Heil mich, wenn du kannst. Melanie Weber-Tilse

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das ich entgegen meiner guten Ausbildung bei Ryan gnadenlos versagt habe!«

      Mr. Thompson schüttelte vehement den Kopf. »Das sehe ich anders, Lorraine. Sie können sich nicht zeit Ihres Lebens für seine Taten verantwortlich machen, auch wenn das eine Eigenschaft ist, die ich selbst gerade erst beginne zu lernen. Meine Schwester Annabell ist vor fast fünf Jahren von einem noch immer Unbekannten ins Koma geprügelt worden. Wegen zehn Dollar. An diesem Abend hätte ich sie eigentlich von einer Party abholen sollen, habe es aber versäumt. Viele Jahre lang ...«, er unterbrach sich kurz, legte den Arm um seine schwangere Freundin und zog sie noch ein Stück näher an sich heran, »... habe ich die Frau, die ich mehr als alles andere liebe, mitverantwortlich gemacht für diese Ereignisse, und habe mir selbst mein Seelenheil verweigert.«

      Lorraine wusste nicht, was sie sagen sollte. Aber ihr Respekt vor diesen beiden Menschen, vor jedem in unterschiedlicher Weise, wuchs gerade enorm. »Und Ihre Schwester?«, fragte sie leise.

      Mr. Thompson lächelte. »Ist wieder aufgewacht und kämpft sich gerade zurück ins Leben. Ich musste erkennen, dass man mit Geld nicht alles kaufen kann, das aber im Gegenzug dazu Liebe unheimlich viel erreichen kann. Am vergangenen Samstag fand die erste Charity-Veranstaltung ihrer eigens gegründeten Stiftung Help for a better Life statt. Annabell hat nicht nur eine Menge Geld für die Schwerkranken, die weniger Glück und Geld im Leben haben, gesammelt, sondern auch den Mann an ihre Seite zurückbekommen, der sie zurück ins Leben holte. Sie kann noch nicht wieder richtig laufen und es wird weiterhin ein harter Kampf, aber ich bin davon überzeugt, dass sie glücklich ist.«

      ›Und Sie, sind Sie glücklich?‹, wollte Lorraine fragen, aber der Blick, den die beiden vor ihr sitzenden miteinander tauschten, war mehr Antwort, als jedes Wort es gewesen wäre.

      Mr. Thompson räusperte sich, dann wurde sein Blick wieder etwas ernster. »Zurück zum eigentlichen Thema. Das zu erwartende Gehalt kennen Sie bereits aus der Anzeige, aber es gäbe dennoch einige Dinge, die vorab zu klären wären. Wir erwarten von unserem Kindermädchen von der Tatsache abgesehen, das unsere Tochter sie akzeptieren muss, noch ein paar Dinge. Die Akzeptanz meiner Tochter scheinen Sie auch ohne Regenschirm gewonnen zu haben.« Er schmunzelte.

      »Wir möchten, das unser Kindermädchen jederzeit erreichbar ist und das würde bedeuten, dass Sie bereit sein müssten, in Thompsons Retreat zu leben.«

      Lorraine öffnete den Mund, zögerte und schloss ihn dann wieder.

      »Da ich mich im Voraus über potenzielle Angestellte sehr genau erkundige, weiß ich, dass Ihnen das Haus, in dem Sie leben, gehört. Erbe der Eltern, richtig?«

      Sie nickte, ihr fehlten noch immer die Worte.

      »Zur Zeit lebt meine Schwester noch hier, aber ich gehe davon aus, das sie und Jonathan - das ist der Mann, der zukünftig für das Wohl Annabells verantwortlich zeichnet - in absehbarer Zeit nicht mehr bei uns im Haus leben wollen. Emma, unsere Hausperle, ist mittlerweile betagt und äußerte von sich aus den Wunsch, dass wir für Cassandra und meinen Sohn, der bald zur Welt kommen wird, ein Kindermädchen einstellen.«

      Lorraine griff nach der Limonade, trank einen großen Schluck. Zweifel machten sich in ihr breit. Das Anwesen der Thompsons war zwar nur eine halbe Autostunde von ihrem Häuschen entfernt, aber die Tatsache, das es eben auch 30 Minuten mehr waren, ihren Bruder im Auge zu behalten, verursachte ihr einiges Unbehagen.

      »Sie werden Ihrem Bruder keinen Gefallen damit tun, wenn Sie stets seine Missetaten ausbaden, Lorraine«, ergriff Ms. Weatherbee das Wort. »Wenn Ryan weiß, dass Sie ihn, soweit Sie können, immer aus der Patsche holen, lernt er aus seinen Handlungen rein gar nichts. Geben Sie ihm einen Schlüssel für das Haus, aber machen Sie ihm klar, das er für sich selbst verantwortlich ist.«

      Lorraine entwich ein tiefes Seufzen. Ihr war klar, das beide Recht hatten. Dennoch war es nicht einfach, sich genau das einzugestehen.

      »Lassen Sie uns an dieser Stelle das Gespräch beenden. Von unserer Seite aus spricht nichts gegen eine Anstellung, sofern Sie mit unseren Bedingungen einverstanden sind. Schlafen Sie eine Nacht über unser Angebot, und rufen Sie mich morgen Vormittag in meinem Büro an. Ich werde meine Sekretärin, Mrs. Davis, darüber informieren, dass sie Sie dann gleich zu mir durchstellt. Einverstanden?«, Mr. Thompson sah sie freundlich lächelnd an.

      Rain atmete erleichtert auf, erhob sich und nickte. »In Ordnung. Ich ... es ist nicht einfach für mich, mir einzugestehen, dass Sie Recht haben. Ich werde mich morgen Vormittag bei Ihnen melden.« Sie reichte erst ihm, dann Ms. Weatherbee die Hand. »Vielen Dank. Wirklich«, flüsterte sie und lächelte. Beide nickten ihr verständnisvoll zu.

      Nachdem sich Lorraine auch von Cassandra und Emma verabschiedet hatte, stieg sie in ihren Wagen und fuhr nach Hause.

      Es gab viel nachzudenken.

      Nathan

      Der Satz »Es gibt neue Beweise im Fall Thompson«, hallte in seinem Kopf nach. Wenn er nicht schon gesessen hätte, wäre jetzt der Punkt gekommen, wo er es hätte tun müssen. Dabei gab es kaum etwas, was ihn aus der Bahn warf. Dafür hatte er in den letzten neun Jahren schon zu viel bei der Mordkommission gesehen.

      Aber der Name Thompson löste Erinnerungen aus, die nicht positiv waren. Sein Partner schien seinen Gemütszustand zu bemerken und stellte daher die entscheidende Frage: »Was für Beweise, Chief?«

      »Das Drogendezernat hat bei seiner letzten Razzia etwas gefunden, was seit dem Anschlag auf die Thompson als verschollen galt.«

      »Ausgerechnet diese arroganten Idioten«, knurrte Paul. Es war im Department ein offenes Geheimnis, dass die beiden Abteilungen sich nicht ausstehen konnten und natürlich bei jeder Gelegenheit versuchten, die andere vorzuführen.

      »Dann können Sie sich vorstellen, was für eine Genugtuung es Brixton war, als er mich in sein Büro gebeten hat.« Besagter war der Captain der Drogeneinheit und er und Goodman wie Feuer und Wasser. »Seine Einheit hat bei der letzten Durchsuchung einer zwielichtigen Bar nicht nur Drogen, illegal eingeschleuste Mädchen und Frauen, sondern auch einen Fund gemacht, der sich erst bei der weiteren Ermittlung als der Laptop von Mr. Thompson herausstellte.«

      Endlich erwachte auch Nathan aus seiner Starre. »Die Daten? …«

      Der Chief winkte sofort ab. »Daten waren keine mehr darauf zu finden, allerdings hat die Seriennummer des Geräts Aufschluss darüber gegeben, woher es ursprünglich stammt.«

      »Wurden die Typen verhaftet und befragt?« Nathan saß auf glühenden Kohlen. Er wollte selbst mit diesen Leuten sprechen, alles aus ihnen herausquetschen, was sie wussten.

      Diesmal grinste Goodman. »Auch wenn es für uns nicht dienlich ist, so scheint die Bande einen Tipp bekommen zu haben. Denn außer den Frauen und einigen besoffenen Gästen, die noch beschäftigt waren, hat man keinen aufgreifen können.«

      Verdammter Mist. Nate ballte die Hände zu Fäusten. Natürlich verstand er die Erheiterung seines Vorgesetzten, denn so hatte sich Brixton nicht wie der totale Arsch aufspielen können, aber nun hatten sie von der Mordkommission außer dem Laptop nichts in der Hand.

      »Das bringt uns allerdings an den nächsten Punkt, der nicht wirklich erfreulich ist. Ich kann Ihnen beiden 48 Stunden geben, dann muss ich der Bürgermeisterin Bescheid geben und Sie wissen, was dann passiert.«

      Oh ja, das wussten sie. Damals hatte der Fall riesige Wellen geschlagen und als man ihn nicht hatte lösen können, waren Empörung und Hass über dem Dezernat zusammengeschlagen. Für den Chief und die ermittelnden Kollegen, worunter auch er sich befunden hatte, war es zu einem Spießrutenlaufen geworden. Nathans damaliger Partner, der Depressionen entwickelte, hatte sich sogar aufgrund dessen umgebracht. Dieses Ereignis hatte Nate stark geprägt. Seitdem hatte er jeden Fall, der ihm in die Hände gefallen war, gelöst. Sein verbissenes Verhalten, wenn er einem neuen Fall zugeteilt wurde, hatte ihn auch seine Ehe gekostet.

      Aber er würde auch diesen Fall lösen. Egal, ob ihm ganz New York im Nacken saß. All die Jahre hatte er auf diese eine Chance


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