Heil mich, wenn du kannst. Melanie Weber-Tilse

Heil mich, wenn du kannst - Melanie Weber-Tilse


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ihren Wagen und stieg aus. Sie betätigte den Klingelknopf, der an der Seite neben einer Gegensprechanlage im Mauerwerk eingelassen war und wartete. Ein leises Surren ließ sie aufblicken, direkt in eine Kamera. Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen, bis schließlich eine Stimme aus dem Lautsprecher ertönte.

       »Ja bitte?«

      Unwillkürlich beugte sie sich ein Stück näher in Richtung des Mikrophons. »Guten Morgen, mein Name ist Lorraine Baker. Ich habe einen Termin mit Mr. Thompson und Ms.Weatherbee.«

       »Ahhh, Lorraine-Kindchen! Kommen Sie rein, ich öffne das Tor!«

      Verdutzt zog Lorraine die Augenbrauen hoch, stieg dann erneut in ihren Wagen und fuhr die Auffahrt zum Haupthaus hoch, nachdem sich das Flügeltor lautlos geöffnet hatte. Vor dem Haus standen mehrere Wagen, denen man auf unterschiedliche Weise ansah, dass sie viel Geld gekostet hatten. Vor einem nagelneuen Cadillac stand ein Mann Anfang 30 im piekfeinen Anzug, der in den vor Sauberkeit glänzenden Fensterscheiben sein Äußeres kritisch überprüfte.

      Lorraine parkte und stieg aus. Ihr 20 Jahre alter Ford wirkte absonderlich fehl am Platz zwischen den Luxuskarrossen, und der Blick, den ihr der junge Mann zuwarf, sprach Bände. Zu ihrer Erleichterung war es nicht Michael Thompson, und so nickte sie und lächelte freundlich. »Guten Morgen!«

      Eine hochgezogene Augenbraue und ein verächtliches Schnauben war die einzige Reaktion, die sie erhielt, ehe der Kerl kopfschüttelnd die Hintertür des Cadillacs aufriss und einstieg. »Nach Hause, und zwar zügig!«, hörte sie ihn noch jemanden, vermutlich seinen Fahrer, anblaffen.

      »Kindchen, kommen Sie rein!«, ertönte da eine Stimme hinter ihr und Lorraine fuhr herum. Vor ihr stand eine ältere Frau in einem geblümten Kleid und einer Schürze. Sie blickte dem davonbrausenden Wagen finster nach. »Schnösel!«, brummte sie deutlich hörbar, dann veränderte sich ihre Miene innerhalb vom Bruchteil einer Sekunde in ein strahlendes Lächeln und sie wandte sich ihr zu.

      »Mr. Thompson und Susan erwarten Sie bereits, ich freue mich, Sie auf Thompsons Retreat zu begrüßen! Ich bin die Haushälterin, Mrs. Mitchell, aber Sie können Emma zu mir sagen.« Das rundliche Energiebündel nahm sie am Arm und zog sie hinter sich her. »Das da eben war übrigens Patrick St. Claire, ein neuer Partner der Thompsons Holding. Ich sage Ihnen, Kindchen, der Typ glaubt von sich selbst, das er Gottes beste Schöpfung seit Anbeginn der Erde ist. Dabei ist er nur ...«

      »... jemand, für den sich Ms. Baker sicherlich kaum interessieren wird, da ihr Aufgabengebiet sein sollte, sich mit meiner Tochter zu beschäftigen, sehe ich das richtig, Emma?«, wurde die Haushälterin von einer markanten Stimme unterbrochen. Ein großer, dunkelhaariger Mann hatte die Eingangshalle betreten und seine bloße Präsenz gab Lorraine das Gefühl zu schrumpfen.

      Mrs. Mitchell jedoch ließ sich in keiner Weise davon beeindrucken, sie huschte an ihr vorbei und baute sich vor Mr. Thompson auf. »Mr. St. Claire ist, was er ist. Und das ist in meinen Augen nichts besonders Erstrebenswertes, Michael. Ich verstehe sowieso nicht, wieso Sie ihn in Ihr Team geholt haben!« Mit in die Hüfte gestemmten Armen starrte die ältere Dame zu dem locker 1½ Köpfe größeren Mann hinauf, der zu Lorraines Überraschung sanft lächelte.

      »Er hat Fähigkeiten, die mich mehr interessieren, als seine Umgangsformen, Emmchen«, erklärte er, als müsse er sich für seine geschäftliche Entscheidung rechtfertigen. Die Haushälterin schnaufte nur und schüttelte den Kopf. Dann schien ihr einzufallen, das die beiden nicht allein waren.

      »Michael, wo ist Susan? Ich habe hier Ms. Baker für Sie, die zweite Nanny, die ich zum Vorstellungsgespräch eingeladen habe«, erklärte sie dann, als habe es den vorangegangenen Disput gar nicht gegeben. Mr. Thompson sah schmunzelnd zu Lorraine rüber, hob beide Arme an und zuckte resignierend mit den Schultern, als ob er sagen wollte ›was soll man da noch erwidern?‹.

      Dann trat er auf sie zu. »Ms. Baker, ich freue mich, Sie kennenzulernen. Meine ...«, er räusperte sich, »Haushälterin haben Sie ja bereits kennengelernt. Emma, bringen Sie Ms. Baker bitte ins Wohnzimmer? Susan hat sich noch etwas hingelegt, sie bekommt bald unser zweites Kind und ist entsprechend schnell erschöpft. Ich werde eben nach ihr sehen, und dann können wir unser Gespräch gleich beginnen!«

      Zwei Minuten später saß Lorraine mit einer fruchtigen Limonade vor sich im großzügig geschnittenen Wohnzimmer und ließ den Blick neugierig umherschweifen. Der Raum war ganz anders eingerichtet, als sie es sich vorgestellt hatte. Wo sie teure Möbel erwartet hatte, war alles zweckmäßig eingerichtet. Man erkannte die Hand einer Frau, die bereits Erfahrung mit Kindern hatte und wusste, dass vor diesen nichts sicher war.

      »Kannst du auch fliegen? Wo ist denn dein Regenschirm?« Ein kleines Mädchen mit Lockenmähne stand auf einmal neben ihr und musterte sie ungeniert. Das konnte nur Cassandra sein, das Kind, welches sie gegebenenfalls betreuen sollte. Sie lächelte.

      »Nein, ich kann leider nicht fliegen, denn ich heiße ja Lorraine und nicht Mary Poppins! Mit dem Regenschirm fliegen kann nur Mary, weißt du?« Das Kind legte den Kopf schief und zog enttäuscht ein Schnütchen. »Aber ich hätte eine Idee, was wir trotzdem machen könnten wie Mary!«, zwinkerte Lorraine dem Mädchen zu und begann leise zu singen: »Eeeeeeeeey, supercalifragilisticexplialigetisch, dieses Wort klingt durch und durch furchtbar, weil’s synthetisch, wers laut genug aufsagt, scheint klug und fast prophetisch, supercalifragilisticexplialigetisch. Jam-didelidelidel, jam-didelei, jam-didelidelidel, jam-didelei, jam-didelidelidel, jam-didelei, jam-didelidelidel, jam-didelei ...«

      Cassandras Augen wurden riesengroß, dann klatschte sie jauchzend in die Hände und fiel mit ein. »Jam-didelidelidel, jam-didelei, jam-didelidelidel, jam-didelei, jam-didelidelidel, jam-didelei, jam-didelidelidel, jam-didelei ...« Immer wieder sangen die beiden das Lied zusammen, und Cassy tanzte im Kreis und klatschte dabei in die Hände.

      »So wie es aussieht, haben wir den wichtigsten Teil des Vorstellungsgespräches wohl verpasst!«, erklang da eine amüsierte Stimme von der Tür aus.

      »Mummy!«, Cassandra jauchzte auf und eilte auf die hochschwangere Frau zu, die im Rahmen stand. Lorraine erhob sich vom Teppichboden, auf dem sie gesessen hatte, während das Kind um sie herum getanzt war.

      »Ms. Baker, nehme ich an? Ich bin Susan Weatherbee, die Mutter dieses Wirbelwinds. Ich schätze, das Herz meiner Tochter haben Sie im Tanz erobert!«, schmunzelte die Schwangere und lächelte freundlich. Sie trat vollends ins Wohnzimmer ein und reichte ihr die Hand. »Michael ist auf dem Weg«, erklärte sie dann und ließ sich ächzend auf dem Sofa nieder. Just in dem Moment erschien Mr. Thompson auch schon, bat Lorraine, sich ebenfalls zu setzen, und setzte sich dann neben seine Freundin, nachdem er Cassy zu Emma hinaus komplementiert hatte.

      »Ich habe mir eben noch einmal Ihre Unterlagen angesehen, Ms. Baker«, ergriff er dann das Wort. Ihr Herz machte einen Satz, nervös knetete sie ihre Finger und sah ihn an. »Ich bin beeindruckt über Ihren Lebenslauf, und auch über das, was nicht darin steht.«

      Irritiert blinzelte Lorraine. »Was nicht darin steht?«, echote sie verwirrt. Jetzt war es sicher soweit, jetzt würde man ihr sagen, dass sie wegen ihres Bruders den Job nicht bekam. Ms.Weatherbee knuffte Michael leicht gegen die Schulter.

      »Verwirr sie nicht so, Mick«, sagte sie liebevoll und sah Rain dann ebenfalls an. »Was mein Freund auf etwas unkonventionelle Weise versucht mitzuteilen, ist die Tatsache, das er es beeindruckend findet, wie Sie Ihr Leben gemeistert haben, nachdem Ihre Eltern verstorben sind. Es muss nicht einfach gewesen sein, in jungen Jahren gleich beide Elternteile zu verlieren, sich um einen rebellischen jungen Erwachsenen zu kümmern und sich dabei dennoch fortzubilden! Das wolltest du doch sagen, nicht wahr, Michael?«

      »Oh oh, wenn sie mich bei meinem echten Namen nennt, habe ich es wohl wirklich etwas übertrieben«, lachte Mr. Thompson und Lorraine blickte unsicher zwischen beiden hin und her. »Wissen Sie, Lorraine ... ich darf doch Lorraine sagen, oder? Meine Eltern sind vor fast neun Jahren bei einem Anschlag ums Leben gekommen. Meine Schwester Annabell war zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt, also physisch gesehen in etwa das Alter, in dem sich ihr Bruder Ryan damals befunden hat.«

      Lorraine zuckte sichtbar zusammen.


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