Der wandernde Aramäer. Karsten Decker
und konnten nicht ewig verschleppt und verschoben werden. Nun war Harans Tod über fünf Monate her, es war Ende Elul, des letzten Monats des sakralen Jahres, der Sommer hatte seinen Höhepunkt überschritten, und bald würde das Wetter unbeständiger, aber auch milder werden. Die Winde waren schon stärker, und nicht selten bliesen sie den trockenen Staub der Wüste bis in den letzten Winkel der Stadt. Nahor legte sich die Worte wieder und wieder im Kopf zurecht, während er zum Baldachin schritt, unter dem Terach um diese Tageszeit zu liegen pflegte. Die gespannten lieblich blau und rot eingefärbten Leinentücher boten kühlenden Schatten und die offenen Seiten ließen zugleich den ein wenig kühlenden Windzug durchstreichen. Der Boden war mit feinen gewebten und geknüpften Teppichen bedeckt, darauf waren Lager von Kissen und kleine Schemel, und die immer bereiten Platten mit Obst. Die Mägde sorgten dafür, dass stets frisches Wasser und Tee bereitstanden.
Nahor deutete mit einer leichten Verbeugung seinem Vater seine Ehrerbietung an.
»Na, so höflich heute? Komm, setze dich zu mir! Wir wollen ein wenig plaudern«, erwiderte Terach mit der gewohnt freundlichen, tiefen Stimme. Dies war die Gelegenheit, auf die Nahor gewartet hatte. Außer besagten Mägden war niemand zugegen, und auch die huschten immer wieder beflissen hin und her, um ihre kleinen Aufgaben zu erfüllen. Abram war mit Lot, Meschek und einer der Mägde, die für die Kinder zuständig war, zum Flussufer oberhalb der Stadt gegangen, und würde für eine gute Weile nicht zurückkommen.
Nahor war überrascht, dass Terach auch reden wollte. Vielleicht war dies wirklich der richtige Zeitpunkt.
»Sprich du zuerst, Vater«, sagte er.
»Ja, danke« gab Terach zurück. Er nahm einen Schluck Tee und wandte sich an die Magd: »Zu kalt! Geh und mach mir bitte neuen Tee, Telna.« Diese machte sich sofort auf den Weg. Nun waren sie wirklich unter sich.
»Ich weiß, dass ich nicht einfach war in den letzten Wochen und Monaten. Es ist nicht leicht, eines deiner Kinder vor dir gehen zu sehen, und ich werde wohl nie ganz darüber hinwegkommen. Ja, ich weiß, dass ihr mir alle aus dem Weg gegangen seid und meine Launen ertragen habt. Ich wusste wohl selber nicht, was ich wollte. Doch jetzt fühle ich, dass die alte Kraft wieder in mir ist, und nach der langen Zeit des Grübelns und Nachdenkens, bin ich nun so weit, neue Schritte zu wagen. Schon damals, als Haran so brutal aus unserer Mitte gerissen wurde, habe ich darüber gesprochen. Ich habe etwas angekündigt und dann habe ich es doch nicht verwirklicht. Das wird nun anders. Mein Entschluss ist aber der Gleiche geblieben. Hier in Ur ist nicht mehr mein Platz. Ich will nach Nordwesten ziehen, nach Kanaan, das Land der Purpurhändler, diese neue Provinz, die wir durch die letzten Feldzüge gewonnen haben. Ein Dekret des Großkönigs fordert dazu auf, dass alle Städte des Alten Reiches Außenposten in den neuen Provinzen errichten sollen.«
»Dazu, Vater«, versuchte Nahor ihn zu unterbrechen, doch Terach winkte ihm zu warten.
»Nein, lass mich fortfahren. Ich weiß, dass du anders darüber denkst. Du musst nicht nur an dich denken, sondern hast auch Milka zu bedenken, die an ihrer Familie hängt. Sie ist gerne mit ihrer Schwester Jiska zusammen, und natürlich mit ihrem Vater, dem Tuchhändler. Er hat mir angeboten, 150 Talente Silber für mein Haus und die Felder zu geben, andere haben ähnliche Beträge geboten. Und ich habe alle Angebote verstreichen lassen. Nicht, um zu feilschen oder gar den Preis hoch zu treiben - Gott sei mein Zeuge! -, sondern um deinetwillen, und man weiß ja nie, ob man nicht eines Tages gezwungen ist, wieder zurückzukehren. So frage ich dich nun, willst du mich begleiten auf meinem Weg, und, - für Gott -, ich kann dich gut gebrauchen, oder willst du hierbleiben? Dann sollst du das Haus für mich führen. Ich würde das Haus behalten, einen Teil des Besitzes hierlassen, deutlich genug, um davon nicht nur zu leben, sondern auch zu wirtschaften und zu mehren. Du bist der Älteste und Haupterbe, du hast mir treu gedient als ein Sohn, so soll dir dein Teil gehören. Abram wird eines Tages zusammen mit Lot den Rest unter sich aufteilen, so Gott will. So, das war, was ich sagen wollte, nun ist es an dir. Was war es, das du sagen wolltest?«
Nahor schaute überrascht drein. Diese Rede hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen. Was war in den alten Herrn gefahren? Sein Inneres war ganz aufgebracht, sein Herz pochte bis in den Hals wie ein gewaltiger Schmiedehammer, der auf dem Amboss tanzt. Dies war mehr als er je gewagt hätte zu erbitten. Nicht nur wollte Terach ihm und seiner Familie erlauben, in Ur zu bleiben, nein, er würde abgesichert sein und auf Dauer weiter in seinem Geburtshaus wohnen können.
»Bist du sicher, dass du damit einverstanden bist, Vater?« fragte er, da er es selber noch nicht glauben konnte. Nahors Gedanken drehten sich im Kreis. Das Haus, einige der Knechte und Mägde, einige der Felder und eine eigene Herde! Hier in Ur, bei der Familie seiner Frau, das passte wunderbar. »Ich, … ich danke dir für dein Vertrauen«, sagte er schließlich stockend. Dabei war er seinem Vater ganz unwillkürlich um den Hals gefallen und Tränen schossen ihm in die Augen. »Ich werde euch vermissen« weinte er nun, »und wir müssen zusehen, dass wir voneinander erfahren. Gib Karawanen Nachricht! Vielleicht können wir ja sogar selber Karawanen schicken und Geschäfte machen. Egal, wo du hingehst, es gibt bestimmt Waren, die es nur an dem einen Ort gibt, und nicht an dem anderen. So macht es dein Freund Haran, der Tuchhändler, doch auch.«
»Wann werdet Ihr aufbrechen?« fragte er nun, da er sich wieder etwas beruhigt hatte. Durch den starken Gefühlsausbruch Nahors kamen die Bilder der Kindheit seiner Jungs in Terach auf, er sah, wie Haran und Nahor, die nur anderthalb Jahre auseinander gewesen waren, zusammengespielt hatten, und wie Nahor oft so überschwänglich gewesen war, egal, ob Freude oder Traurigkeit, oft hatte er Tränen im Gesicht gehabt. Wie oft hatte er sich an seinen Hals geschmissen, und wie schade, dass dies so selten geworden war. Es tut so gut, Gefühlen Raum zu geben, aber die Welt will Härte sehen. Hart wie die Kriegswaffen müssen Männer sein, was ein Schwachsinn!
Die kommenden Wochen waren durch mancherlei Planung und Vorbereitung geprägt. Terach saß oft mit Nahor, Milka und seinem Freund dem Tuchhändler zusammen. Der Besitz wurde aufgeteilt. Haran kaufte einen guten Teil der Felder und der Ernte dieses Jahres. Terach brauchte, wenn er in Kanaan etwas aufbauen wollte, Gold, Silber, Edelsteine, und natürlich einen Großteil seiner Herden und Saatgut. Die Grenzsteine wurden neu markiert. Und auch die Schar der Knechte und Mägde musste aufgeteilt werden. Dabei versuchte Terach nicht nur auf die Tüchtigkeit zu schauen, sondern er respektierte auch die Umstände der Menschen, um die es ging. Am Ende waren alle zufrieden, was es in Ur nicht oft gab.
Es war bereits der dritte Monat des Winterjahrs, Kislew, als sich die gewaltige Karawane Terachs auf den Weg machte. Es gab ein sakrales Sommerjahr, das mit der Tag-Nacht-Gleiche im Frühling begann. Es waren die heißen Sommermonate, in denen nur wenig körperliche Arbeit geleistet werden konnte, deshalb war es geprägt von Festen für die unterschiedlichen Götter, Fruchtbarkeitsriten, Opferwochen und einer Fastenzeit. Da durch die verkürzte Nacht der Machtbereich der Mondgöttin, die in Ur von alters her als Stadtgöttin verehrt wurde, zunächst gegen die wachsende Kraft des Sonnengottes zu schwinden schien, um dann nach der Mittsommerwende wieder anzuwachsen, gab es guten Grund, sie zunächst durch Opfer zu stärken und dann ob ihrer zurückgewonnenen Kraft erneut zu verehren. In der Götterwelt Urs gab es die ständigen Machtkämpfe zwischen Sonnen- und Mondgöttin, die sich im Jahreslauf genauso manifestierte wie in den monatlichen Mondphasen, und seit der Gründung des Großreichs des Hammurabi waren nun noch so viele andere assyrische und babylonische Götter hinzugekommen, dass es im Pantheon nur so wimmelte. Mit der Tagundnachtgleiche im Herbst begann das säkulare Winterjahr, das wegen des milderen Wetters und der Regenzeit mit all den landwirtschaftlichen Rhythmen gefüllt war von Saat und Ernte bis hin zur Schafschere, es war auch die Zeit des Bauens und der Karawanen. Da die Mondphasen im Durchschnitt 29 Tage und 12 Stunden dauern, gab es zwischen den beiden Jahren jeweils ein paar Schalttage, um insbesondere die Feste des sakralen Jahres nach Voll- und Neumond auszurichten und das Sonnenjahr mit dem Mondjahr abzugleichen. Seit jedoch die Babylonier das Reich regierten, gab es nun ein Jahr von 12 Mond-Monaten, und alle paar Jahre wurde dann per Dekret der Kalender wieder mit der Natur und ihren Jahreszeiten in Einklang gebracht. Die verschiedenen Kalender, die so nebeneinander im Reich existierten, sorgten für manche Verwirrung, und in den verschiedenen Reichsteilen hielt man mitunter allein aus Protest am alten Kalender fest.
Immer wieder musste Terach an das alte sumerische Sprichwort