Der wandernde Aramäer. Karsten Decker
gut ausgebildete Viehhirten, die sich um über 1000 Stück Vieh kümmerten, darunter Ziegen, Schafe und Rinder, aber auch Hühner, Enten und Gänse. Obgleich die Temperaturen das ganze Jahr hindurch unerträglich heiß sein konnten, war der Wind nun erfrischend, und der Tau, der nachts fiel, band den Staub entlang der Wege bis in den späten Vormittag hinein, so dass der frühe Morgen nicht nur wegen der Kühle die beste Zeit zum Reisen war. Die Lasttiere, zumeist Esel, waren entweder mit großen Körben, die rechts und links an den Tieren herunterhingen, oder mit tönernen Amphoren beladen. Darin waren Gerste und Weizen, Wein, Wasser, Bier, Obst, Gemüse, Salz, Gewürze und viele andere Dinge verstaut. Etwa jedes zwanzigste Tier war außerdem mit in offenen Körben verstauten Waffen beladen, so dass man im Falle eines Überfalls schnell Pfeil und Bogen, Speere und Schwerter zur Hand hatte, zusätzlich zu den Dolchen, die jeder Mann, und einige der Frauen, stets bei sich trugen. Auf den Wagen, von denen die meisten ebenfalls von Eseln, aber manche auch von starken Ochsen gezogen wurden, hatte man große Stoffbahnen verpackt, eine beliebte Handelsware aus Ur, dazu Teppiche, und die Stangen und Decken für die Zelte. Silber, Gold, Karneol, Lapislazuli und andere Edelsteine wurden auf Terachs Reisewagen, der von vier bewaffneten Knechten umgeben war, in kleinen Truhen transportiert. Es war der einzige Wagen, der von Pferden gezogen wurde. Nur wenige der Knechte verstanden sich auf Pferde; den meisten waren sie noch unheimlich, weil sie so groß und schnell waren. Terach hatte die Pferde erst vor der Reise eingehandelt, war aber sehr zufrieden mit seinem Kauf.
Die Reise ging täglich in zwei Etappen voran. Dabei war die Morgenetappe die angenehmere. Sie dauerte bis etwa 11 Uhr, wenn die Hitze eben selbst im Winter immer unerträglicher wurde. Nun hieß es, die Mittagspause einzulegen. Die Stoffdecken wurden über lange gerade Stangen verspannt, um Baldachine zu errichten, unter denen man es sich auf Teppichlagern und Kissen gemütlich machte. Da die Erwachsenen diese Zeit auch zum Schlafen nutzten, hörte man immer wieder Mägde, die den Kindern zu zischten, damit auch sie Ruhe gäben und wenn möglich einschliefen. Meist taten sie das auch, da es trotz der neuen Umgebung bald langweilig wurde. Gegen 4 Uhr am Nachmittag begann man dann alles wieder einzupacken und zur zweiten Etappe des Tages aufzubrechen. Insgesamt konnte man so etwa 12 bis 15 Meilen pro Tag zurücklegen, und in diesen Abständen befanden sich auch die Poststationen an der Königstrasse nach Nordwesten. Rund um diese Poststationen gab es Lagerplätze mit Erdwällen oder sogar Mauern zur eventuellen Verteidigung. Das allein war die geringe Gebühr wert, die man für die Übernachtung erhob. Die Wasserkessel wurden mit frischem Wasser aufgefüllt und die Tiere getränkt. Mitunter traf man in diesen Stationen nicht nur kleine Reisegruppen, sondern auch andere große Karawanen. Es war nicht leicht, in dem Gewimmel den Überblick zu behalten. Die Hirten passten auf, dass sich die Herden nicht mischten. Die Reisenden aber mischten sich gerne ein wenig. So waren die Abende rund um die Lagerfeuer erfüllt von Geschichten, Nachrichten, Gesang und manchmal kleinen Feiern und Tänzen mit Musik. Die Tiere blieben dabei auf den umliegenden Wiesen oder Auen, bewacht in drei Schichten von den Hirten.
Die Küchenutensilien allein benötigten 20 Esel und einen Wagen. Aus extra dafür zugeschlagenen flachen Steinen und einigen gebrannten Ziegeln wurden abends die provisorischen Backöfen für das Fladenbrot errichtet. Wieder erwiesen sich die Kenntnisse der Mägde und Knechte aus fernen Ländern als hilfreich. Traditionell wurde der Fladenbrotteich unter die vorgeheizten Steinplatten geklebt. Wenn sie gar waren, fielen sie ganz von allein ab. Früher hatten die Hausfrauen und Mägde stets aufpassen müssen, dass sie dabei nicht in die Asche fielen, doch von einem Knecht aus Vorderasien hatten sie nun eine neue Konstruktion kennen gelernt, bei der man auch unter der Feuerstelle eine flache Steinplatte platzierte. Das Feuer brannte für etwa eine halbe Doppelstunde, dem gängigen Zeitmaß, dann wurde die restliche Glut und Asche mit Gerstenstroh ausgefegt. Die in den Steinen gespeicherte Hitze war groß genug, um die Brote zu backen, und da die Asche entfernt war, brauchte man die fertigen Brote nur von der unteren Steinplatte abzulesen. Die Steinplatten wurden ohne Mörtel kunstvoll von zwei Ofenbauern aufgeschichtet und hatten neben den Ritzen zwischen den Steinen nur eine Öffnung, vor die man beim Backvorgang einen weiteren Stein stellte, damit die Hitze nicht zu schnell entkam. Während des Anheizens sahen diese Öfen wie kleine Vulkane aus, da aus den Ritzen der dichte Qualm quoll. Abends wurde außerdem in Kesseln über offenem Feuer Suppe oder Eintopf bereitet. Der Geruch von Lauch, Knoblauch, Rüben, Erbsen und Linsen, Fleisch und Fisch, und Gewürzen erfüllte die Luft Abend für Abend. Abram genoss es mit seinem neuen Freund Meschek von einem Feuer zum nächsten zu laufen und den Geschichten zuzuhören, die erzählt wurden. Die meisten Leute redeten babylonisch, die Diplomatensprache jener Zeit, andere sprachen aber auch in den unzähligen Dialekten der Chaldäer, Assyrer, Aramäer, Kanaaniter und Ägypter.
Auch die Städte, an denen sie vorüberzogen, wurden besucht. Die erste war Uruk, eine alte Königsstadt aus der untergegangenen Sumererzeit. Abram staunte, als er die gewaltige Stadtbefestigung sah. Die bestand aus einer fast 7 Meilen langen Doppelmauer mit über 800 Türmen und sollte angeblich fast 500 Jahre alt sein und vom sagenumwobenen König Gilgamesch selbst - natürlich waren damit seinen Sklaven gemeint - erbaut worden sein, außerdem gab es den gewaltigen Anu-Tempel, der zusammen mit anderen Tempeln in einer eigens durch eine zweite Mauer eingegrenzten Tempelstadt lag. Abram wollte alles wissen, und er fragte Terach Löcher in den Bauch. Schließlich fanden sie einen alten Schreiber, der ihnen das ganze Gilgamesch Epos in Kurzform erzählte. Der Sage nach hatte in Uruk, das nun Erech genannt wurde, die Muttergöttin Inanna-Ischtar mit dem Halbgott und König Dumuzi »Heilige Hochzeit« gefeiert. Die Göttin Ischtar, Abram war sich nicht sicher, ob es die gleiche war, die mit Dumuzi Hochzeit hatte, war es, die sich in den jungen Heldenhaften Gilgamesch verliebt haben sollte, aber abgewiesen wurde, worauf Anu, der Obergott, ihr für ihre Rache ein Himmelstier - wo doch das Wort Höllendrache viel passender gewesen wäre - gab, um Gilgamesch, und mit ihm die Stadt Uruk, zu zerstören.
»Zurückgewiesene Liebende sind gefährlich« sagte Terach. Gilgamesch, selber teils Gott, teils Mensch, zusammen mit seinem Halbgottfreund Enkidu, einst gesandt, um Gilgamesch zu töten, kämpften nun gemeinsam gegen dieses Himmelstier und besiegten es. Doch der Zorn der Götter war nicht besänftigt. Eine Krankheit raffte Enkidu dahin, worauf Gilgamesch die Stadt verließ, um das Geheimnis des Lebens zu finden. Dazu suchte er im Reich der Toten nach seinem Urahn, dem einzigen, der die gewaltige Sintflut überlebt haben sollte. Mit seiner Hilfe fand er das Lebenskraut, doch eine Schlange stahl es von ihm, so dass ihm nur die Unsterblichkeit in Form der gewaltigen Mauer blieb.
Nippur, ein wenig nordöstlich und seit Jahrhunderten eine Rivalin von Uruk, war die nächste große Stadt. Sie war einst die Heimat des Obergottes Ellil, der noch immer im großen Tempel verehrt wurde, obgleich Marduk, der Stadtgott Babels, ihn gemäß der offiziellen Religion längst als Obergott abgelöst hatte. Angeblich hatte Hammurabi dies verkündet, als er Babel zur Königsstadt erklärte, was Abrams Skepsis bezüglich der Vielgötterei nur noch vermehrte. Nippur hatte noch weitere beeindruckende Bauwerke, darunter ein berühmtes Inanna Heiligtum, außerdem Tempel für die Gestirnsgötter Schamasch, Sin, und Ischtar-Anunitu.
Am meisten Eindruck aber machte Babel. Gewaltige Tempeltürme ragten bis hinauf in 180 Ellen Höhe, und Ruinenhügel vor der Stadt zeugten von anderen, längst verfallen Bauten. Hammurabi hatte seine Residenz in Babel und hatte dann die Stadt zur Königsstadt ohne gleichen ausgebaut. Der höchste Turm hieß Etemenanki, was Verbindung zwischen Himmel und Erde hieß. Man konnte ihn schon von weitem sehen, doch behaupteten die Einwohner, einst habe es einen Turm gegeben, der 10-mal höher gewesen sei und der jetzige Turm sei nur eine Miniaturausgabe des Originals.
Einige Etappen weiter, traf die Karawane auf eine Station, in der am gleichen Tag schon vier Karawanen waren. An diesem Abend, als der dritte Monat bereits verstrichen war, fragte Abram seinen Vater, angeregt vom Kauderwelsch im Lager, wieso es eigentlich so viele Sprachen gäbe.
»Hast du nicht immer erzählt, dass Gott am Anfang nur ein Menschenpaar geschaffen hatte? Dann müssten doch auch alle die gleiche Sprache sprechen. Ich spreche doch auch dieselbe Sprache wie Du.«
»Wie klug du bist, Abram, aber Gott ist eben doch klüger als Du! Ich will dir eine Geschichte erzählen, lauf, hol die anderen Kinder auch her, wir werden uns hier ans Lagerfeuer setzen. Dann werde ich euch erzählen, was geschehen ist.«
Als eine kleine Gruppe Kinder und ein paar der Erwachsenen