Heil mich, wenn du kannst. Melanie Weber-Tilse

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      Nathan

       Das Opfer weist mehrere Wunden mit einer Tiefe von circa sieben Zentimeter um das Sternum auf. Zerrissene Wundränder deuten auf hohe Krafteinwirkung hin. Eine Verletzung von Atrium und Lobus superior pulmonis sinistri führten beim Opfer zu Herzversagen und Tod.

      

      »Warum kann er das nicht einfacher formulieren?«, murmelte Nathan und notierte die Ergebnisse des Autopsieberichtes in der Akte. Das Opfer, Julio Cardanos, war höchstwahrscheinlich aufgrund eines Bandenkrieges erstochen worden und lag nun in der Leichenhalle des NYPD. Und er hatte nicht nur den Kerl, sondern auch den ganzen Papierkram am Hals. Wobei er froh war, dass er noch im gesamten bestand und keinerlei Stichwunden aufwies.

      Er verzog angewidert das Gesicht, nachdem er einen Schluck des mittlerweile kalt gewordenen Kaffees getrunken hatte. Warm war das Gebräu schon kaum zu ertragen, kalt schmeckte es wie Brackwasser.

      »Was machst du denn schon hier?«

      Paul, sein Partner bei der Mordkommission, stand grinsend neben ihm und hielt ihm einen mitgebrachten Kaffeebecher entgegen.

      »Danke.« Nathan nahm von dem heißen Gebräu einen großen Schluck und spürte, wie die Lebensgeister allmählich in seinen Körper zurückkehrten. Gähnend streckte er sich und musste wieder einmal über Pauls Aufzug grinsen. In ihrer Position als Detective sah die Kleiderordnung Anzüge vor. Anzüge hatte Paul zur Genüge, das war nicht das Problem. Aber dessen Leibesfülle hatte vor ein paar Jahren noch nicht bestanden. Die zugeknöpfte Jacke spannte mittlerweile nicht nur, sondern ein Knopf hatte in der Mitte die Flucht angetreten, sodass die Jacke dort klaffte, und freie Sicht auf Pauls rotes Hemd zuließ.

      Rote Hemden waren neben dem runden Bauch das Markenzeichen von Paul Domestic.

      Nathan hingegen hatte wohl kein einzig farblich auffälliges Hemd im Schrank. Weiße und schwarze Hemden gehörten zu seiner Ausstattung, sowie weiße und schwarze T-Shirts für die Freizeit. Paul zog es da zum Leidwesen seiner Frau Ella zu Hawaii-Hemden und senffarbenen Shorts.

      »Ich war gar nicht erst weg, Paul. Hab die Nacht den verdammten Papierkram aufgearbeitet.« Nathan zeigte auf den hohen Berg von Akten auf seiner Ablage. »Weißt doch, dass das dem Chief ein Dorn im Auge ist und wir bis heute Zeit hatten.«

      »Nate, du hast was gut bei mir. Nächstes Wochenende Barbecue und Ella macht ihren legendären Texas Kartoffelsalat dazu.« Ächzend ließ sich Paul auf seinen Stuhl sinken. »Ist der Bericht vom Cardanos Fall eingetroffen?«

      »Ja, wie wir es schon vermutet haben. Er ist an den Stichverletzungen gestorben. Ich bring noch schnell die Akten ins Archiv, dann können wir los, uns noch einmal mit seiner Familie und der Gang unterhalten. Wobei ich stark bezweifle, dass wir irgendetwas aus denen herausbekommen.« Er reichte die gerade fertig gewordene Akte an seinen Partner weiter und packte sich den Stapel mit den abgeschlossenen Fällen.

      Er liebte die Arbeit in der Mordkommission … bis auf den Papierkram. Den hatte er schon in seiner Ausbildung und später als Streifenpolizist gehasst. Leider hatte er keine Sekretärin wie der Chief und auch sein Partner war da keine große Hilfe, sodass die Schreibarbeit regelmäßig an ihm hängen blieb.

      Seit neun Jahren war er dabei, seit sieben Jahren war Paul sein Partner. Auch wenn Nathan 20 Jahre jünger war, so hatten sich beide auf Anhieb verstanden und schnell war eine Freundschaft entstanden. Regelmäßig trafen sie sich bei Paul und Ella. Und Pauls Frau kochte ein besseres Essen nach dem anderen. Diese Frau war ein Goldstück und seit Nathans Ehe vor fünf Jahren in die Brüche gegangen war, glaubte Ella, ihn immer wieder mit Cousinen, Freundinnen und Nachbarinnen verkuppeln zu müssen.

      Sie fand, es sei eine Schande, dass er seither keine Frau mehr an seiner Seite hatte und jedes Mal zwinkerten Paul und er sich verschwörerisch zu, wenn das Tischgespräch wieder auf dieses Thema schwenkte. Das tat es jedes Mal. Und jedes Mal bekam Paul Schelte von seiner Frau, weil dieser einfach nicht Profi genug war, seine Belustigung zu verstecken.

      Wohlweislich wählte Nathan die Treppe in den Keller, wo sich das Archiv der New Yorker Polizeistation befand, denn wenn er zum Wochenende wieder eingeladen war, musste er jede Situation nutzen, um sich sportlich zu betätigen.

      Wie immer saß Bud, der wachhabende Polizist, mürrisch hinter dem vergitterten Empfang und hatte seine Nase tief in das vor ihm liegende Magazin vergraben.

      »Hi Bud. Wie geht’s?« Nate lächelte ihn freundlich an, was diesem nur ein abfälliges Schnauben entlockte.

      Wahrscheinlich las er gerade den neuesten Playboy, das würde seine derart schlechte Laune erklären. Normalerweise wurde man immerhin mit einem geknurrten »geht« begrüßt, außer einmal im Monat, wenn seine geliebte Zeitschrift erschien.

      Verstohlen versuchte er, einen Blick zu erhaschen, aber Bud legte sofort das dicke Besucherbuch darüber. Seit Jahren war er der Herrscher – wie sie ihn alle nannten – über das Archiv und er weigerte sich, einen PC zu benutzen. Langsam und fein säuberlich schrieb er Nathan in das Buch ein, drehte es ihm entgegen, sodass er seine Hand durch den kleinen Schlitz zum Unterschreiben stecken konnte, erst dann wurde er in die heiligen Hallen hineingelassen.

      Ein weiteres Indiz, dass Bud wirklich den Playboy unter dem Buch versteckte, war das fehlende Nachfragen nach seinem Ausweis. Egal wie lange man hier schon arbeitete, jedes verfluchte Mal durfte man hier unten seine Dienstmarke samt Ausweis zeigen. Daher lag die Vermutung nahe, dass er zu seinen nackten Weibern in der Zeitschrift ganz schnell zurückwollte.

      Nathan kam das nur entgegen. So war er schneller hier unten fertig. Er mochte die langen Gänge mit den bis zur Decke reichenden Regalen nicht. Er fühlte sich immer wieder total beengt und hatte das Gefühl, dass jeden Moment die Kisten, die man teilweise nur über eine Leiter erreichte, auf ihn hinabfallen würden, um ihn dann unter sich zu begraben.

      Zügig verstaute er die fertigen Akten und verabschiedete sich wieder … wobei er sich das hätte sparen können, denn er wurde komplett ignoriert und benutzte die Treppe bis zum dritten Stockwerk, in der sich seine Abteilung befand.

      Er überlegte gerade, ob er sich einen frischen Kaffee holen sollte, als Chief Goodman aus seinem Büro trat und ihm und Paul zuwinkte. »Mc Kenzie, Domestic, in mein Büro. Sofort!«

      Nathan warf einen fragenden Blick zu Paul, der sich aus dem Bürostuhl hochstemmte, doch dieser schüttelte kaum merklich den Kopf. Die Stimme des Chiefs hatte angespannt geklungen und sein Blick wirkte gehetzt. Dieser Gemütszustand war äußerst selten, normalerweise brachte Goodman so schnell nichts aus der Ruhe.

      Nate und Paul betraten das Büro, schlossen die Tür und setzten sich dann auf die zwei Stühle, die vor dem Schreibtisch standen.

      Goodman stand am Fenster, und schien schlagartig meilenweit entfernt zu sein.

      Paul zuckte mit den Schultern, als Nathan fragend eine Augenbraue hob.

      »Chief?« Paul kannte ihren Vorgesetzten einige Zeit länger und wenn dieser so ein Verhalten merkwürdig fand, dann bestand höchste Alarmbereitschaft.

      »Detectives«, der Chief drehte sich zu beiden um. »Wie weit sind Sie im Cardanos-Fall?«

      Das war das Stichwort für Nathan. »Laut Bericht ist er an den Stichverletzungen am Sternum verstorben. Da eindeutige Abwehrverletzungen vorhanden sind, hat er weder Selbstmord begangen, noch schien er damit einverstanden zu sein, dass sein Angreifer auf ihn einsticht. Wir wollten gleich los und Familie, Freunde und Gangmitglieder zu befragen …«

      »Gebt den Fall an Bentson und Hugh ab«, wurde er von seinem Chef unterbrochen.

      Verdutzt schaute Nate ihn an. »Alles klar, Chief. Aber, wenn ich fragen darf, warum?«

      »Dürfen Sie natürlich.« Goodman verschränkte die Finger, die zuvor nervös von ihm geknetet worden waren. »Es gibt neue Beweise im Fall Thompson.«

      Lorraine


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