Der wandernde Aramäer. Karsten Decker

Der wandernde Aramäer - Karsten Decker


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Schließlich rief er mit einem Lachen: »Ja, Haraan wird mein Ziel.« Er ließ sich von Semech die Route genau beschreiben. Nach seinen Worten konnte er die Stadt in etwa drei Wochen erreichen, und die Flussüberquerung über den Euphrat würden um diese Zeit kein Problem mehr darstellen. Die Furt war gut markiert und verbarg keine Gefahren. Terach war so aufgeregt, er wäre am liebsten noch an diesem Abend aufgebrochen. Immer wieder dachte er: ›Es gibt einen Gott! Es gibt einen Gott, der neue Wege für uns öffnet, Wege in eine neue Zukunft.‹

      In dieser Nacht hatte Terach einen merkwürdigen Traum. Terach sah eine neue Stadt, eine große Pforte tat sich auf, Haran, ja, sein toter Sohn Haran stand lächelnd im Tor mit weit ausgebreiteten Armen. Die Straßen in der Neustadt waren weit und mit Wassergräben gesäumt, Wassergräben, an deren Ufern fruchtbare Bäume wuchsen, die wie Hände zu ihm hinunterreichten und ihm Obst anboten, und den Schafen, als sie von dem Wasser tranken, wuchsen goldene Felle, und in Windeseile wurden sie geschoren und die Mägde spannen goldenes Garn aus dem sie ein Tuch webten und ihm einen goldenen Mantel nähten, nobel wie für einen König. Haran zog ihm den Mantel an. Die Kälber, mager von der langen Reise, wuchsen stark und fleischig und mehrten sich, wurden verkauft, und Gold und Silber wurde an ihrer statt dargeboten. Eine goldene Gelegenheit! Doch plötzlich tauchte ein Schiff auf, es segelte auf den kleinen Wassergräben die sich plötzlich weiteten wie der Euphrat und das Schiff wurde größer und größer mit dem Wasserlauf und der Ausguck rief vom Mast, wie man sonst ausruft, wenn Land in Sicht ist: »Handel, ich sehe Handel, Handel in Sicht!«. Man warf ihm das Tau zu. Sollte Terach an Bord gehen? Er war unschlüssig, doch dann glitt das Tau aus Terachs Händen als wäre es geölt. »Lass fahren dahin, es hat keinen Sinn« rief der Ausguck, und das Schiff mit Namen Ugarit segelte auf den Horizont zu, verschwand im Meer, das unmerklich die Gebirgsketten hinter Haraan ersetzt hatte. Bäume wurden in einem Augenblick gefällt und zu Balken gesägt, aus denen die Knechte ein Haus bauten, größer und schöner als das Haus in Ur. Doch dann standen Abram und Lot auf, Abram nahm Sarais Hand, und führte sie aus der Stadt hinaus. Lot folgte ihnen. Sie nahmen Herden und Güter mit sich, und auch Knechte und Mägde, doch für jedes Tier und jeden Menschen, den sie aus Terachs Haus führten, schwebten neue vom Himmel herab wie dicke Schneeflocken aus Wolken fallen, langsam aber beständig, und Terach stand auf dem Dach seines neuen Hauses, schaute ihnen nach und hielt nun eine Frau in seinem Arm, eine Frau von schöner Gestalt, deutlich jünger als er, doch er konnte ihr Gesicht nicht sehen, es war verborgen hinter einem aus feinsten Goldfäden gewebten Schleier.

      Schweißgebadet stand Terach von seinem Lager auf. Es war eine schwüle, unwirtliche Mondnacht. Seine Hände schmerzten, als hätte er tatsächlich ein davongleitendes Tau gehalten. Er versuchte sich an den Traum zu erinnern, und gleichzeitig ihn zu deuten. Goldene Gelegenheit oder Handel mit dem Unbekannten? Ja, Haraan, nun stand es fest, das war das Ziel, das Gott für ihn bereithielt.

      Als Abram und Lot zum Frühstück kamen, erzählte er ihnen von seinem Traum, und von der Entscheidung, die er getroffen hatte. Den Kindern schien die Entscheidung logisch, doch Lot wurde plötzlich still, Tränen rollten ihm über die roten Wangen. Es war seit Wochen das erste Mal, dass er wieder weinte, es war aber auch seit Wochen das erste Mal, dass der Name seines Vaters wieder genannt worden war. Abram wurde auch still, stand auf und ging auf Lot zu und umarmte ihn so liebevoll, wie nur ein Kind es tun kann, unbefangen, nicht wie es bei Erwachsenen oft ist, von den eigenen Gefühlen oder Problemen gefangen, so dass sie nur mit den Lippen, aber nicht mit dem Herzen trösten können.

      »Wollen wir den Reifen treiben?« fragte er ihn, denn er wusste, dass Lot dieses Spiel liebte. Der Reifen bestand aus einer gewundenen Weidenrute, groß genug, dass er Abram bis an den Bauchnabel reichte, und für Lot bis an die Schultern, mit Binsen umbunden. Ein Rad, das die Kinder mit einem Stöcklein vor sich hertrieben. Abram war ein wahrer Meister in dem Spiel, er konnte den Reifen steuern, springen lassen und sogar mit dem Stöckchen den sich drehenden Reifen aufheben, in die Höhe über seinen Kopf katapultieren, dann um Arme und Körper herunter sausen lassen, um kurz bevor er den Boden berührte, aus ihm herauszuspringen und ihn wieder mit dem Treiberstöckchen aufzurichten, so dass er mit dem verbleibenden Schwung weiter die Gassen entlang rollte. Lot bewunderte Abrams Reifenkunst, und war stets begierig eine kurze Zeit den Reifen selber probieren zu können. Er wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von der Backe und sprang auf. Terach schaute ihnen nach. Er beneidete die Kinder, wie frei sie sein konnten, so ehrlich in ihren Gefühlen, unbestochen von den Regeln der Erwachsenen, was sich gehört und was nicht.

      Den Warnungen und Orakeln Elidons zum Trotz verlief der Rest der Reise ohne weitere Überfälle. Die Überquerung des Euphrat war aufregend, aber doch gefahrlos. An der Furt war der Fluss fast 600 Doppelschritte breit, aber selbst an den tiefsten Stellen lediglich knietief. Es dauerte dennoch einen ganzen Tag, bis die gewaltige Karawane vollständig am anderen Ufer war. Terach hatte sie in mehrere Teile getrennt. Eine Vorhut von kräftigen, jungen Knechten lotete die Furt sorgfältig aus und stellte sicher, dass am anderen Ufer keine Räuber oder andere Gefahren lauerten. Es wäre schwierig, sich mit dem Fluss im Rücken, Tieren, Wagen, Frauen und Kindern im Wasser zu verteidigen. Erst als sie überzeugt waren, dass alles sicher war, gaben sie das Zeichen, dass man nun die Tiere hinübertreiben konnte. Die Herde brauchte den gesamten Vormittag, um überzusetzen. Immer wieder mussten die Tiere neu angetrieben werde, denn sie blieben im flachen Wasser ständig stehen, genossen eindeutig die Kühle des Wassers und tranken reichlich.

      Als alle Tiere sicher am anderen Ufer waren, kamen etwa die Hälfte der Hirten und Knechte zurück, um beim Übersetzen der Wagen zu helfen. Die anderen, gut bewaffnet, blieben zurück und bewachten die Tiere und hielten Augen und Ohren offen. Das Übersetzen der Wagen und Fracht war deutlich anstrengender, denn die Holzräder blieben wieder und wieder im Schlamm stecken. Die Ochsen stöhnten ihr gequältes Muh hundertfach über den unaufhaltsamen Wassern, rutschten mitunter und fielen auf die Knie. An jedem Wagen schoben vier bis sechs Knechte mit aller Kraft, und manchmal erschien es aussichtslos. Doch nach Stunden intensiver Treiberarbeit waren nun auch die Wagen auf der anderen Seite. Während die Frauen und Kinder zusammen mit der bewaffneten Nachhut den Euphrat durchschritten, bauten die Knechte bereits die ersten Zelte auf, die Ofensetzer holten die Ofensteine von den Wagen und taten das ihre, so dass am späten Nachmittag das Lager fertig war. Normalerweise wäre es nun die Zeit für die zweite Etappe gewesen, doch heute war der Tag anders verlaufen, es hatte keine Mittagsruhe gegeben, die sonst um der Hitze willen ja die Reise immer unterbrach. Alle waren ziemlich erschöpft und abgeschlagen, froh unter den Baldachinen liegen zu können, und etwas Ruhe zu haben. Nur das Nötigste wurde heute noch getan. Die Frauen starteten ihre Feuer unter den Kochstellen und in den Backöfen, die Knechte trieben die Herde zusammen, es wurde gemolken und gefüttert.

      »Lass uns eine Nachricht an Nahor schicken«, schlug Abram Lot vor.

      »Wie sollen wir das machen?« fragte Lot zurück.

      »Nun, wir brauchen etwas, was schwimmt, und da machen wir die Nachricht hinein, denn der Euphrat fließt doch auch an Ur vorbei. Komm, wir suchen Meschek, der soll uns helfen!«

      Meschek war bei den Ziegen und half melken. »In einer halben Stunde bin ich fertig, dann werden wir sehen« rief er Abram mit einem breiten Lächeln zu, dann hielt er die Zitze etwas angewinkelt und spritzte die beiden Jungen mit Ziegenmilch ins Gesicht, die daraufhin vor Freude quiekend schnell davonliefen.

      Der Versuch, eines der Tongefäße als Bötchen zu ergattern, schlug fehl. Für solche Spielereien, hieß es, seien die Töpfe zu schade. Es war Telna, die Magd aus Ägypten, die ihnen schließlich weiterhalf:

      »Nehmt ein Stück Holz, schnitzt es ein wenig zu, so dass es auf einer Seite hohl ist wie ein Boot, und dann legt eure Nachricht hinein. Wenn ihr geschickt seid, könnt ihr noch ein Segel anbringen, auf das ihr in großen Buchstaben UR schreibt, damit eure Nachricht auch ankommt. So, und nun lasst mich die Mädchen stillen. Macht, dass ihr fortkommt. Husch, husch!« Sie nahm zunächst Hagar, ihr eigenes Kind hoch, während Sarai warten musste.

      Abram, Lot und Meschek waren voll beschäftigt, Meschek schnitzte, während Lot zusammen mit Abram Lehm vom Ufer holten. Den Lehm strichen sie bis zur Hälfte in die Aushöhlung des Bootes und glätteten ihn mit ihren feuchten Händen. Das war Mescheks Idee um dem Boot im Wasser Stabilität zu geben.


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