühling dem Sommer gewichen. Die Temperaturen waren unerträglich unter dem wolkenlosen Himmel des unteren Zweistromlandes. Die Sommerfelder, die über ein ausgetüfteltes Kanal- und Grabensystem vom Euphrat bewässert wurden, trugen gute Frucht in diesem Jahr. Die Knechte waren mit der Ernte voll ausgelastet, und die Scheunen, die bereits die große Winterernte beherbergten, füllten sich bis unter die Stiege mit dem reichen Segen.
Harans Grab war nun mit einem kleinen Tempelchen versehen, zu dem Terach täglich neue Gaben bringen ließ. Und genauso regelmäßig verschwanden diese Gaben von dem kleinen Altar. Terach wusste, dass es viele in der Stadt gab, die trotz der guten Ernte nicht genügend zu essen hatten, um ihre Familien zu ernähren. Der reiche Segen eines Landes ist oft ungerecht verteilt. Bettler gab es zu hunderten in Ur, nicht, weil sie die Arbeit scheuten, sondern weil sie keine bekamen. Durch die vielen Sklaven, die es seit dem letzten Feldzug gab, hatten viele freie Bürger, die keinen Besitz hatten, auch noch die Arbeit verloren, die sie bisher ernährt hatte. Zur gleichen Zeit waren andere unermesslich reich geworden. Es ist der Segen der Götter, meinten sie, der denen zu kam, die untadelig vor ihnen wandeln. Und die Armut sei auf der anderen Seite die Strafe für jene, die in Gedanken und Werken die Götter erzürnen. Das Schicksal ist der Spiegel unseres Tuns, Lohn und Strafe der Götter, und mit diesem Tun-Ergehens-Zusammenhang rechtfertigten sie oft nur ihre eigene Habsucht. Terach dachte anders über diesen Segen.
»Wir dürfen die Gnade und den Segen, der uns zukommt, nicht mit Belohnung verwechseln, sondern müssen sie als Aufgabe erkennen« hatte er immer wieder in der Versammlung der Bürger gesagt. Und er hatte selber danach gelebt. Er hatte alle seine Arbeiter behalten, und die von ihm erworbenen Sklaven wurden als ebenbürtige Knechte und Mägde behandelt, erhielten ihre Portionen als Lohn, und konnten sich relativ frei bewegen. Und obgleich viele meinten, dass müsse zu wirtschaftlichem Ruin führen, war Terach über die letzten Jahre reicher als alle anderen geworden. Nicht selten hatte Terach mit seinen erwachsenen Söhnen und seinen engsten Freunden darüber philosophiert. Es ist schon beachtlich, wie kleingläubig gerade die sind, die doch am meisten haben. Wie ängstlich sie ihr Hab und Gut festhalten, und gleichzeitig sich daran festhalten. Segen und Reichtum kann befreien, es kann aber auch gefangen machen, und statt Glauben und Vertrauen nur Angst und Sorge vergrößern. Nein, egal wie viele Götter sie erfanden, so wenig Glauben hatten sie. Keiner von ihnen würde den eigenen Göttern wirklich vertrauen und Schritte ins Unbekannte wagen. Terach dagegen kam aus einer Tradition, die immer wieder versuchte, der Inflation der Götter zu wehren. Und obgleich sie nur wenig über diesen Gott des Himmels und der Erde wussten, so war in der Familie doch immer hochgehalten worden, dass es eben nur einen Gott geben kann, aber dem vertraute die Familie so gut sie konnte. Und nun war es an Terach, einen Schritt ins Unbekannte zu wagen, zu vertrauen, auch wenn alle anderen anders dachten.
Kapitel 3: Loslassen
Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht.
Joachim Ringelnatz
Nahor wusste, dass dieses Gespräch nicht leicht sein würde. Sein Vater mochte in vielen Bereichen anders denken als die Menschen seiner Zeit, aber wenn es um die Familie ging, dann war er eher altmodisch. Für ihn war es selbstverständlich, dass die Kinder sich dem Vater Untertan wussten, ihm folgten und gehorchten. So war es üblich in Ur, so verstand er die Schöpfungsordnung. Da war wenig Raum für freie Entfaltung. Nahor hatte lange mit dem Gespräch gewartet, nicht nur wegen der Einstellung seines Vaters,