Der Tanz der Heuschrecken. Ulrich Fritsch
Leon war sehr schlau.
Leon Petrollkowicz überlegte. Dieser Mensch kam mit Vergleichen an, mit denen er wenig anfangen konnte. Er wollte gerne auf jede Unschärferelation verzichten, wenn er an das Weibliche dachte. Aber warum alle diese Überlegungen? Warum musste er sich permanent mit diesem Thema auseinandersetzen?
Leon Petrollkowicz hatte ein Problem. Er liebte Frauen, aber er litt auch unter ihnen. Am schlimmsten erging es ihm in seiner Firma. Er hatte öfters Meinungsverschiedenheiten mit einer erst kürzlich eingestellten Geschäftsführerin, die ihm, dem Inhaber eines mittelständischen Unternehmens für Public Relations und Marketing mit dem Firmennamen „Public Petrollcowicz“, an manchen Tagen das Leben schwer erträglich machte. So auch heute wieder. Er war mit dieser Frau wieder einmal aneinander geraten und hatte deshalb schon etwas vor seiner üblichen Mittagspause fluchtartig das Büro verlassen. Bei dem Versuch, sich in den Straßen von Düsseldorf abzulenken, ließ er sich nicht nur von den Schaufenstern in den Einkaufsstraßen beleben, sondern auch von kleinen Begebenheiten und Zwischenfällen, von dem Treiben in den Straßencafés und vom Flair des bunten Völkchens auf den Bürgersteigen. Immer, wenn er beruflichen Ärger hatte, suchte er im städtischen Treiben Zerstreuung: Manchmal spielte irgendeine Straßenband, suchte die Heilsarmee nach Gutgläubigen, versuchte sich ein Pantomime in der Körpersprache oder warf ihm ein weibliches Wesen einen freundlichen Blick zu. Endlich die Kehrseite des manchmal so tristen Umgangs mit dem anderen Geschlecht. Auf der Königsallee, der Prachtstraße von Düsseldorf, konnte er den Duft, die Schönheit, die Grazie, die Erotik der Frauen genießen, vielleicht nur deshalb, weil er keinen unmittelbaren Kontakt mit ihnen hatte. Je unverbindlicher der Umgang mit ihnen, umso leichter trieb es seine Gedanken in luftige Höhen, wo er endlich nachempfinden konnte, warum Geschichtsschreiber, Poeten, Minnesänger oder Marktschreier dem weiblichen Geschlecht auf jeweils ihre Weise huldigten. Leon Petrollkowicz war kein Historiker und kein Homme de lettres, aber er las gelegentlich die neuen und alten Klassiker und verharrte immer dann, wenn es um das besondere Rollenbild der Frau ging. Sie war seit einer Ewigkeit Göttin und Preis für alles. Schon im ersten Gesang der Ilias erscheint das Weib als Belohnung für den Sieger im Spiel oder im Krieg. Nur der Mutigste und Geschickteste erhielt als höchsten Lohn die Schönste. Heute ist man in den Preisen wesentlich prosaischer. Geld, viel Geld für ein gewonnenes sportliches Event oder für ein paar richtige Antworten im Fernsehen.
Wie anders war es doch in den glanzvollsten Epochen der früheren europäischen Geschichte. Aber natürlich wurde nicht jede Frau auf den Schild des Ritters gehoben, sondern nur das bezaubernde Wesen, das in den Träumen der Männerwelt eine größere Realität besaß als in den stickigen Spinnstuben des Alltags. In Chateaubriands „Martyrs“ wird von einem Feldherrn erzählt, der sich dem Flimmermeer der Sterne hingibt und plötzlich von einem goldenen Etwas geblendet wird, einer Priesterin, die ihn mit langem blonden Haar umwallt – Veleda, die edle Druidin. „Weißt du“, fragt sie den edlen Ritter, „dass ich eine Fee bin?“ „Eine richtige Fee?“, fragt dieser. Sieh an, sagte Leon Petrollkowicz zu sich, obgleich eine Fee höchstens in Gedanken oder virtuell vor uns stehen kann, erscheint sie dem Helden als reales Wesen. Phantasien können so stark sein, dass sie uns wirklich erscheinen und plötzlich die manchmal so raue Wirklichkeit erträglicher machen.
Leon Petrollkowicz träumte und verwob diese Gedanken mit den Eindrücken des Augenblicks. Die Boulevards erschienen ihm wie ein Glacis vor monumentalen Einkaufsburgen, aus denen pappmascheegeformte Glamourgirls und Dressmen ihre Arme durch die Schaufenster streckten, um den Kunden in ein Paradies von käuflichen Großartigkeiten zu locken. Oft erlag er den Verführern, manchmal schenkte er ihnen kauflüsterne Blicke, jetzt aber zeigte er sich standhaft, weil ihn ein Knurren in der Magengrube nur in eine Richtung drängte. Er ging wie immer zu einer kleinen Imbissbude gegenüber einem Kaufhaus in der Schadowstraße. Schon von weitem sah er die lange Schlange der Hungrigen, die in aller Regel nicht nach einer Bratwurst anstanden, sondern nach einer großen Folienkartoffel mit Quark. Man bekam diese Köstlichkeit in einen facionierten Pappkarton eingepackt, um dann entweder an einem der kleinen Stehtische oder an einem anderen Ort mit einer Plastikgabel und einem Plastikmesser zur Tat zu schreiten. Leon Petrollkowicz reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Er nutzte immer diese zehn oder fünfzehn Minuten, um seine Studien vor Ort zu treiben, die er manchmal, wenn es um Alltagssituationen ging, in eine PR-Kampagne oder in ein Marketingkonzept einarbeiten konnte. Man musste, dies war seine Devise, dem Mann beziehungsweise der Frau auf der Straße aufs Maul schauen, um die Massen wirkungsvoll zu beeinflussen. Da standen Männer, die es gewöhnt waren, auf irgendetwas zu warten: auf die Frau ihres Lebens, auf das Grün an der Ampel, auf die Kündigung oder einfach, wie jetzt, nur auf eine Folienkartoffel vor einer Imbissbude. Die Mienen dieser Männer waren wie versteinert. Sie konnten auch in ihrer Mittagspause nicht entspannen, weil sich ein Korsett der Zwänge um ihre Seele presste: Der Zwang im Büro zu parieren, an der Werkbank den Hobel richtig anzusetzen, nach der Arbeit die Wäsche in den Trockner zu schmeißen und am Freitag immer wieder den Lottoschein abgeben zu müssen.
Anders die Frauen in der Schlange der Hungrigen: Sie warteten nur darauf, sich dem anderen mitzuteilen. Ihre Äuglein gingen hin und her, und wenn Frau Pullemuck zur Frau Salehupf nur ein kleines „na denn“ sagte, reichte dies im Allgemeinen, um eine Lawine an Worten loszutreten. Es ging dann um das Wetter, um ein von der Mutter gescholtenes Kind, um die Abgase von Autos oder um die gentechnische Erzeugung von Kartoffeln. Leon Petrollkowicz fiel auch diesmal wieder auf, dass sich das Geplätscher der Weiberstimmen mit dem Gemurmel einer alten Türkin mischte, die tagein tagaus bettelnd neben dem Haupteingang eines Kaufhauses saß und ihre verkrüppelte Hand den Passanten entgegenstreckte. Diese Monotonie des Wartens hatte wenig Erbauliches. Straßenbahnen, Autos, Einkaufstüten, streunende Hunde, kauende Schnellimbisskunden.
Dann aber geschah es: Von weitem näherte sich ein bildhübsches Wesen. Es tauchte aus einem Pulk einkaufswütiger Menschen auf und näherte sich etwas schweren Fußes dem Kartoffelstand. Wie Leon Petrollkowicz mit Kennerblick sofort feststellte, störten die zu hoch geratenen Plateausohlen die ansonsten anmutige Vorwärtsbewegung. Im Übrigen war die Erscheinung makellos: Langes blondes Haar, ein fein geschnittenes Gesicht, ein hübscher, mittelgroßer Busen und eben plateauabsatzverlängerte schlanke Beine. „Sais tu que je suis une fée?“ Sagte das nicht die bezaubernde Druidin zu ihrem dahindösenden Feldherrn? Jetzt kam diese Fee auf die Schlange der Wartenden zu und reihte sich ordnungsgemäß am unteren Ende ein. Leon Petrollkowicz sah sich verstohlen permanent um, nicht nur, weil ihm das Betrachten dieses jungen Mädchens das Anstehen erträglicher machte, sondern weil er mit den Augen eines Malers, der er nebenberuflich auch noch war, das Modell sah, welches sich vor seinen Augen entblätterte und als maldramaturgischen Höhepunkt die Plateauschuhe von sich warf. Er hätte nicht wie Alessandro Botticelli seine Venus aus einer Muschel, sondern aus einer Kartoffel aufsteigen lassen, ein Akt irdischen Gebärens und erdgebundener Sinnlichkeit. Diese Maid wirkte unwiderstehlich allein durch ihre Gegenwart. Hat nicht Ortega y Gasset einmal sinngemäß gesagt: Männer wirken durch ihr Tun, schöne Frauen schon durch ihr Sein. Es sind jene unfassbaren, zerfließenden Gebilde, jene luftigen Traumgewebe, die durch ihre Anwesenheit den Augenblick erträglicher machen.
Die Fee wartete auf ihre Kartoffel und wirkte. Aber sie stand nicht einfach da, sondern sie schwebte – trotz der plateauschuhbeladenen Beine. War sie vor Sekunden noch die Letzte in der Reihe, so stand sie jetzt schon wesentlich weiter vorne, an unförmigen Körpern vorbeihuschend, sich zerfließend in ein Nichts auflösend, um dann plötzlich wieder neben ganz anderen Personen aufzutauchen. Leon Petrollkowicz war ganz erstaunt, als sie plötzlich neben ihm stand. Jetzt brauchte er nicht mehr verstohlen umzublicken. Eine leichte Drehung des Körpers reichte, um jedes Detail an ihr beobachten zu können: Ihre schulterlangen blonden Haare, ihr sanftmütiges Gesicht mit den großen blauen Augen, der kleinen feinen Nase und den aufgeworfenen, sinnlichen Lippen, die in ein tiefes Rot-Violett getaucht waren, die ganz leicht vorstehenden Bakkenknochen, ihr langer Hals, ihr wunderschön geformter Busen, der zwischendurch aus einem so zufällig über die Schultern gelegten Bolero hervorblitzte, die wespenschlanke Taille, und dann dieser selbst den aus dem Kartoffelofen austretenden Dunst übertreffende Duft, eine Mischung aus Parfüm und körpereigenen Essenzen. Als sinnlicher Mensch liebte Leon Petrollkowicz den Duft der Frauen. Da war einmal das äußere