Der Tanz der Heuschrecken. Ulrich Fritsch
nach Grasse zu bringen. Hier wurde aus den edlen Gewächsen Parfüm gemacht. Wenn Leon Petrollkowicz Parfüm roch, sog er die Sonne, die Natur, die braune Erde und die Rosenstöcke in sich auf und vermählte dieses Aroma mit dem körpereigenen Odeur einer Schönen. Er erhöhte dieses Erlebnis noch dadurch, dass er als Maler nicht nur die Hülle, sondern auch das Wesen selbst in seiner Unaussprechlichkeit zu erfassen versuchte, wenngleich nicht jedes Umfeld ihn wie von selbst zu den schönsten Höhenflügen animierte. Jetzt störten ihn der monotone Bettelgesang der Türkin, die Abgase der Straße und des rechten Nachbarn, das Gebell eines streunenden Hundes und die prallgefüllten Einkaufstüten der arbeitenden und weit mehr noch der nicht arbeitenden Bevölkerung. Als er sich trotz dieser Irritationen seiner schönen Fee intensiver zuwenden wollte, war sie schon vor ihm, und obgleich er eigentlich an der Reihe war, seinen Essenswunsch vorzutragen, nahm er großzügig in Kauf, dass sie blitzschnell ihre Bestellung der Verkäuferin entgegenrief: „Elf Kartoffeln mit Quark!“
„Elf Kartoffeln!“ Er wusste es. Der Kaufvorgang bei Frauen war immer etwas Eigenartiges. Noch nie war es ihm passiert, dass eine Frau etwas kaufte oder bestellte, das Geld hinlegte, die Ware entgegennahm und verschwand. Immer war eine Garnierung dabei. Man unterhielt sich ganz allgemein, man sprach über die Qualität der Produkte oder deren Preis, man bezahlte in bar, wobei aber ausgerechnet der letzte Cent fehlte, oder aber mit einer bereits abgelaufenen Scheckkarte, oder man bestellte, wie in diesem Fall, nicht eine, sondern elf Kartoffeln. Leon Petrollkowicz wartete und betrachte etwas gereizt die hintere Fassade der noch vorhin so bewunderten Person. Seine Blicke übersprangen in dieser Stimmung Taille, Hüfte und Beine und landeten ohne Umschweife auf den Plateauschuhen. Warum trug diese Frau diese unförmigen, fußentstellenden Treter? Waren vielleicht die Beine zu kurz geraten? Richtig! Die Beine waren viel zu kurz. Sie klebten förmlich an den kartoffelförmigen Ausbuchtungen in der Verlängerung der Wirbelsäule.
Elf Kartoffeln! Wahrscheinlich war sie irgendeine Tippse in einem Großraumbüro oder eine Sprechstundenhilfe bei einem Orthopäden, der sich auf plateaugeschädigte Füße spezialisiert hatte oder das Maskottchen einer Fußballmannschaft.
Leon Petrollkowicz wartete und wartete, und als er endlich an der Reihe war, rief die Verkäuferin „Schluss vorerst! Die letzte Kartoffel wurde soeben verkauft. In einer halben Stunde ist es wieder soweit! Jetzt müssen erst wieder neue Kartoffeln geholt und in den Ofen geschoben werden.“
So war das Leben eben. Leon Petrollkowicz registrierte nicht einmal mehr, wie die kartoffelbeladene Fee davonstapfte. Er ging einen Stand weiter und holte sich zwei mit Käse belegte Brötchen. Sie taten es auch. Warum sollte er sich ärgern? War das nicht genau der Alltag, den er seit eh und je kannte? Sind Männer nicht deshalb so langweilige Geschöpfe, weil sie meinen, es müsse immer alles glatt gehen, die kein Gespür für das Außergewöhnliche haben, die sich einbilden, es müsse sich alles nach ihren Vorstellungen abwickeln? Die immer nur funktionieren um des Funktionierens willen? Die Fuhrmänner seien, dumme Fuhrmänner, die sich und andere durch das Leben schleppen, ohne dabei auch einmal die Facetten am Rande auszukosten, wie dieses einmalige Erlebnis, von einer Fee überholt zu werden, um dann statt in eine Kartoffel in käsebelegte Brötchen zu beißen?
Er wollte im Kaufhaus gegenüber noch etwas einkaufen. Drinnen war eine dicke, stickige Luft. Die Leute drängten sich vor den Wühltischen, als gäbe es etwas umsonst. Die meisten standen nur da und wühlten. Es musste ein schönes Gefühl sein, Brieftaschen, Einkaufstaschen, Strohhüte, Bettwäsche, Socken, Unterwäsche einfach nur zu befühlen, ohne gleich kaufen zu müssen. Rentner und Frauen hatten an diesen Tischen die absolut dominante Rolle. Sie benutzten nicht nur ihre Hände, sondern auch Ellbogen und Körper. Keiner sollte ihnen etwas wegschnappen, schon gar nicht einer von den gutsituierten Herren, die sich ja auch an den normalen Tischen etwas aussuchen könnten. Leon Petrollkowicz bewegte sich von einem Menschenknäuel zum nächsten, die Käsebrötchen mit einer Hand haltend, mit der anderen sie beschützend und strebte so gut es ging zur Lebensmittelabteilung im Basement. Aber das war nicht so einfach. Frau Pullemuck, die er schon am Kartoffelstand gesehen hatte, entdeckte kurz vor dem Antritt zur Rolltreppe eine Frau Wullig. Die Begrüßung war lang und herzlich. Die beiden Frauen merkten gar nicht, dass sie den einzigen Zugang zum Basement versperrten. Das interessierte sie auch nicht, weil Frauen im Jetzt leben und hier und sofort ihre Spontaneität ausleben wollen und nicht irgendwann und irgendwo. Natürlich landete Leon Petrollkowicz irgendwann irgendwo in der Lebensmittelabteilung, aber eben nach Überwindung etlicher natürlicher Hindernisse. Er kaufte Champagner ein, Krabben, kleine Salate und ein Baguette – alles Dinge, die er seiner Lebensgefährtin am Abend mitbringen wollte.
An der Kasse musste er wieder anstehen. Vor ihm stand aber kein Mensch, sondern nur ein Einkaufswagen. Auch das war ihm geläufig. Er erfand für dieses Event den Ausdruck Phantomeinkaufen. In unregelmäßigen Abständen flogen irgendwelche Waren in den Einkaufswagen, den immer weiter zur Kasse zu schieben seine Aufgabe war. Auf diese Weise vermied dieser Mensch das lästige Anstehen und konnte just dann das Portemonnaie zücken, wenn der von einem gutwilligen Kunden geschobene Einkaufswagen die Kasse erreichte. Voraussetzung war natürlich, dass der Geldbeutel auch vorhanden war. Bei der Frau, die vor Leon Petrollkowicz an der Kasse stand, war das offenbar nicht der Fall. Sie suchte und suchte, hauptsächlich in einer Handtasche, dann aber auch in Mantel und Jacke. Das Portemonnaie war verschwunden. Leon Petrollkowicz wusste, dass bei einer Frau wieder etwas Außergewöhnliches passieren würde, aber eine verlorene Geldbörse war auch für ihn etwas Neues. Die Frau zuckte mit den Schultern, sah sich um, tuschelte mit der Kassiererin und beäugte immer wieder misstrauisch den Mann hinter sich. Eine Bimmel ertönte, eine Verkäuferin eilte herbei, verschwand wieder, um nach kurzer Zeit mit einem Mann aufzutauchen, der sich als Hausdetektiv vorstellte, Leon Petrollkowicz unsanft am Arm nahm und ihn in eine kleine Kammer führte. Die junge Dame und die Verkäuferin waren den beiden gefolgt. Trotz der Enge herrschte in dem nur spärlich beleuchteten Verlies reges Treiben. Ein Polizist, ein anderer, offenbar auch auf frischer Tat ertappter Kunde, der Detektiv, der sich an eine vorgestrige Schreibmaschine setzte, und die in den neuen Fall verwickelten Personen. Leon Petrollkowicz wurde nach seinen Personalien gefragt. Name, Geburtsort, Adresse ...
Was war passiert? Leon Petrollkowicz hatte doch nichts anderes getan als seinen und den Einkaufswagen einer Frau vor sich herzuschieben. Sicher, für den Bruchteil einer Sekunde war diese Frau an ihm vorbeigehuscht, hatte sich noch für die Mühewaltung des Schiebens bedankt, um dann vor ihm die Waren auf das Fließband zu legen und den Zahlvorgang durch umständliches Suchen einzuleiten. Und er stand jetzt in dem Verdacht, das Portemonnaie gestohlen zu haben? Die Obrigkeit würde jetzt ihre Pflicht tun. Leon musste an Franz Kafka denken, der in seinen Romanen wie in seinem Leben permanent gegen eine bornierte Bürokratie und Exekutive anrannte, die ihn peinigte, fertigmachte, knechtete, ihn hochkommen ließ, nur um ihm anschließend gleich wieder den Fuß in den Nacken zu stellen. Finanzamt, Polizei, Registergericht, Vermessungsbehörde, Passamt, Amtsgericht, Arbeitsgerichtsprozess, Krankenkasse etc. etc. Er hatte doch schon genug mit all diesen selbstzufriedenen Staatsdienern zu tun, warum stand er jetzt schon wieder vor so einem subalternen Amtsbüttel? Wegen einer Frau! Hatte Kafka in seinen Romanen immer noch Frauen, die ihn liebten und ihm halfen, so war er, Leon, in seinen Demütigungen nicht nur allein gelassen, sondern wurde sogar noch von einer Frau über die Brüstung der bürgerlichen Anständigkeit geschmissen: Zur wohlgefälligen Selbstwertsteigerung der kleinen und kleinsten Gesetzeshüter. Wie lässt Kafka doch noch den Türhüter in „Der Prozess“ über sich sagen: „Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“
Der Mann an der Schreibmaschine, offenbar der Hausdetektiv, produzierte so eigenartige Zuckungen, wenn er von einer Zeile zur anderen wechselte, als wolle er schon mit der Körpersprache seinen Unwillen über die Infamie der sich alle so schuldlos gebärdenden Kaufhausdiebe zum Ausdruck bringen. „Die kriege ich schon!“, wollte er wohl sagen. „Mir kann keiner etwas vormachen.“ Schließlich wäre er ja seit mehreren Jahren in diesem Geschäft und würde seine Pappenheimer schon kennen. Zwischen den Zuckungen und dem Hin- und Herschieben des Schreibmaschinenschlittens sah er immer wieder verächtlich an dem Delinquenten hoch, der nach seiner Ansicht nun wirklich